Katja hatte sich abgewöhnt, in den Spiegel zu schauen. Sie hasste, was sie sah. Nicht etwa, weil sie ihr Äußeres als unansehnlich empfand, sondern weil sie den Menschen, zu dem sie geworden war, nicht mehr ertrug.
Sie war einmal jemand gewesen – mit einer Karriere, die sie sich selbst aufgebaut, und einem Mann, den sie von Herzen geliebt hatte. Es stimmte, dass einige ihrer Entscheidungen falsch und egoistisch gewesen waren. Doch sie hatte jede einzelne aus voller Überzeugung getroffen, dazu gestanden und die Konsequenzen getragen.
Tja, dachte sie, während sie beim Zähneputzen den Blick in den Badezimmerspiegel tunlichst vermied, von deinem Rückgrat ist nichts mehr übrig.
Sie hatte heute nicht mehr den unbedingten Ehrgeiz, der sie damals getrieben hatte. Sie war weicher geworden und mitfühlender. Noch immer ertrug sie den Gedanken kaum, dass sie niemals Mutter werden würde. Doch sosehr sie sich auch wünschte, ihren Athletinnen dieses Schicksal zu ersparen: Sie schaffte es einfach nicht, sich gegen die Vergabe der unterstützenden Mittel zu stellen. Die Katja von heute mochte ja endlich die moralisch richtigen Ansichten haben, doch ihr fehlte der Mut, danach zu handeln.
Stattdessen hatte sie zugelassen, dass es nun Stefan war, der den Ton in ihrem Trainergespann angab. Er kam und ging, wie es ihm beliebte. Er heimste ihre Lorbeeren ein, und sollte sie es doch einmal wagen, eine Bemerkung hinsichtlich seines fehlenden Arbeitsethos zu machen, legte er nur den Finger auf die Lippen, grinste und gab ihr so zu verstehen, dass er nur schwieg, wenn sie ihn gewähren ließ. Noch bemerkten Außenstehende nicht, wie es zwischen ihr und ihrem zweiten Trainer brodelte.
Doch das vergiftete Verhältnis zwischen Stefan und ihr war nicht das Einzige, was ihr zu schaffen machte. Sie waren wieder in Kreischa – zum letzten Mal, ehe im nächsten Monat die Europameisterschaften in Athen anstanden. Und auch in diesen drei Wochen wurden die Dosen der Mädchen noch einmal erhöht, und das ließ sie kaum noch schlafen.
Jede noch so winzige Veränderung an ihren Sportlerinnen prägte sich in Katjas Gedächtnis ein. Marlene und Petra waren fast zwei Jahre jünger als Christiane und Babsi. Sie machten jetzt durch, was vor drei Jahren schon einmal passiert war: Sie vertrauten sich ihr und Stefan mit den Sorgen über das Ausbleiben ihrer Periode oder dem vermehrten Haarwuchs an. Besonders Petra litt unter den Veränderungen. Sie war ohnehin überdurchschnittlich groß, hatte eine kräftige Statur und eine tiefe Stimme. Die unterstützenden Mittel hatten bei ihr aber zusätzlich auch noch dazu geführt, dass ihr inzwischen ein dunkler Damenbart wuchs und sie sich außerhalb der Trainings- und Unterrichtszeiten kaum noch aus ihrem Zimmer traute.
Die anderen Mädchen machten ähnliche Veränderungen durch, hatten allerdings durch die Bank weg das Glück, dass diese nicht so offensichtlich waren.
Katja spuckte den Zahnpastaschaum ins Waschbecken und zog sich anschließend ihren Trainingsanzug an. Stefan hatte die Nacht in Andreas Zimmer verbracht. Mit der Physiotherapeutin des SC Motor Jena hatte er schon im Winterlager ein Techtelmechtel begonnen, und das führte er nun offenbar fort. Es sah ganz danach aus, als würde der Großteil der Arbeit auch diesmal wieder an ihr hängen bleiben. Sie musste die Mädchen rechtzeitig wecken, damit sie zu ihren Blut- und Urinabnahmen bei Albert in der Baracke erschienen, musste die Trainingseinheiten planen, vorbereiten und entsprechend aufbauen. Im Moment erschloss sich ihr nicht, wozu überhaupt ein zweiter Trainer notwendig war.
Katja war entsprechend gelaunt, als er schließlich mit einem breiten Grinsen beim Mittagessen erschien.
»Und, wie ist das Training heute Morgen gelaufen?«
Katja malträtierte das zähe Kotelett auf ihrem Teller mit dem Messer. Sie musste sich zusammenreißen, um ihn nicht im vollen Speisesaal anzuschnauzen.
»Komm doch einfach morgen pünktlich, dann siehst du es mit eigenen Augen«, zischte sie ihm leise zu.
»Oha«, sagte Stefan, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Schlechte Laune?« Dann beugte er sich näher an ihr Ohr und flüsterte: »Vielleicht solltest du dir mal wieder eine Nacht Zeit nehmen für Albert, dann bist du vielleicht nicht mehr so mies drauf.«
Katja ließ ihr Besteck klirrend auf den Teller fallen und sah ihn direkt an. »Was soll ich mit einem zweiten Trainer wie dir? Da kann ich den Job gleich allein machen.«
Stefan verzog die Mundwinkel zu einem gehässigen Grinsen. »Stimmt. Welchen Sinn hat ein zweiter Trainer?« Ohne ein weiteres Wort und ohne sein Essen anzurühren, stand er wieder auf und verließ den Speisesaal.
Katja sah sich erschrocken um, stellte aber fest, dass niemand die gehässige Szene zwischen ihnen bemerkt hatte. Ihr Herz raste. Sie hatte ihn provoziert, das wusste sie. Und sie konnte nur hoffen, dass er sich wieder beruhigte und einfach vergaß, was sie ihm gerade vorgeworfen hatte.
Als sie am Abend das Zimmer betrat, das sie mit Albert während der Trainingslagerzeit bewohnte, zerschlug sich ihre Hoffnung. Ein einziger Blick in sein Gesicht ließ sie erkennen, dass er mit Stefan geredet hatte.
»Guten Abend«, sagte sie trotzdem.
Albert antwortete nicht, und Katja dachte nicht daran, ihn auf sein Schweigen anzusprechen. Sie ging zum Tisch, auf dem ein kleiner Wasserkocher stand, füllte ihn am Waschbecken auf und kochte sich einen Tee. Sollte sie nicht ängstlich sein? Oder nervös? In den nächsten Minuten würde ihr Leben einmal mehr vollkommen auf den Kopf gestellt werden. Sollte ihr das nicht Sorgen bereiten?
»Du fragst gar nicht, ob ich auch einen möchte«, sagte Albert vorwurfsvoll.
»Und du grüßt nicht«, gab sie zurück, setzte sich mit ihrem Tee auf den Stuhl an den Tisch und sah ihn abwartend an. Da er nicht sprach, machte sie den Anfang. »Du hast mit Stefan gesprochen.«
»Ja.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Wir fahren nach Hause. Ich werde meine Sachen packen und gehen.«
»Das war’s also?«
»Aber nicht doch.«
Die Schärfe, die Albert während der Arbeit oft an den Tag legte, war in seine Stimme zurückgekehrt. »Ich werde Meldung machen.«
»Weswegen?«
»Weil du dich weigerst, deinen Athletinnen unterstützende Mittel zu verabreichen. Damit triffst du Entscheidungen, die weit über deine Befugnisse hinausgehen.«
»Blödsinn«, gab Katja ruhig zurück. »Meine Mädchen nehmen ein, was du ihnen verordnest. Nimm ihnen noch mal Blut ab, wenn du mir nicht vertraust.«
»Wie könnte ich dir noch vertrauen!«, rief er heftig. »Wann wolltest du mir deine Unfruchtbarkeit gestehen? Nie?«
»Ich hätte es dir schon irgendwann gesagt. Es mag dir vielleicht seltsam vorkommen, aber dieser Schock ist auch Wochen nach der Diagnose noch nicht verarbeitet. Ich hätte mit dir gesprochen, wenn ich so weit gewesen wäre.«
»Bis dahin wären wir vielleicht verheiratet gewesen. Was dann?«
Katja zuckte mit den Schultern. Seltsamerweise war sie weder traurig noch nervös. Sie sah Albert an und fühlte gar nichts. Die Verlobung mit ihm hatte einen Zweck erfüllt, nicht mehr. Dass er sie jetzt verlassen würde, berührte sie nicht im Geringsten. Dass er mit Stefans Lüge ihre Karriere beenden wollte, hingegen schon.
»Stefan lügt«, erklärte sie deswegen. »Ich hab mich über seinen fehlenden Arbeitseinsatz geärgert, und das geht ihm gegen den Strich. Deswegen hat er dir diese Lüge erzählt.«
»Du kennst ihn nicht, wie ich ihn kenne«, sagte Albert.
Katja lachte auf. »Ach, du glaubst, weil ihr bei einem Bier persönlich werdet, kennst du ihn? Er hat die letzten Vormittage im Bett irgendeiner Physiotherapeutin verbracht, statt sich beim Training um die ihm anvertrauten Mädchen zu kümmern. Ich hab ihn gedeckt, weil er mich mit dem Wissen um meine Diagnose in der Hand hatte. Aber damit ist nun Schluss. Du willst mich melden? Gut, mach das. Aber dann verabschiede dich am besten auch gleich von dem Traum, mit den Sprinterinnen in Athen Medaillen abzuräumen. Stefans Trainingsmethoden sind veraltet. Er ist unzuverlässig, wenn man mal von der akkuraten Vergabe der Pillen absieht.«
Katjas Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie bemerkte an der Art, wie Albert seine Stirn runzelte, dass er ins Grübeln geriet. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich lasse dir diesen letzten Erfolg. Unter der Bedingung, dass du meine ärztlichen Entscheidungen nicht torpedierst, werde ich keine Meldung machen. Du kannst Athen für einen weiteren Erfolg nutzen, so, wie ich die nächsten Monate nutzen werde, um mich nach Nachfolgern für dich und Stefan umzusehen. Sind die gefunden, wirst du dich mit einer Stelle als Sportlehrerin begnügen müssen.«
Katja schluckte schwer. »Das kannst du mir nicht antun. Ich hab nichts falsch gemacht.«
Albert griff nach ihrer Karoschachtel und zündete sich ganz selbstverständlich eine ihrer Zigaretten an. »Du hast mich hintergangen und meine Zeit verschwendet. Und ich glaube, dass du unsere sportlichen Ziele nicht mehr mitträgst. Das ist mehr als ausreichend für eine Versetzung. Nimm es nicht so schwer. Es hätte auch ganz anders laufen können. Überleg nur: Es gibt Menschen, die liefern ihre Partner sogar der Polizei aus und riskieren, dass sie ins Gefängnis geschickt werden. Und all das nur, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Du wirst als Sportlehrerin und angesehene ehemalige Leistungssportlerin ein schönes Auskommen haben und einiges Ansehen. Es könnte dich weit schlimmer treffen. Ich werde ab sofort in einem anderen Zimmer schlafen. Und du solltest besser dafür sorgen, dass Stefans Unzuverlässigkeit nicht auffliegt und auf dich zurückfällt. Kommst du mit Medaillen aus Athen zurück, wird nie jemand erfahren, dass du die unterstützenden Mittel eigenmächtig absetzen wolltest. Ohne Medaillen allerdings …«
Er ließ offen, was dann passieren würde, aber Katja war in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. War sie mit ihrem Team in Athen nicht erfolgreich, würde sie in Ungnade fallen. Er würde sie melden, und sie würde Ähnliches durchmachen müssen wie Alexander.
»Und es stört dich gar nicht, dass du mich damit dazu zwingst, auch weiteren Männern den Traum von einem eigenen Kind zu zerstören? Immerhin sind diese Mittel der Grund für meine …«
»Halt den Mund!«, rief Albert und drückte mit heftigen Bewegungen seine Zigarette aus. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Katja blieb auf dem Stuhl sitzen. Sie starrte auf die Uhr, die über der Tür hing, und sah dabei zu, wie Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden vergingen. Als sie sich um kurz nach Mitternacht endlich dazu durchrang, ins Bett zu gehen, stand ihr Entschluss fest. Sie hatte nichts mehr, was sie noch hielt. Keine Karriere, keine Liebe, keine Familie, zumindest nicht ihre eigene. Private und berufliche Träume würden sich nicht mehr erfüllen, was immer sie auch zu geben bereit war. Es gab nichts mehr, wofür es sich noch zu arbeiten lohnte, denn am Ende blieb ihr nur eine Stelle als einfache Lehrerin. Das war nicht das Leben, das sie sich ausgesucht hatte, und sie dachte nicht daran, hier und jetzt einfach aufzugeben. Sie würde noch genau einen Sommer lang funktionieren. Sie würde die Mädchen trainieren, sie dopen und nach Athen begleiten.
Und dann würde sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Sie hatte einmal gelesen, dass es einen Zug gab, der direkt von Athen nach Dortmund fuhr. In diesen Zug würde sie einsteigen. Sie würde dem Verein und der DDR den Rücken kehren und nicht mehr zurückblicken.