V

Nachdem Anna Wendtlin den letzten Satz geschrieben hatte, blickte sie mißmutig auf den vollen Aschenbecher neben sich. Wie schon so oft schwor sie, aber wie immer nur sich selbst, mit dem Rauchen aufzuhören. Sie las noch einmal den Text durch und ging dann mit dem Manuskript hinaus auf den Flur, wo im Pariser Büro der Illustrierten das Faxgerät stand. Sie tippte die Nummer des Anschlusses ein, der direkt ins Vorzimmer von Karsten Schuler fuhrte. Hastig malte sie noch einen Zettel dazu, daß dies nun vorerst alles sei und sie für Rückfragen im Hotel erreichbar sein würde. Von der Sekretärin ließ sie sich den Andruck der neuesten Ausgabe geben, in der gestern ihre Serie über Romy Schneider begonnen hatte. Sie blätterte und ging routiniert über die Absätze, um Kürzungen zu entdecken. Dann gähnte sie und winkte dem Mädchen zu, bis später.

Mit Pétin hatte sie sich im Hotel verabredet; er saß schon nervös rauchend in der Halle, als sie ankam. Laurents Augen wirkten stumpf und ausgeweint, sein Gesicht war grau, die langen Haare hingen strähnig herab. Er sah furchtbar aus, dachte sie, wahrscheinlich hatte er wieder nicht geschlafen.

»Du siehst auch nicht besser aus«, begrüßte er sie, als hätte er ihre Gedanken erraten und sie nickte, ja, ich habe die ganze Nacht geschrieben. Dann schob sie ihm das Magazin mit dem Porträt von Romy Schneider auf dem Titel über den Tisch.

»Du kannst es ja auf deutsch nicht lesen, Laurent, aber genau diese Geschichte wird heute auch in einer vorgezogenen Ausgabe von Paris Match erscheinen. Die haben von uns die ganze Serie gekauft. Und das, was ich heute nacht geschrieben habe, kommt dann nächste Woche. Ich kann es dir aber auch übersetzen lassen, wenn du es vorher wissen willst.«

Er schüttelte den Kopf und steckte sich an der Glut der alten eine neue Zigarette an. Anna Wendtlin schaute ihn müde an und erinnerte sich an den jungen Mann, den sie vor anderthalb Jahren kennengelernt hatte. Sie hatte Romy Schneider besucht, die mit einem gebrochenen Fuß in ihrer Pariser Wohnung lag. Bei Fotoaufnahmen für ein Interview im französischen Badeort Quiberon war die Schauspielerin übermütig von einem der Felsen gesprungen, die an der bretonischen Küste überall am Strand liegen wie vergessenes Spielzeug irgendwelcher Riesen aus grauer Vorzeit. Romy Schneider war in Paris in ihrem Bett gesessen, umgeben von Zetteln und dem Drehbuch für ihren nächsten Film, dazwischen ihre Tochter Sarah, glücklich über die unverhoffte Anwesenheit der Mutter. Laurent Pétin hatte sich sich mit dem Kindermädchen Bernadette um den Haushalt gekümmert, Anrufe angenommen und fasziniert auf dem Boden vor dem Bett gehockt, wenn Romy Schneider die berühmten Stars nachmachte, mit denen sie schon gearbeitet hatte. Laurent und Anna hatten raten müssen, wer gemeint war. Yves Montand? Nein. Michel Piccoli? Ja, gewonnen. Romy Schneider schien glücklich zu sein mit Laurent, der sie anbetete und umsorgte. Aber es war eine komplizierte Liebesgeschichte, wie Anna schon damals wußte, keineswegs so einfach, wie man jetzt nach Romy Schneiders Tod lesen konnte: Junger Mann aus gutem Hause liebt ältere, weltberühmte Frau und gibt ihr endlich den nötigen Halt, usw. Hat Romy, dachte Anna, mit ihm nicht auch gespielt wie mit so vielen anderen Männern? War ihr nicht auch bei Laurent die Eroberung wichtig gewesen, die Selbstbestätigung? Ja, sie hat einen Mann wie Laurent gebraucht, der endlich Ordnung in ihr Leben bringen wollte. Aber hat sie in ihm nicht mehr den Bruder als den Geliebten gesehen? Romy hatte so viel von ihrem Vater, dem Charmeur, geerbt, vor allem die dauernde Lust auf einen neuen Flirt, und eigentlich wenig von ihrer Mutter, die ihr nur optisch ähnlich, aber im Wesen immer fremd geblieben war.

Anna Wendtlin schrieb sich das Wort VATER auf einen Zettel und steckte ihn in ihre Tasche. Die Beziehung von Wolf Albach-Retty zu seiner Tochter muß ich noch viel genauer recherchieren, dachte sie, der wird immer nur in ein paar Zeilen erwähnt und ist wahrscheinlich viel wichtiger, um Romy zu verstehen, warum sie so und nicht anders lebte, vielleicht auch gar nicht anders konnte. Ich weiß noch viel zu wenig darüber. Anna Wendtlin war plötzlich trotz ihrer Müdigkeit ganz begierig, auf ihr Zimmer zu gehen und endlich den Koffer zu untersuchen, der oben lag. Endlich die vielen Zettel zu lesen, in denen sich Romy Schneider zeitlebens ausgedrückt hat, ob im Restaurant oder in der Garderobe, immer dann, wenn sie zu schüchtern war, über ihre Gefühle zu sprechen. Oder wenn sie Angst hatte vor unangenehmen Gesprächen. Sie blickte auf Laurent. Und dich werde ich auch noch verletzen müssen, wenn ich wirklich die ganze Wahrheit finde, aber vielleicht will ich die ja gar nicht so genau wissen…

»Laurent, ich brauche übrigens deine Hilfe, auch wenn es dir in deiner jetzigen Stimmung noch so schwerfällt. Kannst du mir eine Liste machen der Regisseure oder Schauspieler oder Agenten, die über Romy mehr wissen als nur das Übliche? Ich muß mit möglichst vielen von ihnen reden, falls die überhaupt bereit sind, mit einer Journalistin zu sprechen. Aber wenn du für mich bürgst…« Das Ganze, dachte sie, ist wie ein Puzzle aus vielen, vielen Stücken, und selbst dann, wenn du das Puzzle zu einem Bild zusammenstellst, kann der Eindruck ganz falsch sein. Annäherung an ein Leben, mehr ist doch gar nicht zu schaffen.

Pétin nickte, fast dankbar, daß er gebraucht wurde, daß er eine Aufgabe bekam. Er stand sofort auf, als dürfe er keine Minute verlieren: »Wir telefonieren heute abend, wenn du bis dahin ausgeschlafen hast.« Er umarmte sie flüchtig und verließ schnell das Hotel.

Am späten Nachmittag schreckte Anna Wendtlin aus tiefem Schlaf hoch, als das Telefon klingelte. Im ersten Moment war sie verwirrt und begriff dann erst, wo sie war. Straßengeräusche drangen durch das offene Fenster. Sie war angezogen auf dem Bett eingeschlafen, um sie herum lagen Fotos und Zettel aus dem Koffer. Sie griff zum Hörer und meldete sich verschlafen.

»Hallo?«

»Hör zu, da ist was Seltsames passiert. Bei der Redaktion von Paris Match hat jemand angerufen, der unbedingt mit der Autorin der Romy-Schneider-Serie sprechen wollte. Sie haben erst versucht, ihn abzuwimmeln, und dann doch Zweifel gehabt, ob es für dich vielleicht wichtig sein könnte. Kurzum, sie haben ihm unsere Adresse in Frankfurt gegeben, und gerade ist hier tatsächlich ein Telegramm eingetroffen, du sollst…«

Natürlich wußte sie, wer da am Telefon sprach, aber sie ärgerte sich und unterbrach die Stimme.

»Könnte es sein, daß ich mit dem Chefredakteur der Illustrierten spreche, bei der ich arbeite? Könnte es sein, daß dieser Chefredakteur mir eigentlich sagen wollte, daß er meinen Text bekommen hat, und daß er mich bewundert, weil ich die Nacht durchgeschrieben habe? Könnte es sein, daß…«

»Geschenkt, ja, klar, alles in Ordnung. Aber jetzt hör zu, verdammt noch mal. In dem Telegramm steht, daß du heute nacht genau um 24 Uhr an der Kirche von Ablis warten sollst, wo immer das ist. Da wird dich ein Auto abholen, das zweimal aufblendet, damit du auch das richtige erkennst. Muß ja schwer was los sein an dieser Kirche, wenn da um Mitternacht noch mehr Autos fahren… also, du wirst da abgeholt, und du sollst 25 000 Francs dabeihaben, weil es um ein wichtiges Dokument im Fall Romy Schneider geht. Übrigens, kein schlechter Titel, Der Fall Romy Schneider, muß ich mir gleich aufschreiben, ja, wo war ich, also, klingt spannend, was? Hast du alles, oder soll ich es wiederholen?«

»Karsten, kannst du dich einmal, wenigstens einmal, wie ein normaler Mensch benehmen? Ich habe die ganze Nacht geschrieben, ich bin todmüde, ich will heute abend endlich mal mit Laurent in Ruhe den Koffer untersuchen, den Romy für mich bereitgestellt hat, und du schickst mich zu irgendeinem obskuren Treffen nachts an eine Kirche in eine Gegend, die ich nicht kenne, nur weil irgendein Verrückter ein Telegramm geschickt hat?«

»Warte mal, in dem Telegramm steht nichts davon, daß du allein kommen sollst. Nimm doch diesen Laurent einfach mit. Wäre mir eh lieber, wenn du mit so viel Geld nicht allein durch Paris wanderst, ist ja auch nicht ganz ungefährlich«, antwortete Karsten Schuler, und Anna merkte verblüfft, daß er sich wirklich Sorgen um sie machte, auch wenn er es nie zugeben würde.

»Moment«, seufzte sie, »ich hole mir nur einen Zettel und was zu schreiben. Sag mir noch schnell, wie sich das Heft verkauft.«

»Nicht schlecht, nicht schlecht, man könnte sogar sagen hervorragend. Also, ich wiederhole jetzt alles.« Und er diktiert ihr die Einzelheiten aus dem geheimnisvollen Telegramm.

»Irgendeine Unterschrift, ein Name?«

»Nein, nichts. Steht nur drunter: un ami. Die 25 000 habe ich aus dem Büro schon ins Hotel bringen lassen, die liegen in einem Umschlag für dich unten an der Rezeption. Und wenn du zurückkommst, ruf mich an, egal, wie spät es ist. Ich bleibe auf jeden Fall in der Redaktion. Viel Glück.«

Bevor Anna reagieren konnte, war die Leitung tot. Sie legte den Hörer auf die Gabel, dann rief sie Pétin an, der sich sofort meldete, als habe er neben dem Telefon gesessen. Anna erzählte ihm von dem nächtlichen Treffen.

»Ablis? Das ist weit draußen, so sechzig bis siebzig Kilometer, das findest du allein nie. Ja, natürlich komme ich mit. Vielleicht erfahren wir ja wirklich etwas Neues.« Sie verabredeten sich für den späten Abend. Anna Wendtlin schaute auf die Uhr, sie hatte fast sieben Stunden geschlafen und fühlte sich zerschlagen und ausgelaugt. Ihr Pullover stank nach kaltem Rauch, sie zog sich angeekelt aus, ging unter die Dusche und genoß zehn Minuten lang den heißen Strahl.

Im Bademantel setzte sie sich an den kleinen Sekretär und wählte eine Nummer in Frankfurt. Schuler meldete sich sofort. Die Leitung führte direkt zu ihm und ging nicht über sein Vorzimmer, sie war nur ganz bestimmten Leuten für Notfälle bekannt.

»Ja?«

»Ich bin es noch einmal. Also für heute nacht ist alles arrangiert, es müßte klappen. Falls das Ganze nicht ein Scherz war. Laurent begleitet mich. Ich wollte dir noch sagen, daß die Juristen meinen Text genau lesen müssen, da gibt es ein paar Stellen, die Ärger machen könnten. Daß Blatzheim versucht hat, mit ihr zu schlafen oder so. Aber ich habe auf Band, du weißt, vom Interview damals, wie Romy darüber spricht. Wenn die noch was wissen wollen, sollen sie in den nächsten drei Stunden anrufen. Wir müssen nämlich früh los, weil Ablis ziemlich weit draußen liegt, irgendwo Richtung Chartres, glaube ich. Und außerdem wollen wir uns vor dem Treffen ein bißchen umsehen. Ich melde mich dann.«

Diesmal schaffte sie es, vor ihrem Chefredakteur aufzulegen. Sie wußte, das würde ihn ärgern, und bei dem Gedanken an sein saures Gesicht lächelte sie befriedigt.

Es ist noch immer hell, als sie losfahren. Anna hat sich ein helles Leinenkleid angezogen und trägt eine der Schiebermützen, die ihr Romy Schneider einmal geschenkt hat. Sie nehmen das Auto von Laurent, der zum erstenmal seit Tagen wieder lächelt, wie ein kleiner Junge, der sich auf ein Abenteuer freut. Sie sehen aus wie eines der zahlreichen Paare, die sich einen schönen Abend machen wollen. Weil in der lauen Sommernacht ganz Paris unterwegs zu sein scheint, brauchen sie fast zwei Stunden für die Strecke und haben deshalb viel Zeit, über das merkwürdige Telegramm zu rätseln, darüber, was dahinterstecken könnte. Dann wieder, unvermittelt, erzählt Laurent von einem Erlebnis mit Romy, wie sie ihn zusammengestaucht hat, als er zum erstenmal mit einem Drehbuch der Filmfirma zu ihr gekommen ist. Alles Scheiße, hat sie gebrüllt, keine klaren Dialoge, bin ich denn nur von Amateuren umgeben? Und daß er sich schon in sie verliebt habe, als sie noch mit Biasini zusammenlebte und gerade zum zweitenmal schwanger war. Ab und zu greift Anna Wendtlin in ihre Handtasche und faßt nach dem Umschlag mit dem dicken Geldbündel. An der Kirche von Ablis stellen sie ihr Auto ab und trinken in einer Bar einen Kaffee. Laurents Stimmung ist wieder umgeschlagen, düster, depressiv, er redet kaum, und wenn er sie anschaut, merkt sie, daß seine Gedanken ganz woanders sind. Irgendwann zahlen sie und setzen sich wieder in ihr Auto, rauchen bei geöffneten Fenstern. Beide schweigen. Im Café werden die Stühle auf die Tische gestellt, es ist dunkel geworden. Die Nacht verschluckt die letzten Geräusche, nur das stetige Brummen von der nahe gelegenen Autobahn, die von Paris nach Chartres führt, ist zu hören.

Plötzlich weist Pétin auf einen schwarzen Peugeot, der schon zum drittenmal um die Kirche gefahren ist. »Das wird er sein«, sagt er leise und wirft seine Zigarette hinaus. Nach der vierten Umrundung bleibt das Auto hinter ihnen mit laufendem Motor stehen. Die Scheinwerfer werden ausgemacht, dann blenden sie unvermittelt zweimal auf. »Also los«, flüstert Pétin und steigt aus. Anna Wendtlin folgt ihm. Beide gehen auf den Wagen zu. Auf dem Kirchplatz ist kein Mensch mehr zu sehen. Das Fenster des Peugeot wird heruntergedreht, als sie beim Auto ankommen.

»Sind Sie Anna Wendtlin?« fragt der Mann am Steuer, der im dunklen Auto nicht zu erkennen ist.

Anna nickt stumm.

»Und wer ist das? Ich wollte nur mit Ihnen reden.«

Anna überlegt blitzschnell und greift dann wie zufällig nach Pétins Hand, die sie kurz drückt.

»Das ist ein Kollege aus unserem Pariser Büro. Ich kenne mich hier nicht aus, und er hat mich deshalb begleitet.«

Der Mann zögert mit seiner Antwort, dann hört man wieder seine Stimme.

»Also gut, in Ordnung, steigen Sie ein. Wir fahren jetzt ein Stück. Ihren Wagen können Sie hierlassen, ich bringe Sie nachher zurück. Haben Sie das Geld?«

Wieder nickt Anna und zeigt auf ihre Handtasche. Zusammen mit Pétin steigt sie hinten im Peugeot ein, der sofort losfährt. Der Mann, der zu ihnen gesprochen hat, ist allein im Auto. Sie können sein Gesicht im Rückspiegel sehen, aber es sagt ihnen nichts. Unauffällig schüttelt Pétin seinen Kopf, nein, auch er kennt ihn nicht.

Nach zehn Minuten halten sie vor einer freistehenden kleinen Villa. Der Mann steigt aus, öffnet das Tor und fährt dann mit den beiden vors Haus. Wortlos weist er ihnen den Weg, nachdem er die Tür aufgeschlossen hat. Anna hat sich den Namen gemerkt, der am Briefkasten steht, Boucher. Sie treten in einen Vorraum mit schweren, dunklen Möbeln, dann in ein großes Zimmer mit schwarzen Deckenbalken, von dem aus eine nur angelehnte Terrassentür in den Garten führt.

»Setzen Sie sich bitte. Was ich Ihnen jetzt zeigen werde, ist nicht sehr erfreulich, aber ich bin sicher, Sie werden es überstehen.« Der Mann geht zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Fernsehapparat und ein Videogerät stehen. Dann drückt er einen Knopf und löscht das Licht. Anna Wendtlin schaut gebannt auf den Bildschirm. Erst flimmert es nur, dann beginnt ein schwarzweißer Film. Romy Schneider ist zu sehen, mit aufgelöstem Haar, verschwommen in die Kamera lächelnd. In ihrer Hand hält sie eine Zigarette, nein, es ist keine Zigarette, ein Joint. Sie ist fast nackt. Auf einem Tisch im Hintergrund des Zimmers sind weiße Häufchen zu erkennen, wie Mehl oder Zucker oder…

»Ja«, sagt der Mann, »es ist Kokain.«

Pétin neben ihr zittert, als eine Hand ins Bild kommt, die Romy Schneider an ihren Haaren hochreißt und sie zwingt, direkt in die Kamera zu schauen. Die Szenen wirken doppelt erschreckend, weil kein Ton zu hören ist. Ein Stummfilm aus dem Horrorkabinett, denkt Anna. Als ob es nichts mit uns zu tun hätte. Wieder lacht die Frau auf dem Video und zieht an ihrem Joint. Dann wird der Fernsehschirm schwarz, der Mann geht zum Gerät und drückt auf einen Knopf. Anna Wendtlin preßt den Arm Laurents, um ihn festzuhalten. Er atmet schwer.

Ihr seltsamer Gastgeber macht das Licht an, holt aus seiner Brusttasche ein Foto und gibt es den beiden.

»Das ist aus dem Film, den Sie gerade gesehen haben. Sie haben die Frau ja sicher erkannt. Bevor Sie sich aufregen, nein, ich habe das nicht gedreht. Ich habe auch schon viel gemacht in meinem Leben, aber… egal. Und fragen Sie mich nicht, woher ich das alles habe. Sagen wir so, ich habe es mir besorgt. Für 25 000 gehören Fotos und Video Ihnen. Sie können damit machen, was Sie wollen.«

»Aber das kann man doch nicht drucken«, schreit Pétin und springt auf, »das ist doch eine Schweinerei, und den Kerl, der das gedreht hat, den müßte man…«

»Das sollen Sie ja auch nicht drucken«, unterbricht ihn der Mann ungerührt und wartet ab, bis Anna den zitternden Laurent wieder auf den Stuhl gezogen hat. »Ihr Kollege ist wohl noch nicht so lange im Geschäft, oder? Irgendwoher kenne ich übrigens sein Gesicht…« Er schaut Laurent an, scheint nachdenklich in seiner Erinnerung zu kramen und schüttelt dann den Kopf. »Fällt mir jetzt nicht ein, egal, ich weiß es nicht mehr. Wird mir schon wieder einfallen. Nein, drucken sollen Sie das nicht. Aber verwenden können Sie es für Ihre Geschichte.« Er nimmt die Kassette aus dem Recorder und legt sie neben das Foto auf den Schreibtisch. »Und vielleicht darüber nachdenken, wer dieses Video gedreht hat und wem die Hand gehört, die Sie gesehen haben, und…« Er macht eine Pause. »Und vor allem, ob mit diesem Video Romy Schneider vielleicht erpreßt worden ist? Könnte doch sein, oder?« Dann blickt er schweigend auf Anna Wendtlin, als warte er ihre Entscheidung ab.

»Kann ich irgendwo mit meinem Kollegen alleine reden?« fragt sie. Der Mann zeigt wortlos auf die Tür, die auf die Terrasse führt. Pétin und Anna Wendtlin stehen auf und gehen hinaus auf den Rasen. Laurent ist bleich und zittert immer noch, als würde er trotz seines schwarzen Pullovers und trotz der warmen Nacht frieren.

»Laurent, nimm dich zusammen. Du hast ja gemerkt, er überlegt schon, woher er dein Gesicht kennt. Mir haben diese Bilder weiß Gott auch nicht gefallen, und natürlich drucken wir das nicht, was denkst du von uns, aber wir werden es kaufen und dann recherchieren, wer das gedreht hat und wer dahintersteckt. Vielleicht ist das die Erklärung für die Summen, die immer wieder von ihrem Konto verschwunden sind.«

Laurent reagiert erst gar nicht, dann hebt er abrupt den Kopf. Seine Stimme klingt gepreßt.

»Das kann nur jemand gedreht haben, den Romy sehr gut kannte und dem sie zumindest mal sehr vertraut hat…«

»… Jemand, der dieses Vertrauen mißbraucht hat, und jemand, der sie dann erpreßt hat. Jemand…« Sie beendet den Satz nicht. Beide wissen, daß sie an denselben denken.

»Hat nicht sein Bruder ein Fotogeschäft?« fragt Anna unvermittelt und erwartet keine Antwort.

Sie gehen zurück ins Zimmer. Der Mann, der etwa vierzig Jahre alt ist und eine Art Jeansanzug trägt, steht immer noch an derselben Stelle und blickt sie ruhig an. Anna Wendtlin nickt ihm zu und greift in ihre Handtasche. Sie nimmt den Packen mit dem Geld und legt ihn auf den Schreibtisch.

»Zählen Sie nach. Eine Quittung mit Ihrer Unterschrift werde ich wohl kaum erwarten können.« Der Mann grinst. »Eine Unterschrift können Sie haben, kein Problem, aber das wird Ihnen nicht helfen.« Er beginnt zu zählen. Dann brummt er zufrieden, steckt das Geld achtlos in seine Hosentasche und gibt Anna die Kassette und das Foto.

»Ich fahre Sie jetzt zurück zu Ihrem Auto, und dann sehen wir uns nicht wieder. Geben Sie sich keine Mühe, mir zu folgen oder herauszubekommen, wer ich bin. Auch dieses Haus gehört nicht mir; die Besitzer sind im Urlaub, sie kennen mich nicht, und ich kenne sie nicht. Ich habe mir für unsere Treffen die Schlüssel, sagen wir mal, ausgeliehen.« Er lächelt Anna Wendtlin an: »Sie können also den Namen auf dem Briefkasten wieder vergessen…«

Es ärgert Anna, daß sie rot wird und sich ertappt fühlt.

Nachdem der Mann sorgsam alle Lichter im Haus gelöscht und die Tür verschlossen hat, fahren sie zurück zur Kirche, wo ihr Auto geparkt ist. Pétin umklammert die Videokassette und das Foto. Wortlos steigen sie aus und gehen zu ihrem Auto.

Der Mann fährt los, hält aber noch einmal neben ihnen an und dreht die Scheibe herunter: »Vielleicht werden Sie sich fragen, warum ich Ihnen das alles verkauft habe. Das Geld, okay, aber wahrscheinlich hätte ich von anderen Leuten mehr dafür bekommen können. Wissen Sie, das mag sentimental klingen, und wahrscheinlich glauben Sie mir auch nicht, aber… ich habe alle Filme von Romy Schneider gesehen und alles über sie gelesen. Sie war eine große Schauspielerin. Sie hatte so etwas… Anrührendes, Verletzliches, Armes. Ich möchte einfach erleben, wie der Kerl öffentlich hingerichtet wird, der ihr das angetan hat.« Dann legt er den Gang ein und ist um die Ecke verschwunden, bevor sie das Nummernschild seines Wagens erkennen können.

Auf dem Weg zurück in die Stadt, eine Fahrt, die über leere nächtliche Straßen nur vierzig Minuten dauert, ist Anna Wendtlin die erste, die das Schweigen bricht.

»Hat Romy eigentlich nie eine Andeutung von dem gemacht, was wir gerade gesehen haben?«

»Nein, nie. Ich habe immer wieder versucht, mit ihr über das Geld zu reden, das regelmäßig von ihrem Bankkonto per Dauerauftrag abgebucht worden ist. Vieles hat sie ja gar nicht mehr gewußt, irgendwie halt ausgegeben, meinte sie dann. Aber du weißt ja, welches finanzielle Chaos bei ihr herrschte. Wenn sie irgendwo war und ihr irgendwas gefiel, hat sie es gekauft und die Rechnung schicken lassen. Und bis die Rechnung kam, hat sie vergessen, wofür das war. Hat alles weitergereicht an ihren Sekretär. Als ich mich darum kümmern konnte, war vieles einfach schon verschwunden.«

»Was hältst du von dem Mann?«

Er denkt lange nach und schaltet automatisch herunter, als die Autobahn in den Pariser Ring mündet: »Schwer zu sagen. Ich finde ihn auf der einen Seite widerlich, weil er Geld dafür nimmt. Auf der anderen Seite glaube ich ihm, daß es ihm ernst ist mit seiner Bemerkung, wir sollten den Verantwortlichen für diese Schweinerei öffentlich hinrichten. Ein seltsamer Typ… Und ich bin sicher, daß unsere Vermutung richtig ist, wessen Hand Romy festhielt. Ganz sicher. Wer denn sonst? Und daß sein sauberer Bruder gedreht hat. Ich bring’ die Kerle um, ich bring’ sie um!«

Anna legt ihm vorsichtig ihre Hand auf den Arm und läßt sie einen Moment lang liegen, um ihn zu beruhigen.

»Laurent, ich verstehe dich ja, aber noch haben wir keine Beweise, nur Vermutungen. Und es wird schwer sein, jemals Beweise zu finden, sehr schwer. Die einzige, die es wußte und es uns hätte sagen können, ist tot. Und falls es die beiden netten Brüder waren, ich wiederhole, falls, dann werden die einen Teufel tun und das Maul aufmachen. Gerade, weil ihnen eh jeder alles Schlechte zutraut. Das einzige, was wir tun können, ist öffentlich fragen, ob Romy erpreßt worden ist und womit, und auf eine Reaktion warten.«

»Bullshit, alles bullshit. Das ist mir zu wenig. Die sollen nicht ungestraft davonkommen, und wenn du mir nicht hilfst, dann mache ich es allein. Mir ist eh alles egal, seit Romy tot ist.«

Ein paar Minuten lang fahren sie stumm weiter. Anna Wendtlin weiß sehr genau, daß Laurent in seiner jetzigen Stimmung keine Rücksichten mehr kennt und von niemandem zu stoppen sein wird, wenn er sich etwas vorgenommen hat. Krampfhaft sucht sie nach einem Ausweg. Verdammte Scheiße, warum muß das immer alles an mir hängenbleiben? Ich könnte jetzt in Ruhe im Hotel schlafen und morgen in aller Ruhe an der Serie weiterstricken. Alles andere bringt nur Ärger und juristische Schwierigkeiten, und am Ende streichen sie mir auch noch alles raus, weil sie Angst vor einem Prozeß haben. Am besten schreibt man nur aus dem Archiv ab, was über Romy Schneiders Leben gedruckt worden ist in den letzten Jahren, und erspart sich den Streß. Das hilft ihr doch auch nicht mehr, wenn ich jetzt rauskriege, wer sie erpreßt und wer sie ausgebeutet hat.

»Entschuldige«, unterbricht Laurent ihre Gedanken, »ich wollte dich nicht anbrüllen, du kannst ja auch nichts dafür. Es ist einfach zu viel, verstehst du?«

»Schon gut, vergiß es. Laß mich einfach noch einmal in Ruhe überlegen, was wir unternehmen sollen. Und versprich mir, daß du heute nacht keine Dummheiten machst und wir morgen alles durchsprechen. Okay?«

Pétin nickt. An der Place de la Concorde bittet sie ihn zu halten: »Die paar Schritte zum Hotel gehe ich zu Fuß, ich brauche ein bißchen Luft.« Sie nimmt die Kassette und das Foto vom Rücksitz, steckt alles in ihre Handtasche und beugt sich hinüber zu Laurent. Mit zwei Fingern fährt sie ihm über die Wange. »Versuch zu schlafen, Laurent. Bis morgen.«

Sie weiß natürlich, daß er mal wieder nicht schlafen wird und daß er wieder vor dem Foto von Romy sitzen und mit ihr sprechen und sich quälen und sich Vorwürfe machen wird, daß er nicht besser auf sie aufgepaßt hat in jener Nacht. Er wird nie begreifen, daß sie einfach nicht mehr wollte. Egal, was auf dem Totenschein steht. Sie wollte nicht mehr. Die Verzweiflung war zu groß. Und stärker als die Lust auf ein neues Leben. Keiner hätte ihr helfen können, Laurent auch nicht. Allenfalls…

Anna Wendtlin bleibt auf der Straße stehen. Und redet laut zu sich selbst, neugierig betrachtet von einer Katze, die gerade von ihrem Beutezug aus den Tuilerien kommt. »Allenfalls Alain Delon.«

Das könnte die Lösung sein, Delon. Die letzten paar hundert Meter zum Hotel rennt sie fast, als würde er im Foyer schon auf sie warten. Achtlos nimmt sie ihren Zimmerschlüssel, fahrt im Lift nach oben und greift gleich zum Telefonhörer. Karsten Schuler meldet sich nach dem ersten Klingeln.

»Alles gut gegangen?«

Er hat auf mich gewartet, denkt sie gerührt, der alte Zyniker hat auf mich gewartet.

»Alles okay, ja. Wir haben ein Foto und eine Videokassette, damit ist Romy wahrscheinlich erpreßt worden. Man sieht sie halbnackt und offensichtlich unter Rauschgift. Nein, verwenden kann man das noch nicht. Wir müssen erst einmal rausbekommen, wann das Ganze gewesen ist und wer das Video gedreht hat. Ich hab’ da meine Vermutungen, aber damit fängst du nichts an. Ja, genau der, das glaube ich auch. Und wahrscheinlich sein Bruder, der hat hier in Paris ein Fotogeschäft. Aber ob das je zu beweisen ist… Ich habe aber gerade eine Idee gehabt, wer uns helfen könnte.«

»Soll ich dir Hans schicken oder Thomas?«

»Nein, ich habe in eine ganz andere Richtung gedacht… an einen Mann mit Einfluß, Delon.«

»Delon? Du träumst wohl, das kannst du doch vergessen. Wenn der Journalisten nur sieht, biegt er um die Ecke. Weiß man doch.«

»Stimmt, aber in dem Fall könnte ich mir vorstellen, daß er doch mit sich reden läßt. Laß es mich einfach mal versuchen. Und jetzt gute Nacht. Ich melde mich morgen. Danke, ja, schlaf du auch gut.«

Sie schaut auf ihre Uhr, kurz nach drei. Das Bett ist aufgedeckt, das Zimmermädchen hat vorsichtig die Fotos und die Zettel auf den kleinen Tisch gelegt. Ganz oben liegt ein Schnappschuß der jungen Romy Schneider, lachend steht sie in einem Garten. Im Hintergrund sieht man Alain Delon, auch noch ganz jung, umgeben von ein paar Hunden. Anna Wendtlin hat das Foto in der Hand, als sie mit Laurent telefoniert und ihm erzählt, was sie vorhat.