Es war wenig Verkehr, und der große Mercedes, eins der wenigen Dinge, die er noch beherrschte, brummte leise und sonor.
Fünfunddreißig Minuten später erreichte er die mitteljütländische Bundesstraße, verband das Mobilgerät mit der Freisprechanlage und betätigte die Kurzwahl. Nach fünf Freizeichen antwortete die schläfrige Stimme eines jungen Mannes:
»Hmm? Simon Hallberg …«
»Können wir uns bereits um elf Uhr statt um zwölf Uhr treffen? Ich bin früher als geplant von zu Hause losgekommen.«
Die Stimme des Journalisten klang schlagartig hellwach.
»Natürlich geht das. Und Sie sind wirklich entschlossen, das durchzuziehen? Ich meine …«
Frank Linden presste die geballte Faust aufs Zwerchfell und blinzelte in die Sonnenreflexe auf der Motorhaube. Er nahm alles gestochen klar und zugleich verschwommen wahr. Die Welt um ihn herum begann sich eigenwillig aufzuführen.
Jetzt übernahm der Unternehmer in ihm. Er hatte im Laufe seiner Karriere Milliardendeals gemanagt, da würde er ja wohl am Festzurren einiger simpler Bedingungen für sein Vermächtnis nicht scheitern.
»So wie wir es verabredet haben«, sagte er. »Sie bekommen eine Story von mir, und Ihr Freund findet Thomas Schmidt.«
Er setzte seine Sonnenbrille auf.
»Ich hätte mich schon längst dazu durchringen sollen, aber ich bin ein Feigling«, murmelte er.
»Das ist wohl kaum die vorherrschende Meinung über Sie«, wandte der Journalist ein.
»Nichtsdestotrotz ist es die Wahrheit.«
Simon Hallberg räusperte sich. Linden hörte im Hintergrund ein Glucksen und sah sich nach seiner Wasserflasche um.
»Michael Sander findet alles und alle, seien Sie versichert«, sagte Simon. »Und wenn wir das hier tatsächlich zu Ende bringen, kriegen wir Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Danach wird Ihre Branche nicht mehr dieselbe sein.«
»Das wird auch höchste Zeit.«
Frank Lindens Blick sprang zwischen der Straße vor ihm, dem Rückspiegel und den Seitenspiegeln hin und her. Er war sicher, dass er beschattet wurde. Falls nicht, machten seine Widersacher eine schlampige Arbeit. Und er zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich um die Besten handelte, die für Geld zu kriegen waren. Vermutlich Experten der düstersten Sorte, vermittelt von einer kleinen, exklusiven Sicherheitsfirma. Eine von denen, die nicht über Google zu finden waren.
»Ich will ganz bestimmt nicht undankbar sein«, versicherte Simon ihm. »Das Honorar ist fabelhaft. Es scheint mir nur so … endgültig.«
Frank Linden blinzelte gereizt. »Verdammt, Hallberg, Sie sind Journalist. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie nicht von einer Story wie dieser geträumt haben. Aber gehen Sie behutsam damit um … Und sorgen Sie dafür, dass niemand Ihnen folgt. Sie sind irgendwo da draußen. Glauben Sie mir.«
»Ich nehme das Rad«, sagte Simon Hallberg.
»Gut. Bis gleich.«
Linden beendete das Gespräch und beobachtete resigniert den verdreckten weißen Ford Mondeo drei oder vier Wagen hinter sich, den er seit fünf Minuten im Rückspiegel hatte.
Die Kabine des Ford Mondeo sah aus, als hätte eine Horde Vierzehnjähriger darin gecampt. Pappbecher mit kalten Kaffee- und Colaresten, fettfleckige Bäckertüten und ein paar leere Pizzaschachteln. Genau die Kombi aus gemütlichem Chaos und wüsten Ausdünstungen, die der Verfolger so liebte. Ein bisschen wie in seiner Wohnung in Hamburg, bis auf den Beo, um den sich seine Nachbarin Frau Schimmelmann kümmerte, wenn Joachim Bachmann auf »Geschäftsreise« war.
Aus der Stereoanlage tönte Shania Twain.
Der korpulente, fünfundfünfzigjährige Privatdetektiv gähnte, schob eine Hand unter den Hosenbund und kratzte sich am Gemächt. Er schloss genießerisch die Augen. Der Wagen näherte sich um Haaresbreite der Leitplanke, worauf er die Hand aus der Hose zog, den Wagen wieder in die Spur brachte und erneut gähnte. Bachmann rieb sich über die grauen Bartstoppeln, tippte eine Nummer in sein Satellitentelefon und richtete sich im Sitz auf, als die flache, monotone Stimme des Verbindungsoffiziers aus den Lautsprechern rieselte. Sie verwendeten Stimmverzerrer, und Bachmann wusste, dass seine Stimme am anderen Ende ebenso monoton und träge ankam – irgendwo in England vermutlich.
»Ja?«
»Wir durchqueren gerade Fünen«, teilte der Deutsche mit.
Hundert Meter vor ihm glitt Frank Lindens Mercedes lässig durch den Morgenverkehr.
»Halten Sie Abstand«, ermahnte der Verbindungsoffizier ihn überflüssigerweise.
»Was hat Linden vor? Ich meine, was ist der Zweck seiner Reise und wo führt sie hin?«
»Eine Pilgerfahrt, würde ich sagen. Vergebung seiner Sünden. Etwas, woran Frank schon sehr viel früher hätte denken sollen.«
Trotz des Stimmverzerrers deutete Bachmann die kurzen Konsonanten und die leicht schleppende Stimme als das gediegene Produkt traditioneller englischer Oberklasse: Eton oder Rugby, Oxbridge, mit anschließendem Offizierspatent in einem ruhmreichen Regiment.
»Aha«, sagte Bachmann.
»Und das können wir nicht zulassen«, sagte der Verbindungsoffizier .
»Das können wir wohl nicht. Wie gehe ich ab jetzt vor?«
»Folgen Sie ihm weiter. Wir haben eine Vermutung, was sein Ziel ist, wollen aber gerne ganz sichergehen. Und seien Sie um Gottes willen vorsichtig. Frank Linden ist todkrank. Er hat nichts zu verlieren und wird sich vor nichts fürchten. Und er ist ein großer Mann, das kann man drehen und wenden, wie man will. Bedauerlicherweise sind wir gezwungen, Frank Lindens Geschichte abzuschließen.«
»Warum überlassen Sie das nicht einfach dem Lauf der Natur?«, fragte der Deutsche.
Die Tonlage des Verbindungsoffiziers veränderte sich. Wurde klanglos.
»Bis zum allerletzten Atemzug kann er für unseren Klienten alles zerstören. Außerdem hat er diesen verfluchten Ghostwriter ins Spiel gebracht. Typisch Frank. Wir müssen jetzt eingreifen. Und ich verfüge zufällig über die passende lokale Expertise.«
»Lokal?«
Bachmann bekam keine Antwort. Der Verbindungsoffizier hatte das Gespräch beendet.
Der Verfolger schüttelte die letzte Zigarette aus dem Päckchen und hoffte, dass Frank Linden auf seiner Pilgerfahrt eine kurze Pause eingeplant hatte.
Am liebsten irgendwo, wo es Camel Blue gab.