Zurück in seinem Auto, schaltete er das Mobiltelefon ein, das grundsätzlich ausgeschaltet war, wenn er für Pinkie Pixie unterwegs war, um zu vermeiden, seine Position über die Sendemasten in der Umgebung zu offenbaren.
Er fluchte heftig, als er eine zwanzig Minuten alte Nachricht von Simon Hallberg las:
… werde verfolgt … Linden tot auf Parkplatz MMS … Aufn. vergessen … fck … hilfe …
Michael studierte das Foto eines von Bäumen und Büschen umgebenen Parkplatzes. Darauf ein dunkelblauer Mercedes mit reglosem Körper über dem Lenkrad hinter blutgesprenkelten Scheiben. Etwas entfernt eine schlanke, schwarz gekleidete Gestalt auf dem Weg zu einem Motorrad mit schalldämpferbestückter Pistole in der rechten Hand.
Michael schlug hart mit der Hand aufs Lenkrad.
»Simon, Simon, auf was zum Teufel hast du dich da eingelassen?!«
Er startete den Motor, aktivierte die nagelneue Mobilsuchfunktion auf seinem iPad und zählte die Sekunden, bis Simons Mobiltelefon geortet war .
Das Motorradknattern seines Verfolgers wurde zwischendurch schwächer, dann wieder intensiver, aber es war immer da. Simon trat so kräftig in die Pedale, wie er konnte. Im Wald um den kleinen See wimmelte es normalerweise von Joggern, Mountainbikern und Spaziergängern mit ihren Hunden, aber ausgerechnet heute nicht. Er hatte sich noch nie so verletzlich und einsam gefühlt. Seine Oberschenkel brannten wie Feuer, sein Atem ging pfeifend und schwer. Er riss sich das rote T-Shirt über den Kopf und warf es zwischen die Bäume. Das Motorrad war jetzt sehr nah.
Frank Linden hatte recht gehabt: Diese Menschen würden alles tun, um ihn zu stoppen.
Irgendwo hinter ihm blieb das Motorrad stehen. Das Beschleunigungsgeräusch verebbte und wurde von einem tiefen, sonoren Klopfen abgelöst.
Er stellte sich in die Pedale.
Die Folter der Hoffnung.
»… Michael … Michael … Hilf mir, verdammt … Komm schon!«
Er wiederholte diesen Satz immer und immer wieder.
Die Operatorin hatte im Augenwinkel etwas Rotes wahrgenommen, die Pistole gezogen und war ins Unterholz abgebogen – überzeugt, dass die Jagd hier zu Ende war. Aber da hing nur das verfluchte T-Shirt des Ghostwriters über einem Zweig.
Sie konnte ihn weder sehen noch hören.
Sie schaltete den Motor aus, nahm den Helm ab, schloss die Augen und lauschte. Sie ignorierte den Wind in den Baumkronen, das Gezwitscher der Vögel, das entfernte Verkehrsrauschen vom Strandvejen … Und dann hörte sie jemanden singen. Junge Stimmen.
Sie kickte das Motorrad an, setzte den Helm wieder auf und fuhr in einem niedrigen Gang über den schlammigen Pfad auf den Gesang zu.
Simon blieb stehen, beugte sich vor und massierte seine Oberschenkel, die steinhart waren. Seine Arme, das Gesicht und der Oberkörper waren von den Zweigen blutig gepeitscht. Er stand am Waldrand mit Blick auf eine Lichtung – und wurde von einem unwirklichen Gefühl übermannt: Mitten auf der Lichtung stand eine Schutzhütte aus morschen Brettern. Und auf ein paar Baumstämmen um eine verloschene Feuerstelle herum saßen ein Dutzend Pfadfinder beiderlei Geschlechts und sangen einen mehrstimmigen Kanon. Ein blonder Junge traktierte eine verstimmte Gitarre. Links von ihm lag ein Haufen Rucksäcke. Vermutlich hatten die Pfadfinder dort übernachtet und wollten noch nicht nach Hause. Ihre Gesichter sahen jung und entspannt aus.
Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Ihm war ein Scharfschütze auf den Fersen, und er war im Besitz von einer Menge Informationen, für die mächtige, einflussreiche Männer und Frauen über Leichen gingen. Und vor seiner Nase saßen ein paar Pfadfinder und sangen Lagerfeuerballaden von Utopia.
Simons Blick wanderte wieder zu dem Rucksackberg, und ihm kam eine Idee. Sie war nicht grandios, aber seine einzige Chance. Er machte ein Foto mit seinem Smartphone und schickte es an die einzige Person auf der Welt, die dessen Bedeutung verstehen und danach handeln würde – auch wenn er selber nicht mehr hier wäre.
Die Operatorin balancierte auf den Fußstützen und lenkte das Motorrad über den rutschigen Pfad. Als sie die Lichtung mit der Pfadfindertruppe passierte, erhaschte sie einen kurzen Blick auf den Journalisten auf der anderen Seite.
Simon pflügte durch das Unterholz und erreichte einen breiten, asphaltierten Waldweg, der zum Skodsborgvej führte. Er sah den Verkehr vorbeifließen.
Hoffnung keimte in ihm auf, wurde aber von dem bitteren Geschmack der Niederlage erstickt, als direkt hinter ihm mit lautem Krachen das Motorrad aus dem Dickicht brach.