Lenes Gesicht war angespannt und verbissen. Maria klammerte sich an ihr Bein. Lene ließ ihre Schultertasche neben sich auf den Boden fallen, tätschelte abwesend den Kopf ihrer Tochter, warf ihre Pistole auf den Küchentisch und sank auf einen Stuhl.
Michael schenkte ihr ein großes Glas Rotwein ein.
Lene lauschte mit dem Glas in der Hand wortlos Marias endlosen Tiraden. Dann nahm sie einen kräftigen Schluck und ließ ihn mit geschlossenen Augen die Kehle hinunterrinnen.
»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun? Deinen Vater und Georgina erschießen?«
Maria schielte zu Michael, als überlegte sie, ob das vielleicht gar nicht die schlechteste Lösung wäre.
»Wird man farbenblind, wenn man zu lange ein iPad benutzt, Mama? Schrumpft davon das Gehirn?«
Lene sah Michael an.
»Hat er das gesagt?«
»Und dass man dumm wie Schnodder wird.«
»Sie war sehr unfreundlich zu Georgina. Wieder einmal«, erklärte Michael.
Lene sah ihre Tochter an.
»Das will ich nicht noch mal hören, Maria, verstanden? «
Das Mädchen starrte schmollend auf den Boden.
»Verstanden?«
»Ja!«
»Ich muss noch mal los.«
»Mama!«
Lene strich erneut über das schwarze, glänzende Haar ihrer Tochter.
»Die Welt spielt gerade verrückt. Ich kann nichts daran ändern.«
Wortlos verließ Maria die beiden. Sie hörten sie wütend die Treppe ins obere Stockwerk hochstampfen. Gefolgt von den klackernden Krallen des Hundes auf den Stufen.
Lene lehnte sich zurück.
»Himmelherrgott, Michael! Das ist alles sooooo abgefuckt!«
»Skipper kümmert sich um sie. Sie wird sich schon wieder beruhigen. Aber du siehst aus wie nach einem Granatenschock.«
Sie leerte ihr Glas und schnupperte.
»Rauchst du wieder?«
»Ja.«
»Krieg ich auch eine?«
Er zündete ihr eine Zigarette an. Lene nahm einen tiefen Zug, betrachtete zerstreut die Glut und löschte sie mit einem hitzigen Zischen im Weinglas.
Michael gefiel der Ausdruck in ihren Augen gar nicht. Er wusste, was jetzt kommen würde, und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Sie streckte einen Arm aus und griff nach seiner Hand .
»Schatz … Es tut mir schrecklich leid, aber dein Freund Simon, Simon Hallberg … Das ist so furchtbar … Er wurde in einem Waldstück bei Skodsborg gefunden. Erschossen.«
»Simon? Was … warum? Er hat noch nie irgendjemandem was getan … Du nimmst mich auf den Arm, oder?«
»Würde ich dich mit so etwas auf den Arm nehmen? Es sieht nach einer regelrechten Hinrichtung aus. Zwei Schüsse ins Herz und einer in den Kopf. Aus nächster Nähe.«
Two in the heart and one in the head, and you know, they are dead, dachte Michael automatisch. Die goldene Regel, wenn man ganz sichergehen wollte.
Er legte das Gesicht in angemessen ernste Falten. Im Laufe seines Berufslebens hatte er seine Gesichtsmuskeln so trainiert, dass sie ihm bedingungslos gehorchten. Und obgleich Lene ansonsten sensibel war wie ein Seismograf, schöpfte sie offensichtlich keinen Verdacht.
Michael stand auf, trat ans Fenster und vergrub die Hände in den Hosentaschen.
»… Verdammt, Lene … Simon …«
Zwischen Lenes Augen bildete sich eine feine, senkrechte Falte, als hätte sie einen falschen Ton in seiner Stimme aufgeschnappt. Dann wendete sich ihr Blick nach innen.
»Und sein Haus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Es tut mir wirklich leid.«
Michael breitete die Arme aus.
»Jesus. Das Haus? Habt ihr schon einen Verdacht?«
»Keine Patronenhülsen am Tatort, aber frische Reifenspuren von einem Motorrad und von Simons Mountainbike. Er war so schlau, sein Handy mit einem Stein zu zerschlagen, bevor … sein Mörder ihn eingeholt hat. «
Michael drehte sich um und öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. Nicht, weil er Lene nicht traute. Das tat er in jeder Beziehung. Lene war ein extrem entschiedener Mensch, aber sie arbeitete für die dänische Reichspolizei und würde sich niemals auf etwas einlassen, das gegen irgendwelche Gesetze verstieß.
Vor vielen Jahren hatte sie eine besondere Ausnahme gemacht, aber danach nie wieder.
Michael hatte dem internationalen Strafrecht nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er folgte seinem persönlichen Regelkatalog, was nur natürlich war nach so vielen Jahren bei diversen Spezialkampfeinheiten und bei Shepherd & Wilkins. Er war von sehr harten Männern ausgebildet worden, die untereinander einen unverbrüchlichen Ehrenkodex hatten, aber ansonsten außerhalb des internationalen Völkerrechts operierten, weil sonst nie etwas ordentlich zu Ende gebracht werden würde.
Das gewöhnte man sich nicht ohne Weiteres ab.
Er hatte das dicke Fell eines alten afrikanischen Büffels. Dank seines überbeanspruchten Schutzengels war er dem Tod mindestens ein Dutzend Mal von der Schippe gesprungen. Michael hatte eine Karmaschuld galaktischen Ausmaßes aufgetürmt, die irgendwann eingelöst werden wollte – vermutlich durch einen völlig banalen Unfall, wenn er mit einem Eis in der Hand, Sonne in den Augen und Frieden im Herzen vor einen Bus lief.
»Willst du was sagen?«, fragte sie.
»Was? Nein. Es will nur einfach nicht in meinen Kopf, dass Simon …? Bist du ganz sicher?«
Lene seufzte .
»Ich habe die Leiche gesehen, Michael. Und ja, ich bin bombensicher. Ich weiß, dass du ihn mochtest.«
»Und ob. Ich habe ihn sehr gemocht. Wir waren keine wirklich engen Freunde, aber …«
»Du bist mit niemandem eng befreundet.«
World of Warcraft dröhnte in voller Lautstärke aus dem oberen Stock herunter. Marias Rache.
»Harte Worte«, murmelte Michael.
»Du hast recht. Tut mir leid. Ich bin einfach fertig. Das ist noch längst nicht alles, und das blöde Weib im Eckbüro verlangt, alle losen Enden auf der Stelle zu verknüpfen, am besten gestern. Ich bin mir nur nicht sicher, ob die Ereignisse, abgesehen von der zeitlichen Übereinstimmung, wirklich zusammenhängen.«
Michael dachte an Lenes Chefin, Charlotte Falster, eine durchaus intelligente, aber arrogante, realitätsfremde und gefühlskalte Verwalterin, die immer zu viel von ihren Angestellten verlangte. Und noch ein bisschen darüber hinaus.
Dann dachte er gekränkt an Lenes Bemerkung, was seine Beziehung zu anderen Menschen betraf. Er empfand sich selbst nicht als dezidiert asozial, es war nur so, dass die meisten Menschen ihn schnell zu langweilen begannen. Speziell Lenes Freundinnen und ihre einschläfernden Anhängsel, die keine anderen Themen als Wein, Apps, Mikrobrauereien, Gourmetburger, Autos und Marathonläufe hatten.
Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
»Was ist sonst noch passiert?«
»Alles! Komplett jenseits von Gut und Böse. Du kannst es dir auf CNN ansehen.«
»Willst du es mir nicht einfach erzählen? «
»Frank Linden, der Präsident von Linden Pharma, von dem hast du doch sicher schon mal was gehört, oder?«
»Natürlich«, sagte Michael. »Einer der ruhmreichen Söhne unseres Vaterlandes. Und einer der reichsten. Der größte Insulinproduzent auf der Welt. Eine Ikone.«
»Genau. Er war eine Ikone. Und er wurde wenige Kilometer von Simons Leiche in seinem Wagen gefunden.«
»Verdammt …«
Michaels Handy lag weniger als einen Meter von Lene entfernt, darauf das Foto eines dunkelblauen Mercedes C mit blutbespritzten Scheiben und einer über dem Lenkrad liegenden Person. Er hatte das unbändige Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen. Ihr zu helfen. Aber er konnte nicht. Alle seine Instinkte verboten es ihm.
Wie immer.
»Verdammt …«, wiederholte er matt.
»Ja.«
Sie stand auf, schob eine Packung Cup O’ Noodles in die Mikrowelle und starrte vor sich hin. Eine einzelne Träne blinkte in ihren Wimpern.
»Halt mich jetzt nicht für einen verweichlichten, feigen Jammerlappen, aber ich hab das Gefühl, dass ich zu alt für so einen Scheißdreck bin, Michael. Frank Linden, verflucht noch mal. Was ist bloß mit der Welt los?!«
Er nahm sie in den Arm. Schob sie im nächsten Moment von sich weg und betrachtete ihr hübsches, angespanntes Gesicht.
»Auf die gleiche Weise wie Simon?«
Sie schnäuzte sich die Nase in einem Blatt Küchenrolle und klammerte sich an ihn .
»Es sieht so aus, als hätte er sich selbst getötet. Zwischen seinen Füßen lag eine Walther PPK 7.65. Er hatte einen Waffenschein. Peng! Tot.«
Die Mikrowelle piepte, und sie zuckten zusammen.
»Mama«, rief Maria von oben.
»Ich geh schon hoch zur Teufelsbrut«, sagte Michael und lächelte sie aufmunternd an.
»Du wirst das ganz sicher lösen, Schatz. Und du bist nicht zu alt. Denk an Sherlock Holmes und … und … Miss Marple. Die waren auch nicht direkt jüngeren Semesters. Oder Hercule Poirot, wo wir gerade dabei sind.«
»Miss Marple? Na, danke schön. Was haben sie übrigens im Kindergarten gesagt?«
»Ähm …«
Michael starrte auf seine Schuhspitzen. Den Kindergarten hatte er komplett vergessen.
»Super. Sie sind total glücklich mit ihr. Sehr zufrieden.«
Lene musterte ihn skeptisch.
»Total glücklich …?«
»Sozial intelligent, haben sie gesagt. Weit über ihrem Altersdurchschnitt. Also … mehr, als zu erwarten war.«
»Warst du im richtigen Kindergarten?«
»Ja, verdammt. Haselhaus.«
»Haselgarten, Michael.«
»Genau. Wie auch immer, es gibt überhaupt keine Probleme.«
Maria brüllte.
Lene nahm die Nudeln aus der Mikrowelle und verdrehte die Augen.
»Ich esse im Auto. Darf ich die Zigaretten mitnehmen?«