Ein einsam gelegener Bauernhof irgendwo in Schonen
Das Haus lag verborgen an einem See in den endlosen Wäldern, Wiesen und Äckern Schonens, zwischen Laubbäumen und Föhren, in einer von genügsamen Bauern geformten, mit dicht gewachsenen Lebendzäunen veredelten Landschaft, wo sie sich über Jahrhunderte hinweg ihr karges Auskommen gesichert hatten und wo von Menschen Geschaffenes und die Natur nahtlos ineinander übergingen.
Viele der abseits gelegenen, verlassenen Höfe waren von wohlhabenden Stockholmern und dänischen Städtern gekauft worden, die sie instand gesetzt hatten, um mit ihren Familien und Freunden meditative Zuflucht in der sanft hügeligen Landschaft zwischen Vögeln und Tieren zu suchen.
Ein guter Ort zum Untertauchen.
Thomas Schmidt saß auf der Kante eines Korbstuhls. Sein Blick war auf den Fernsehbildschirm geheftet, der gerade BREAKING NEWS auf BBC World sendete. Sein rechter Fuß wippte nervös auf und ab. Eine Moderatorin verkündete mit angemessen feierlich ernstem Gesicht Frank Lindens Ableben. Der kinderlose Unternehmensgründer und Präsident des dänischen Pharmagiganten Linden Pharma war unter bislang noch ungeklärten Umständen tot in seinem Wagen auf einem Parkplatz gefunden worden.
Es wurden Archivbilder eines jüngeren, vitalen Frank Linden gezeigt: bei Hauptversammlungen oder Einweihungen neuer Fabrikgebäude überall auf der Welt, danach von Weitem seine Ehefrau Anna Linden, kurze Videoclips der Börsen in Tokio, Peking, London und New York, wo Linden Pharmas Aktienkurse gerade zum Sturzflug ansetzten. Ein hektisch sprechender Journalist vor der Nasdaq Copenhagen. Der gechillte Moderator versuchte, den aufgeregten Reporter zu beruhigen.
So viel stand fest: Frank Lindens überraschender Tod löste ein Erdbeben in der internationalen Finanzwelt aus, von China bis Peru – 7,8 auf der Richterskala.
Thomas schaltete den Fernseher ab und ging raus auf die Veranda vor ihrem rot gestrichenen Haus. Der abgelegene Hof war seit fünf Jahren Heim und Zufluchtsort der kleinen Familie. Ein guter Ort, um seine Albträume loszuwerden und seine Seele zu heilen. Vor den Gebäuden erstreckte sich eine grüne Rasenfläche bis runter zu einem Badesteg und der glatten, dunkelgrünen Wasseroberfläche des Privatsees. Im Wasser spiegelten sich die weißen Stämme der Birken, hinter denen in endlosen Reihen hohe Föhren standen wie eine verhexte, versteinerte Armee.
Seine Frau fütterte die Hühner. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. Sie war zehn Jahre jünger als Thomas, schlank und elegant. Ihre gesamte Erscheinung verströmte Vitalität, die dunkelbraunen, afrikanischen Augen strahlten .
Ihr amharischer Name bedeutete Sonnenmädchen.
Als sie Thomas’ Gesicht sah, verschwand ihr Lächeln, nur ein Schatten davon blieb in den Mundwinkeln hängen. So war sie.
Sie sprachen in einer Mischung aus Amharisch und Englisch, wobei ihr Englisch nach der Missionsschule und dem englischen Gymnasium fast besser war als seins. Amharisch sprachen sie wegen ihres Sohnes, der auf alle Fälle seine Muttersprache lernen sollte.
»Was ist passiert?«
»Frank ist tot. Selbstmord, heißt es.«
Die Hühner wimmelten aufgeregt gackernd um ihre Füße, als würde ein Habicht über dem Haus kreisen. Sie schloss die Drahttür hinter sich und ging zu ihm auf die Veranda.
»Bist du sicher? Blöde Frage.«
»Es läuft in Endlosschleife auf BBC und CNN. Und auf allen dänischen Kanälen.«
Sie legte die Hand auf das Geländer, und Thomas lehnte sich gegen einen geschnitzten Eckbalken, der das Dach über der Veranda stützte, auf der sie sich im Sommer so gern aufhielten. Sie schauten zu ihrem zehnjährigen Sohn, der auf dem Steg saß und mit den Füßen über dem Wasser baumelte. Der Junge hatte konzentriert die Zungenspitze in den Mundwinkel geklemmt und versuchte, Würmer auf Angelhaken zu stecken.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Wir hatten übermorgen ausgemacht. Ich muss das Ganze noch mal überdenken.«
»Wir brauchen sein Geld nicht.«
Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen .
»Der Drecksack schuldet uns die Welt. Genau wie seine Witwe, für den Fall, dass er wirklich tot ist. Ich muss so schnell wie möglich nach Dänemark. Rausfinden, was passiert ist. Ich glaube, dass ich mich auf Anna Linden verlassen kann.«
»Und was, wenn das eine Falle ist, Thomas? Sie haben weiß Gott schon alles probiert.«
»Ich glaube nicht, dass Frank meinetwegen gestorben ist.«
Schatten hatten sich über ihre Augen gelegt, und ihre Finger umklammerten seinen Oberarm.
»Aber wir brauchen nicht mehr Geld!«, sagte sie heftig. »Was ist, wenn dir was zustößt?«
»Wenn Frank an einer Hirnblutung gestorben ist oder am Herzschlag, so er denn ein Herz hat, dann Friede mit ihm. Dann ist der Film zu Ende. Aber wenn die Ursache eine andere ist, dann werden wir sein Geld brauchen, um hier wegzukommen und woanders neu anzufangen.«
Er küsste sie auf das schwarze, glänzende Haar.
»Ich werde vorsichtig sein. Wie ein junger Kudu am Fluss.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du bist nicht mehr der Jüngste.«
»Ich pass auf mich auf.«
Der Junge rief nach seinem Vater.
»Ich fahre mit Iskander raus«, sagte Thomas. »Wir wollen den alten Hecht überlisten, der sich immer die Entenküken schnappt.«
»Das ist euch in den letzten fünf Jahren nicht gelungen.«
»Vielleicht haben wir ja heute Glück.«
»Das ist kein Glückstag.«