Rechtsmedizinisches Institut, Rigshospital – am selben Abend
Der Sektionssaal von der Größe
eines Tennisplatzes erstreckte sich über drei Ebenen in die Höhe. Obgleich die riesigen Lüftungsschächte, Ventilatoren und galvanisierten Stahlrohre ihr Bestes gaben, ließ sich der Geruch von Tod und Formaldehyd unmöglich ganz vertreiben.
Das Lüftungssystem war in knalligen Make-up-Farben gestrichen und lenkte ein wenig von der ansonsten bedrückenden Nutzung der Räumlichkeiten ab. Drei der fünf Stahltische waren belegt. Zwei Leichname waren vom Schambein bis zum Halsansatz aufgeschnitten, die Kopfhaut war wie Kapuzen über die Gesichter heruntergezogen, und die entblößten, nur noch von Sehnen überzogenen Schädel glänzten im Licht der Neonröhren. Frank Lindens ausgemergelter Körper wirkte klein und unbedeutend auf der blanken Stahlplatte, so bedeutend und mächtig er auch zu Lebzeiten gewesen sein mochte.
Lenes Kehle entrang sich ein unterdrücktes Stöhnen, sie würgte hinter vorgehaltener Hand und starrte verkrampft
auf das Austrittsloch der Pistolenkugel im geometrischen Zentrum von Lindens Schädelkalotte.
Es sah aus wie das leere, schwarze Auge eines Hais.
Neben seinen knochigen Füßen stand eine gelbe Plastikwanne, in der Lungen und Herz in Formaldehyd schwappten.
Der junge Simon Hallberg auf dem nächsten Tisch war mittelgroß, mittelgewichtig, mittel alles. Und verdammt noch mal viel zu jung, um hier zu liegen. Nackt und wehrlos. Das erste 9-mm-Vollmantelprojektil war hinter dem linken Ohr ausgetreten, der Brustkasten links neben dem Brustbein zweifach durchbohrt, direkt über dem Herzen. Das waren keine zufälligen Treffer, sondern die klinisch präzise Hinrichtung durch einen kaltblütigen Henker.
Die dritte Leiche im Sektionssaal war mit einem Laken zugedeckt.
Die Rechtsmedizinerin war eine mit grüner Haube, grünem Mundschutz, Plastikkittel und Schutzbrille vermummte jüngere Frau.
Grün ist gut für die Augen, dachte Lene hirnleer, während sie gegen einen unkontrollierbaren Würgreflex ankämpfte. Und dann kamen ihr aus unerfindlichem Grund die Teletubbies in den Sinn. Wie hießen die noch gleich? Laa-Laa, Dipsy, Tinky-Winky?
Die Namen klangen wie irgendwelche hippen Designerdrogen. Lene hatte die Teletubbies immer schon unheimlich gefunden. Seelenräuber.
Sie zwang sich zur Konzentration.
Die Pathologin stand über Frank Lindens entseelten Körper gebeugt, beide Hände in seiner Bauchhöhle vergraben, während sie mit sanfter, nüchterner und angenehmer
Stimme ihre Beobachtungen in das stecknadelkopfgroße Mikrofon eines Headsets diktierte.
Vize-Staatsobduzentin Helle Englund war mit den Jahren eine von Lenes engsten Freundinnen geworden. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Wie gewöhnlich hatte Lene in der Mitte zwischen den Sektionstischen und den Handwaschbecken an der Wand Stellung bezogen, weil sie wusste, dass jederzeit das Würgen die Oberhand gewinnen konnte und sie sich übergeben musste. So ging es ihr immer in der Pathologie, eine der wenigen Konstanten in ihrem Leben.
Helle Englunds Augen suchten Lenes, während sie Lindens Leber und Bauchspeicheldrüse von den Bändern trennte und sie mit einem feuchten Schmatzlaut aus der Bauchhöhle hob.
Die rote, dunkel gefleckte Leber war gut zu erkennen. Selbst Lene konnte die weißen Metastasen identifizieren, die die Oberfläche des Organs wie aus dem Meer emporwachsende Atolle besiedelten. Manche von der Größe eines Golfballs.
Helle legte die Leber auf die Waage, zog ihre Handschuhe aus und konsultierte Lindens Patientenakte auf dem Computermonitor über ihrem Kopf.
»Wusstest du, dass er sterbenskrank war?«, fragte sie.
Lene sah sie zwischen den vor das Gesicht gelegten Fingern an.
»Nein.«
Die Pathologin zog ein paar frische Handschuhe über, nahm ein Sektionsmesser und zerschnitt die Leber. Die Klinge erzeugte einen trockenen, sandpapierähnlichen Laut, als sie durch verkalkte Metastasen schnitt
.
»Das war er«, fuhr Helle fort. »Er wurde in Skejby wegen Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Metastasen in Leber, Lunge und Wirbelsäule behandelt. Eigentlich hätte er schon längst tot sein müssen, wozu ihm offensichtlich die Zeit fehlte … Lene?«
Die Kriminalkommissarin stand über eins der Waschbecken gebeugt und erbrach Galle in langen Konvulsionen. Ihre Arme und Beine zitterten, der kalte Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Helle Englund seufzte. Alles war wie immer. Sie wunderte sich, dass Lene sich im Laufe der Jahre nicht an die rechtsmedizinischen Untersuchungen gewöhnt hatte. Übungsgelegenheiten hatte sie weiß Gott mehr als reichlich gehabt.
Sie knüllte Haube, Mundschutz, Handschuhe und Kittel zusammen und warf sie in einen gelben Müllsack in fünf Meter Entfernung, den sie noch nie verfehlt hatte. Helle spielte Volleyball auf relativ hohem Niveau. Sie ließ kaltes Wasser in ein Glas laufen und legte Lene eine Hand auf die Schulter.
»Wir gehen in mein Büro. Ich habe tonnenweise Haferkugeln dabei, die Amanda in Haushaltskunde gemacht hat, und frischen Kaffee.«
Lene trank das Wasser und nickte.
»Hört sich gut an«, murmelte sie schwach.