Vor dem Rigshospital ging der Tag in einen lauen Sommerabend über. Die hinter dem Horizont versunkene Sonne leuchtete die gewaltigen weißen Kumuluswolken an, die am westlichen Himmel zu einer wahrhaft göttlichen Ambossform verschmolzen. Unter den weißen Wolkenbergen hingen andere, lang gezogene Wolkenformationen in Gelb, Violett, Rot und Sepia, wie Reflexionen einer fernen, an den Himmel projizierten Schärenlandschaft – von unsichtbaren Zephyren ostwärts getrieben.
Helle hatte kein Licht gemacht, und Lene saß mit einer Decke über den Beinen auf einem niedrigen Sofa an der Wand. Sie trank heißen Kaffee und bemühte sich vergeblich, die bröseligen Haferkugeln ohne allzu viel Krümelei zum Mund zu führen.
»Sind die nicht lecker?«
»Superlecker«, log Lene.
Sie fühlte sich isoliert und weit weg von allen und allem. Das war gar nicht unangenehm, und sie hätte nichts dagegen gehabt, für immer dort im Halbdunkel zu sitzen, vor dem belebenden Farbspiel des Himmels.
»Warum hat er Selbstmord begangen?«, fragte Lene. »Wegen der Schmerzen? «
»Linden? Er befand sich im absoluten Endstadium seiner Krankheit. Ich bezweifle, dass die Morphintabletten und Pflaster ihm noch wesentlich geholfen haben.«
»Simon Hallberg wurde wenige Kilometer von Linden entfernt getötet. Mit dem war aber alles okay, oder? Gesundheitlich, meine ich.«
»Vollkommen. Er war so gut wie nie bei seinem Hausarzt. Mal ein Hexenschuss, Halsentzündung … sonst nichts. Bis jemand dreimal aus nächster Nähe auf ihn geschossen hat. Waren die beiden verabredet?«
Lene nickte aus ihrem privaten Halbdämmer.
»Erinnerst du dich an Hauptkommissar Basim Yenni?«
»Das syrische Schwergewicht, gegen den du boxt und den du immer ausknockst?«
»Er hat sich die Porträts seiner beiden Kinder auf den Rücken tätowieren lassen. In Originalgröße. Seine Frau prangt über seinem Herzen auf der Brust.«
»Da kann man ihm nur wünschen, dass er nie geschieden wird«, sagte Helle. »Was ist mit ihm?«
»Es ist ihm gelungen, einigermaßen zusammenhängende Aussagen aus ein paar Surfern rauszuquetschen, die auf dem Weg nach Thyborøn einen Zwischenstopp auf dem Parkplatz gemacht haben. Sie haben Lindens Auto gesehen und Simon Hallbergs Ankunft mit dem Rad beobachtet, bevor er sich zu Linden ins Auto gesetzt hat.«
»Dann kannten sie sich also.«
»Davon gehen wir aus. Bei Hallbergs Leiche war nichts von Interesse zu finden, außer einem zertrümmerten Mobilgerät, das die Hunde im Unterholz aufgespürt haben. Wir haben herausgefunden, dass er einen Vertrag mit dem Nemo Verlag für Lindens Biografie hat. Er war der Ghostwriter des Projekts, sollte aber nicht als Autor genannt werden.«
»Und er durfte mit niemandem darüber reden?«
»So ist es. Ich denke, auf diese Weise wollte Frank Linden ihn schützen. Im Verlag wussten nur wenige Personen von dem Vertrag, der auf Lindens Initiative hin zustande gekommen war. Der Verlagsredakteur meinte, der Prozess hätte sich enorm in die Länge gezogen, weil Linden entweder in der Klinik war oder nicht die Kraft hatte, sich mit Hallberg zu treffen. Die beiden sind sich außer heute nur ein einziges Mal persönlich begegnet, vor drei Wochen.«
Helle nickte, leerte ihre Tasse, schenkte sich nach und hielt die Kanne zu Lene hin, die den Kopf schüttelte.
Hinter Helle waren die Pinnwände in zwei Bereiche aufgeteilt: einer für die grausigen, kriminaltechnischen Fotos Verstorbener, der andere für Kinderzeichnungen.
Lene sah jetzt nur noch die Konturen der Rechtspathologin und hörte den in der Tasse rührenden Löffel. Hypnotisch.
»Stopp, Helle.«
»Womit?«
»Mit deiner autistischen Rührerei. Das letzte Zuckermolekül ist schon längst aufgelöst.«
»’tschuldigung.«
Lene bezwang den inneren Drang, sich auf dem Sofa auszustrecken und die Augen zu schließen. Stattdessen sprang sie auf und legte die Decke zusammen.
»Offensichtlich waren sie nicht diskret genug«, sagte Helle und knipste die Schreibtischlampe an.
»Zumindest hat jemand von dem Treffen gewusst. «
»Hast du eine Vermutung?«
»Nichts Spruchreifes. Linden war offensichtlich fest entschlossen, diverse dunkle Geheimnisse aus seiner Vergangenheit zu lüften, ehe es zu spät war, und Hallberg sollte sie der Öffentlichkeit zugänglich machen, ohne selbst im Fokus irgendwelcher Suchscheinwerfer zu landen.«
»Das kann alles Mögliche sein.«
»Darum fahre ich morgen nach Jütland in seine Sommerresidenz, so ein restaurierter Gutshof im Countrystil. Ich will mit der Witwe sprechen.«
Helle gähnte.
»Himmel, bin ich erschlagen. Was für ein Scheißtag.«
»Das kannst du laut sagen.«
Sie umarmten sich auf der Türschwelle.
»Wer ist eigentlich die dritte Leiche im Sektionssaal?«, fragte Lene neugierig.
Helle sah sie mit großen Augen an.
»Hast du es noch nicht gehört? Ein echter Promi. Flemming Brandt. Er hat sich heute Vormittag in seinem Atelier erhängt.«
»Der Maler? Das ist komplett an mir vorbeigegangen. Wahrscheinlich wollte Charlotte mich schonen.«
Bei diesem abwegigen Gedanken mussten beide grinsen. Rücksicht war für Charlotte Falster bekanntermaßen ein Fremdwort.
»Für Selbstmord bist du doch gar nicht zuständig.«
»Ich bin für alles zuständig. Alles! Offenbar hatte der ehrenwerte Professor der Kunstakademie einen Nebenjob als Produzent von erschütternden Kinderpornos. Snuff.«
»Wer hätte das von ihm gedacht? «
»Niemand. Aber aus rechtsmedizinischer Sicht ist die Sache eindeutig. Ein sehr ordentlicher Selbstmord.«
Lene zog eine Augenbraue hoch.
»Zu ordentlich?«
»Na ja …«
Lene schüttelte den Kopf, ihr kastanienroter Pferdeschwanz schwang hin und her.
»Ich will es gar nicht wissen!« Sie schaute nachdenklich vor sich hin. »Das heißt, nur der Mörder weiß, was tatsächlich mit Linden und Simon Hallberg passiert ist«, murmelte sie.
»Ist es nicht meistens so?«
»Ja, klar.«
»Grüß Michael.«
»Wen?«
»Deinen Mann, Lene. Geh jetzt nach Hause und schlaf, okay?«