Maria schlief wie betäubt, noch nach Vanilleeis duftend. Michael hatte den Inhalt von Simons Nylonsack auf dem Arbeitstisch in seinem Kellerbüro ausgebreitet: ein grünes, fleckiges Tagebuch mit einem roten Seidenbändchen als Lesezeichen, ein gut gefüllter Polsterumschlag und ein silbergrauer USB-Stick.
Das war alles.
Er lehnte sich zurück und betrachtete die Gegenstände.
Seine Armbanduhr piepste, und er seufzte resigniert. Zeit für den Bericht seines heutigen Tageseinsatzes an Pinkie Pixie. Er verband das Satellitentelefon mit einem speziellen WiFi-Modem und aktivierte seinen persönlichen Hotspot, über den er sich bei einem japanischen Computerspiel für Kinder einloggte, Talented Pet Beach Show , das in Asien momentan absolut populär war. Das Spiel ermöglichte ihm die direkte Kommunikation mit Pinkie Pixie in Form von Sprechblasen über den unerträglich kitschigen Figuren des Spiels: ein lila Katzenjunges, eine blaue Katze und ein weißer Pudel. Diese schwachsinnigen Comicfiguren hielten sich entweder am Rand irgendeines Swimmingpools oder an Bord eines Kreuzfahrtschiffes auf, an Orten, an denen über unbewegten Palmen immer die Sonne schien und Erfrischungsgetränke und Softeis aus Fontänen sprudelten .
Auf der Homepage tummelten sich rund um die Uhr so viele Millionen User, dass sein privater Chat mit Pinkie Pixie im Hintergrundrauschen unterging. Der rege Betrieb auf der Spieleseite war selbst zu viel für die Suchroboter der NSA oder die russischen Hacker, die rastlos das Netz durchforsteten.
Michael war der weiße Pudel Trixie. Pinkie Pixie betextete die Sprechblasen des lila Kätzchens, während die blaue Katze Nixie bis auf ein gelegentliches sinnfreies Miauen den taubstummen Part übernahm. Das Spiel machte Michael fertig.
Die lila Katze hüpfte vor Begeisterung, als Michaels Avatar zum Leben erwachte.
PINKIE PIXIE: Hallo! Pünktlich wie immer.
TRIXIE: Danke.
PINKIE PIXIE: Alles in Ordnung?
Die beiden Tiere schlenderten auf die Badeplattform neben einem azurblauen Swimmingpool. Der Pudel trug eine wespengelbe Badehose. Die blaue Katze stand an einer Bar und schaufelte Schokoladeneis in eine Waffel, die fast so groß war wie sie selbst.
TRIXIE: Fantastisch. Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit?
Die blaue Katze schlabberte genüsslich das Eis in sich hinein.
PINKIE PIXIE: Das haben wir doch schon besprochen, Trixie, und die Antwortet lautet immer noch Nein. Das hier ist die sicherste Methode, uns privat zu unterhalten. Hast du alles von unserem Freund dem Kunstmaler bekommen?
TRIXIE: Wird gerade hochgeladen
Der Kontrast zwischen der idyllischen Badeszene mit den drei geistesschwachen Tieren und Brandts brutalem Kinderporno war pervers.
Die blaue Katze stand auf einem Sprungbrett, hüpfte auf und ab und verschwand mit einem Zeichentrickfilmklatscher im Wasser. Als sie wieder auftauchte, legte sie sich auf einen pinkfarbenen Schwimmring.
Die lila Katze stand regungslos neben Michaels Pudel, als wartete sie auf den Weltuntergang.
Dann begann die Sprechblase über ihrem Kopf sich zu füllen.
PINKIE PIXIE: Das ist fantastisch, Trixie!
TRIXIE: Freut mich, wenn du zufrieden bist. Ich dachte übrigens immer, Katzen wären wasserscheu?
PINKIE PIXIE: Nixie ist keine echte Katze.
TRIXIE: Wo zum Teufel ist Simons Diktafon?, tippte Michael.
Ehe er seinen Fauxpas bemerkte, standen die Worte in der Blase über dem Kopf des Pudels. Ihm war gerade eingefallen, dass Simon immer und überall sein unentbehrliches Diktafon dabeihatte. Es war nicht bei seinen Sachen gewesen. Hatte er es womöglich in Lindens Auto liegen lassen? Der Gedanke, dass die Killerin es gefunden hatte, war nicht auszuhalten.
Die lila Katze betrachtete den Pudel mit zur Seite geneigtem Kopf.
PINKIE PIXIE: Ich verstehe nicht ganz, Trixie?
TRIXIE: Ach, nichts. Vergiss es. Ich stehe übrigens die nächste Woche nicht für Aufträge zur Verfügung. Es ist was aufgetaucht .
Aus dem Nichts bekam der Pudel ein Bananen-Shirt zu fassen. Er zog es sich über und begann, Limbo zu tanzen. Die blaue Katze tippte mit den Pfoten den Takt mit.
Michael glaubte einen enttäuschten Ausdruck in Pinkie Pixies Gesicht zu sehen, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
PINKIE PIXIE: Bist du ganz sicher?
TRIXIE: Ganz sicher. In einer Woche um die gleiche Zeit, plus zwanzig Minuten, logge ich mich wieder ein, okay?
Der Pudel rutschte auf einer Bananenschale aus, und die Katzen jubelten.
PINKIE PIXIE: Pass auf dich auf, Trixie. Die Welt ist ein gefährlicher Ort.
TRIXIE: O ja, das weiß ich.
Michael schaltete den Computer aus und zündete sich eine Zigarette an. Wie er das alles hasste. Aber wenn nicht er die Flemming Brandts dieser Welt aufspürte und bestrafte, wer dann? Die Antwort war ganz einfach: Es gab niemand außer ihm.
Andererseits – hätte er sich ohne Maria jemals auf Pinkie Pixie eingelassen? Sicher nicht. Er war viele Jahre lang ein engagierter, aber individualistischer Sicherheitsberater gewesen, dem Geld und seine Unabhängigkeit alles bedeuteten. Nach seiner Zeit bei der Elitetruppe des Militärs und bei der Sicherheitsfirma Shepherd & Wilkins hatte er es sattgehabt, sich unterzuordnen. Er würde sich niemals wieder in ein Angestelltenverhältnis begeben können. Dann lieber in Pappkartons unter einer Autobahnbrücke leben.
Und jetzt – in seiner Verantwortung als Vater – arbeitete er zwar nicht fest für diese alberne lila Katze aus einem japanischen Computerspiel, musste sich aber dennoch den präzise durchdachten, aber potenziell katastrophalen Aufträgen von Pinkie Pixie in ganz Europa unterwerfen.
Das fühlte sich fast nach einer normalen Anstellung an.
Wenn Lene wüsste …
Diesen fürchterlichen Gedanken wollte Michael gar nicht zu Ende denken.