Er strich über den verschossenen, grünen Umschlag des Tagebuches. Ein Drittel der rot linierten Seiten war mit gut lesbarer Tintenschrift gefüllt. Mehrere Seiten waren fleckig. Schweiß? Tränen? Wasser? Michael hatte keine Ahnung. Einige Flecken sahen aus wie getrocknetes Blut.
Auf der ersten Seite stand der Name des Besitzers: Thomas Schmidt.
Michael hielt das Buch unter die Lampe, und ein feiner Streifen roten Sandes rieselte auf die Tischplatte. Ein zerknicktes Schwarz-Weiß-Foto rutschte heraus. Er studierte es durch eine Briefmarkenlupe. Die Kuppel der Marmorkirche. Der Fotograf hatte sich auf einer Höhe mit dem Kranz solider Bogenfenster am unteren Kuppelrand befunden.
Es gab keine Notizen auf der Rückseite des Bildes, kein Datum. Altes Fotopapier. Wahrscheinlich vom Fotografen selbst entwickelt.
Michael zündete sich eine neue Zigarette an und begann mit der Lektüre.
3. APRIL 201 2
Endlich zurück in Adigrat. Wie ein Magnet hat es mich aus Dänemark wieder hierhergezogen.
»Warum bist du zurückgekommen?«, hat Kobus mich vorhin gefragt, als wir den letzten Patienten behandelten.
»Das wirst du mir sicherlich gleich erklären«, sagte ich.
Ich war erstaunt, wie fit ich nach der langen Reise war. Erst der KLM-Flug von Frankfurt nach Addis Abeba, dann der steinzeitliche und chaotische Flughafen, der überfüllte Bus, Warten auf einem trockenen Seitenstreifen und anschließend die Fahrt mit Danachew im Landrover der Missionsstation. Kobus Weisman, mein uralter Narkosearzt, hat sich in meiner Abwesenheit offensichtlich zu Tode gelangweilt.
»Schläft die Patientin, Kobus? Ist sie bereit?«
»Ich glaub schon. Fang an.«
Das Mädchen war höchstens fünfzehn, jemand hatte sie vor Tagesanbruch vor der Pforte des Missionshospitals abgelegt. Die Hunde hatten sie gefunden, aber in Ruhe gelassen. Sie war dünn wie eine Gerte. Wer keine Kinder gebar, bekam kein Essen. Ich pumpte die Pritsche mit dem Fußpedal hoch, bis ihr Unterleib in Augenhöhe war und ich unter die Stoffschichten sehen konnte. Der Damm zwischen Scheide und Enddarm war gerissen. Mir brach der Schweiß aus. Ich war zurück. Schwester Rainer tupfte mir die Stirn mit einem alkoholgetränkten Tuch ab, nahm frische Servietten, ordnete die Instrumente auf dem Tisch. Tupfte. Die Beckenknochen des Mädchens ragten wie kantige Felsen unter der dünnen Haut hervor. Äthiopierinnen sind schlanke, aristokratische und schmalhüftige Frauen – zu zierlich gebaut, um im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren Kinder zu kriegen. Manche Mädchen kommen mit einem aus dem Schoß heraushängenden Bein und einem toten Säugling im Bauch in der Missionsstation an. Oder sie hocken drei Tage mit Wehen in einer Erdhütte in den Bergen, mit einem salbadernden, zahnlosen Priester an ihrer Seite. Entweder stirbt das Kind oder das Mädchen, wenn nicht beide, oder die Mutter wird bei der Geburt völlig auseinandergerissen.
Rainer hielt das Spekulum, und ich konnte den Enddarm des Mädchens mit zwei Reihen feiner Vicrylknoten schließen.
»Wie weit bist du?«
Kobus’ Gesicht tauchte über dem Narkosebügel auf. Er trug mal wieder keinen Mundschutz und atmete mir seine Fahne ins Gesicht.
»Gleich fertig«, sagte ich.
»Heute Nacht gab’s Mörserfeuer«, sagte er. »Gut, dass du wieder da bist.«
»Im Westen?«
»Nordwesten.«
»Wie weit entfernt, Kobus, verdammt noch mal?«
»Äh …« Die Plastikflasche klickte gegen seine Zähne. »Irgendwo hinter den Bergen. 80-mm-Mörsergranate.«
»Na großartig«, sagte ich.
»Tja. Hast du Frank Linden getroffen?«
»Ja.«
Sein Blick glitt skeptisch über mein Gesicht.
»Hast du ihm … von … von dem Wunder erzählt?«
»Hab ich. Er will auf der Stelle eine Patiententestreihe anleiern. Sehr vielversprechend, muss ich sagen. «
Die Journalistin, die während meines Aufenthaltes in Dänemark hier eingetroffen ist, hat direkt neben mir ein paar Aufnahmen mit einer alten Leica gemacht. Schwarz-weiß. Feinkörnig. Künstlerisch. Sie heißt Sara, wenn ich es richtig mitbekommen habe. Eine freie Journalistin, die etwas über die Missionsstation schreiben will. Sie trug eine Operationshaube und Mundschutz und hat mich angesprochen, als ich mir im Waschbecken im Vorraum die Hände wusch. Ich habe ihr nicht zugehört. Kriegstouristen nerven mich, auch die mit Presseausweis. Ihr Auftraggeber will der Welt den vierzig Jahre alten Bürgerkrieg und mein Bilharziose-Projekt ins Gedächtnis rufen, während ich froh bin, unbehelligt an diesem gottverlassenen Ort zu sein.
Ich bin dann in den Operationsraum gegangen, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Äthiopien ist ein Land ohne Schatten. Extrem hell und heiß. Die flachen Berge sind graubraun und kahl. Um die Mittagszeit nagelt die Sonne einem die Füße an die Erde, dass man kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen kann, der Speichel wird weiß und zähflüssig, und es schmerzt in den Augen, die blendend weißen Missionsgebäude anzusehen.
Mein altes Rote-Kreuz-Zelt riecht stockfleckig wie eh und je. Ich habe den Feldtisch aufgeklappt, Sand auf die Platte gestreut und mit der Niederschrift des Operationsprotokolls begonnen, obgleich niemand es lesen wird.
Im lokalen Dialekt bedeutet Adigrat »auf der anderen Seite«, wobei ich nie herausgefunden habe, auf der anderen Seite von was. Vielleicht Rift Valley. Einem ausgetrockneten Fluss. Einem unter Sand begrabenen Dorf. Irgendetwas Altem, Großen, Vergessenen .
Durch die Öffnung des Zeltes habe ich gesehen, wie Schwester Rainer das schlafende Mädchen aus dem weißen Faltcontainer getragen hat, der unser Operationssaal ist. Auf den Metallwänden prangt Linden Pharmas ökologisch grünes Logo, entworfen von Frank Lindens Frau Anna.
Rainer hat das Mädchen behutsam auf einer mit Fahrradreifen versehenen Pritsche abgelegt. Es konnte froh sein über jede Minute, die es noch bewusstlos war.
Als ich Schwester Rainer vor ein paar Jahren nach einem Erdbeben in Pakistan bei Ärzte ohne Grenzen kennenlernte, war sie ein deprimierter Mann. Jetzt ist er eine breitschultrige Frau mit langen Locken und hübschen Brüsten. Die Journalistin hat Rainer geholfen, die Pritsche über den Platz zu schieben.
Dann hat das Missionsgebäude Tragbahre, Schwester Rainer und die dänische Journalistin mit den schwarzen Haaren, die aussieht, als würde sie überall zurechtkommen, verschluckt. Die Gebäude stehen zwischen den einzigen Bäumen in einem Umkreis von zweihundert Kilometern. Wir haben einen Brunnen, einen Kräutergarten, ein paar Hirsefelder, und der Fluss ist nicht weit entfernt. Der Fluss ist der eigentliche Grund meiner Rückkehr. Ich bin so gut wie fertig mit der klinischen Studie eines neuen Präparates gegen Bilharziose, einer wichtigen, von Linden Pharma vorangetriebenen Feldstudie. Der breite Fluss schiebt sich träge durch unser Tal und bietet optimale Bedingungen für den Parasiten Schistosoma haematobium und seinen Zwischenwirt, eine Süßwasserschnecke, die sich durch die Fußsohlen ihrer Opfer bohrt und den Parasiten weitergibt, der für die meisten Todesfälle in der Gegend verantwortlich ist – neben den Milizen und Landminen. Linden Pharma und die Jesuiten haben einen Vertrag geschlossen über eine Testreihe mit dem neuen Mittel gegen den Pärchenegel. Die Firma bezahlt seit zwei Jahren alle Rechnungen der Missionsstation.
Ich bin der Arzt, der entscheidet zwischen dem neuen Medikament Rivaquantel und dem alten, zunehmend wirkungslosen Praziquantel, gegen das die Egel inzwischen resistent sind.
Ich sah Gabra und ihren Sohn Iskander langsam auf das Zelt zukommen und lud sie mit einem angedeuteten Lächeln ein hereinzukommen. Iskanders rechtes Bein wurde unter dem Knie von einer Landmine zerfetzt, als er zwei Jahre alt war. Jetzt ist er vier und wohlgenährt wie ein Seehund. Seine Mutter ist einundzwanzig und Witwe. Ich maß seine Beinlänge und verlängerte die Unterschenkelprothese um ein paar Millimeter. Dann untersuchte ich die Haut über dem Kniestumpf.
»Du wächst schneller als Gras, Iskander«, sagte ich in meinem rudimentären, aber einigermaßen verständlichen Amharisch. Der Junge grinste. Seine Mutter sagte nichts und musterte mich verlegen mit funkelnden tiefschwarzen Augen. Vollendetes Profil. Weiße Zähne. Ich habe ihr lieber nicht direkt in die Augen gesehen. Wenn ich es getan hätte, würde sie heute Nacht an meinem Zeltstoff kratzen. Sie will unbedingt weg von hier – wie alle anderen. Und sie spricht perfekt Englisch: Mister William Trefords Internatsschule. Ein greiser, malariagelber Gentleman und Gelehrter aus Sussex, der mitten im Nichts fünfzig Jahre lang unter dem Schutz des Bezirksgouverneurs ein Internat geführt hat. Gabra war eine seiner Lieblingsschülerinnen. Er hat ihre Hoffnung genährt, dass sie Adigrats Schwerkraft überwinden und entkommen würde.
Dann wurde sie schwanger, und ihr Traum starb.
Meine Achseln sind schweißnass und wund, und in wenigen Wochen werden meine neuen Hemden zerlöchert und verschlissen sein.
Die Bauern sind dabei, hinter den Missionsgebäuden im Licht zischender Petromaxlampen Bambusgerüste zu errichten. Die Dorfbewohner haben die Mörser offenbar auch gehört. Sie werden die Gerüste mit Gras abdecken, damit die Verwundeten und Sterbenden wenigstens im Schatten liegen.
Und sie werden ein neues Gemeinschaftsgrab hinter der Kirche ausheben, an dem der Pfarrer der Gemeinde mit seiner merkwürdigen, koptischen Kopfbedeckung leise flüsternd und mit geschlossenen Augen die Beerdigungszeremonie vollziehen wird, während ein Junge die schwere, silberbeschlagene Bibel aufgeschlagen vor ihn hält.