Michael riss den Polsterumschlag auf und stieß einen Pfiff aus, als er die flachen Geldbündel von 200- und 1000-Franken-Scheinen darin sah. Er zählte langsam nach. Hielt sich ein Bündel unter die Nase und sog den Duft nach frischer Druckfarbe ein. Das waren einhundertfünfzigtausend Schweizer Franken, ein Vermögen. Auf dem oberen Scheinbündel klebte ein gelber Post-it-Zettel mit einer handschriftlichen Notiz:
TS 29-08-2018; YOUTUBE 00.05 AM: Adigrat2012.
Er legte das Geld beiseite und dachte nach. Das Geld war offenbar für TS bestimmt – Thomas Schmidt. Übermorgen, fünf Minuten nach Mitternacht, würden in einem YouTube-Video mit dem Namen Adigrat2012 die Instruktionen zur Übergabe erteilt werden.
Thomas Schmidts Missionsstation in Äthiopien hatte in der Nähe des Ortes Adigrat gelegen. Eine interessante Methode, fand Michael. Anonym und flexibel, was die Anweisungen betraf.
Er nahm sich das Tagebuch noch einmal vor und las ein paar Zeilen. Der Text erschien ihm glaubwürdig. Er war selber lange genug am Horn von Afrika gewesen, hatte seinen Schweiß geschmeckt und den Staub, der alles durchdrang und bedeckte. Vor seinem inneren Auge sah er die unfruchtbaren, niedrigen Berge am Horizont vor sich, und er spürte die lähmende Hitze der Sonne.
Er las den Abschnitt noch einmal durch, in dem die Journalistin aus Dänemark beschrieben wurde. Irgendetwas war unstimmig. Kein Medienprofi benutzte heutzutage im Feld eine analoge Leica-Kamera. Speicherkarten waren so viel einfacher und sicherer, auch in der anschließenden Übermittlung der Bilder über Satellitentelefon, gerade von so abgelegenen Orten in der Wüste.
Michael investierte jeden Monat ein kleines Vermögen in unterschiedliche Suchdienste, unter anderem in das allumfassende Infomedia . Er loggte sich ein und gab ADIGRAT – ETHIOPIA – SARA – 2012 – BILHARZIOSE PROJECT – THOMAS SCHMIDT – LINDEN PHARMA ein.
Danach lehnte er sich zurück und wartete gespannt, was sich auf dem Bildschirm tat.
Es tat sich nichts.
Was gelinde gesagt sonderbar war.
Das Projekt hätte zumindest im Wirtschaftsteil der einen oder anderen Zeitung erwähnt sein müssen. Immerhin rangierten Linden-Pharma-Aktien unter den hundert meistgehandelten der Welt, und die Aktivitäten des Unternehmens wurden von allen möglichen Finanzhäusern, Börsenanalytikern, Banken und Finanzschreibern unter die Lupe genommen.
Eine dänische Journalistin, die über eine katholische Missionsstation in Äthiopien berichtete, wurde ebenfalls an keiner Stelle erwähnt.
Er durchstöberte Patentanträge für ein Medikament namens Rivaquantel .
Nada, niente, nothing – nichts.
Michaels professionelle Instinkte begannen sich zu regen und Alarm zu schlagen. Das sah nach einer systematischen Löschung aus dem kollektiven Bewusstsein der modernen Welt, dem Internet, aus. Eine komplette Verdunkelung der Aktivitäten in Äthiopien und der daraus resultierenden Folgen. Das schaffte kein Individuum. Dazu brauchte es eine staatliche Behörde oder die IT-Ressourcen eines großen Unternehmens.
Frustriert ließ er die Knöchel knacken und öffnete PubMed , eine vollständige Auflistung aller medizinischen Artikel, die seit Ende des vorigen Jahrhunderts in einer ernst zu nehmenden Zeitschrift publiziert worden waren. Und dort fand er tatsächlich eine Handvoll Beiträge von Thomas Schmidt als Haupt- oder Co-Autor. Die Texte behandelten unterschiedliche Aspekte der chirurgischen Behandlung von Trauma-Patienten aus verschiedenen Abteilungen von Universitätskliniken, in denen Thomas Schmidt im Laufe seiner Fachausbildung gearbeitet hatte. Auf Google fand Michael ein paar wenige Fotos von einem schlanken, gut aussehenden, dunkelhaarigen Mann. Das erste zeigte Thomas Schmidt 2010 in Afghanistan in einer Station von Ärzte ohne Grenzen zusammen mit anderen westlichen Ärzten und Krankenpflegern. Er trug die traditionelle runde, afghanische Wollkappe, den Pakol, einen langen, dunklen Vollbart und lächelte zurückhaltend.
Soweit Michael sich erinnerte, hatte er in einer Kiste auf dem Dachboden auch noch einen Pakol liegen, vermutlich längst von Motten zerfressen. Er war nicht mehr in Afghanistan gewesen seit … mein Gott, seit der Operation An aconda mit Vincent Armitage Blythe. Verdammt, war das haarscharf gewesen! Sein privater Schutzengel hatte nach der Tour wahrscheinlich ein halbes Jahr Reha-Urlaub bei Petrus beantragt. Mindestens.
Das nächste Foto war ein Jahr später bei einem Kongress in Kairo aufgenommen worden. Der Bart war weg und das Haar geschnitten. Thomas Schmidt stand auf einem Podium vor einer PowerPoint-Präsentation und sah wie jeder beliebige Arzt im Anzug aus.
Das war’s.
Thomas Schmidt schien etwas gegen soziale Medien zu haben. Kein altes Profil bei Facebook, LinkedIn, Myspace. Nichts.
Er schlug das Tagebuch auf, um weiterzulesen, als er Lenes Auto in der Einfahrt hörte. Skipper kläffte laut zur Begrüßung.
Sie saß in der Küche, als er die Treppe hochkam. Ihre Hände lagen mit der Handfläche nach oben auf dem Esstisch. Sie starrte geistesabwesend vor sich hin.
Lene versuchte es mit der missglückten Imitation eines Lächelns und strich sich eine Locke aus der Stirn.
»Ich weiß, dass ich wie ausgekotzt aussehe, spar dir die Worte.«
Ein schwacher Duft nach Formaldehyd hing in der Luft.
»Obduktionen waren noch nie dein Ding, und das war wirklich ein verflucht langer Tag«, sagte Michael besänftigend. »Wein?«
»Whisky.«
Er schenkte ihnen großzügig von dem zwölf Jahre alten Ardbeg ein, einem der torfigsten und rauchigsten schottischen Whiskys, die er kannte. Er hörte fast die Schreie der Möwen, als er daran nippte und Lene beobachtete, während seine Gedanken weiter durch das nördliche Äthiopien streiften.
Lene leerte das halbe Glas in einem Zug, was Michael mehr als respektlos fand. Dann hustete sie, bis die Tränen rollten, und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Das hat gutgetan, danke. Schläft sie?«
»Wie ein Stein.«
Lene zündete sich eine von seinen Zigaretten an, stand auf und öffnete das Küchenfenster. Sie sah jetzt fast wieder lebendig aus.
»Und … gibt es was Neues? Über Simon, meine ich.«
»Keine Hinweise auf den Täter oder irgendwelche Spuren. Nichts. Wusstest du, dass er einen Vertrag mit dem Nemo Verlag als prozentual beteiligter Ghostwriter von Frank Linden hatte?«
»Nein.«
»Laut Vertrag sollte er als Autor anonym bleiben. Wahrscheinlich wollte Linden ihn dadurch schützen. Der Redakteur sagte, dass es so eine Art … Lebensgeständnis werden sollte. Sensationell. Eine Abrechnung. Die Aufdeckung finsterer Geheimnisse, wie er meinte, von der die Welt erfahren müsse. Frank Linden war besessen davon, das Projekt bis zuletzt geheim zu halten. Außerdem hatte er Krebs im Endstadium.«
Lene leerte ihr Glas.
Michael nickte.
»Nach meiner Erfahrung machen sich alle Topleute, wie zum Beispiel ein extrem erfolgreicher Unternehmer wie Frank Linden, auf ihrem Karriereweg eine Menge Feinde. Das ist kaum zu vermeiden. Und wenn sie dazu noch so wahnwitzig reich wie Linden sind, dann aus dem Grund, dass sie zu jeder Zeit in der Lage und bereit waren, das Nötige dafür zu tun, egal was es ist. Das muss nicht zwingend etwas Zwielichtiges oder Kriminelles sein, aber …«
»Das hilft mir im Augenblick nicht weiter.«
»Und was wirst du jetzt machen?«
Sie zog die Schultern hoch und hielt ihm ihr Glas hin. Perlen vor die Säue, dachte Michael. In ihrem Gemütszustand hätte sie sich wahrscheinlich auch mit Desinfektionsmittel zufriedengegeben.
Mit einem besorgten Blick auf den Pegelstand schenkte er nach.
»Weißt du übrigens, was?«, fragte sie.
»Bestimmt nicht.«
»Kennst du Flemming Brandt? Den Maler. Professor an der Kunstakademie. Die letzten dreißig Jahre Liebling des Parnass.«
»Ich hab von ihm gehört. Was ist mit ihm?«
»Er liegt auf einem Tisch in dem verfluchten Sektionssaal. Helle hat erzählt, er hätte sich erhängt. Offenbar ist herausgekommen, dass er im Nebenjob Produzent der abscheulichsten Kinderpornos war.«
»Und was sagen sie beim Staatlichen Kunstfonds dazu?«
»Ich gehe mal davon aus, dass eine Reihe Museen, Rathäuser, Schloss Frederiksborg und so weiter seine Bilder abhängen werden.«
Sie kicherte angeschickert und hielt Michael erneut ihr Glas hin, der demonstrativ den Korken auf die Flasche drückte .
»Du hast recht«, nuschelte sie. »Ich geh jetzt erst mal unter die Dusche. Dann verbrenne ich meine nach Formaldehyd stinkenden Klamotten, werfe eine Schlaftablette ein und werde hoffentlich vergessen, dass die Welt existiert.«
»Das hört sich nach einem guten Plan an«, sagte Michael.