Trotz der Schlaftablette bewegte Lene sich unruhig im Schlaf, sie wimmerte leise und zuckte wie ein Jagdhund, der Albträume hatte. Michael war kurz davor, aufzugeben und aufs Sofa im Wohnzimmer umzuziehen, aber ihm fehlte die Kraft. Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Die mitten in der Bewegung eingefrorene Motorradfahrerin in Ledermontur schob sich vor sein inneres Auge, die auf Simons Foto: wachsam, fokussiert, koordiniert. Er war sich ganz sicher, was sie war, hatte diesen Typus hundertfach in den Sondereinheiten, bei Söldnern und Operatoren eines halben Dutzends internationaler Sicherheitsfirmen gesehen.
Sie war irgendwo da draußen.
Er konnte sie spüren.
Zum exakt gleichen Zeitpunkt lag auch die Operatorin wach in ihrem Bett, die Katze neben sich. Auch sie betrachtete das Schattenspiel an der Zimmerdecke, und ihre Gedanken waren ähnlicher Natur wie die Michaels.
Michael Sander.
Sie hatte den ehrfürchtigen Unterton in der Stimme des Verbindungsoffiziers sehr wohl registriert. Er rief eine gewisse Unruhe in ihr wach, die sie aber ignorierte. Sie hatte so viele schwierige und anspruchsvolle Situationen überstanden, indem sie den Fokus und einen kalten Kopf bewahrte und immer in physischer Topform war. Der Hauptfeldwebel, der ihr als erster Frau der Special Forces das heiß begehrte grüne Barett überreicht hatte, hatte gesagt, sie könne einen Stein zerbeißen, wenn sie wollte, und dass er sie jederzeit im Kampf unterstützen würde.
Sie würde sich nicht einschüchtern lassen, und wenn dieser Sander Lord fucking Voldemort persönlich war. Natürlich blutete er wie jeder andere Mensch auch.
Sie schloss die Augen und drehte sich auf die Seite.
Dennoch – der Verbindungsoffizier hatte die Tür zu etwas Diffusem aufgestoßen, etwas Unheilverkündendem.
Er war irgendwo da draußen.
Sie konnte ihn spüren.
Trotz der leise nagenden Zweifel und der unterbewussten, unbestimmten Alarmsignale schien sie eingeschlafen zu sein, weil sie von dem Telefonklingeln mitten aus einem Traum gerissen wurde.
»Ja?«
Eingeschnappt wegen der Störung, sprang der Kater auf den Boden.
»Ich bin hier«, sagte der Verbindungsoffizier ohne Einleitung.
Sie setzte sich auf und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Nachtschrank.
»Hier? In Dänemark? «
»Ja, verdammt. In Ihrem kleinen, platten, extrem langweiligen und mittelmäßigen Land. Sehen Sie zu, dass Sie in die Gänge kommen. Ich brauche Sie.«
»Wozu? Ich bin sicher, dass ich die Informationen finde, die Linden dem Ghostwriter übergeben hat.«
Der Verbindungsoffizier klang nicht sehr überzeugt.
»Mag sein … Ich habe mir die Abschrift des Interviews mehrmals durchgelesen. Was den flüchtigen und tödlich irritierenden Thomas Schmidt betrifft, hat er natürlich von Frank Lindens Tod erfahren, es sei denn, er lebt auf einer Eisscholle vor Grönlands Ostküste. Daher hege ich die stille Hoffnung, dass er zum vereinbarten Termin auftaucht, um seine gierigen Klauen um Lindens großzügige Zuwendung zu legen. Ich habe mit unserem Klienten gesprochen. Die Anweisungen von dort sind eindeutig: Thomas Schmidt muss erneut verschwinden. Aber dieses Mal im wörtlichen Sinn. Verstehen Sie, was ich sage?«
»Natürlich, und ich werde eine Lösung finden. Wie immer.«
Der Verbindungsoffizier schien ein wenig besänftigt.
»Selbstverständlich tun Sie das. Aber in der Zwischenzeit brauche ich Sie für etwas anderes. An meiner Seite, sozusagen. Seien Sie spätestens um zehn Uhr hier. Im eleganten Sekretärinnen-Outfit.«
Nach weiteren Instruktionen zum Wie, Wo und Wann neigte sich das Gespräch dem Ende entgegen.
»Ich habe übrigens über diesen Michael Sander nachgedacht, Sir«, sagte sie.
Die Antwort war unmissverständlich und ungewöhnlich barsch .
»Versuchen Sie unter keinen Umständen, ihn zu identifizieren oder sich ihm auch nur zu nähern! Ist das klar?«
»Aber warum nicht? Ich verstehe nicht …«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Ich weiß, dass Sie Fußball lieben … Ihr Lionel-Messi-Trikot, Ihr Jahresabonnement für die Heimspiele des FC Barcelona in Camp Nou. Michael Sander hat einen Stammplatz in der ersten Mannschaft, okay? Und Sie wissen ja, dass man manchen Menschen nachsagt, sie hätten einen sechsten Sinn?«
»Sehr wohl.«
»Gut. Michael Sander hat einen sechsten, siebten und achten Sinn. Falls notwendig, ist es nicht Ihre Sache, sondern unsere hier in der Zentrale, uns eine Strategie für den Fall Sander zu überlegen und durchzuführen.«
Dann war die Leitung tot.