Es war, als hätte jemand ein schweres Goldfischglas über Lenes Kopf gestülpt und die Hälfte ihrer Hirnzellen abgeschaltet. Der Rest reichte gerade so fürs Autofahren. Lene wusste, dass das der chemische Kater nach der Schlaftablette war, der sich im Laufe des Nachmittags verziehen würde. Sie hatte einen bitter metallischen Geschmack auf der Zunge. Sie trank schwarzen Kaffee aus dem Thermobecher und rutschte nervös auf dem Sitz hin und her. Im Radio wurde auf allen Kanälen über Frank Lindens Ableben berichtet, sogar im schwedischen Rundfunk.
Die objektivste Betrachtung der Konsequenzen für Linden Pharma fand Lene auf Radio 24/7. Kronprinz – darüber waren sich alle Finanzexperten einig – war der zweiundfünfzigjährige Direktor von Linden Pharmas Entwicklungsabteilung, William Dupont, der als scharf, visionär, aufmerksam und zupackend charakterisiert wurde. Er besaß nicht Frank Lindens unmittelbares Charisma, würde aber einen sicheren und geeigneten CEO abgeben.
Zumindest auf kurze Sicht.
Alle rechneten damit, dass Dupont bei der außerordentlichen Hauptversammlung in einigen Tagen gekrönt würde. Und Lene ging davon aus, den Kronprinzen in dem Gutshaus im westlichen Jütland anzutreffen, wo er Anna Linden, der Vorsitzenden der mächtigen Linden Foundation, vermutlich energisch den Hof machen würde.
Bluetooth meldete sich mit Bjarnes speziellem Jingle. Bjarne, ihr unentbehrlicher, fettleibiger und schüchterner Assistent, der seit vielen Jahren ihr engster Mitarbeiter war. Nach zähen Vorpostengefechten hatten sie die Genehmigung erkämpft, ihr eigenes kleines Büro einzurichten. Am Ende hatte Charlotte Falster grünes Licht gegeben, aus dem einzigen Grund, weil die Aufklärungsrate des Duos bei fast hundert Prozent lag.
Bjarne war ein digitaler Leonardo da Vinci. Im privaten IT-Sektor hätte er sich eine goldene Nase verdienen können, wären da nicht seine Sozialphobie und die Tatsache, dass ihm Geld völlig egal war, solange er sich seinen Zitronentee, die Star-Wars-Figuren und seinen jährlichen Urlaub in Pattaya mit seinem Vetter leisten konnte.
»Ja?«, murmelte sie.
»Hm … äh … also …«
Er schwieg, und Lene beobachtete genervt im Rückspiegel den schwarzen Audi mit einem ganz besonders smarten Verkaufscheftypen, der sie seit einiger Zeit zu überholen versuchte. Warum nur waren die meisten Fahrer von schwarzen Audis solche nervigen Arschlöcher, die meinten, ihre Zeit wäre so viel kostbarer als von allen anderen? Musste man beim Händler einen Persönlichkeitstest machen, ehe man einen Audi kaufen durfte? Sie war kurz davor, das Blaulicht aufs Dach ihres soliden Avensis zu setzen, gab dann aber stattdessen Gas .
»Worum geht’s, Bjarne?«
Die Stimme des Assistenten war ein kaum hörbares Flüstern.
»Also, ich …«
Lene seufzte. Sie kannte die Symptome. Bjarne befand sich in einem Loyalitätskonflikt. In seinem Herzen war Lene Prinzessin Leia, aber Michael war Han Solo.
Sie versuchte, ihm über die Hemmschwelle zu helfen.
»Ist irgendwas mit Michael?«
Bjarne seufzte erleichtert.
»Ich bin gerade die Anrufliste der letzten Tage auf Simon Hallbergs Handy durchgegangen. Da taucht häufiger die Nummer eines Redakteurs vom Nemo Verlag auf, ein paar Mal Frank Lindens Privatnummer … und …«
Lene stöhnte.
»Und was, Bjarne? Schalte bitte in den zweiten Gang, okay? Oder ich stopf deine Modellflieger aus dem Ersten Weltkrieg in die Tonne. Die nehmen ehrlich gesagt eh viel zu viel Platz ein.«
Die Drohung half.
»Also, er hat gestern drei SMS an Michael geschickt. Zwei um halb neun am Morgen und eine zwanzig Minuten vor dem ermittelten Todeszeitpunkt. Dazu zwei MMS mit Bildmaterial.«
Der Audi hinter ihr setzte erneut zum Überholen an. Über einen doppelt durchgezogenen Mittelstreifen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 120 km/h bei einer zugelassenen Geschwindigkeit von maximal 80 km/h.
Mit verkniffenem Gesicht scherte Lene ein Stück nach links aus, was den Audifahrer zu einer Vollbremsung zwang. Der Wagen schlingerte besorgniserregend, bevor er ein Stück weiter auf einem Acker zum Stehen kam.
Lene lächelte zufrieden.
»Arschloch!«
»Was?«
»Nicht du, verdammt. Ein Arschloch, das versucht hat zu überholen. Simon Hallberg hat gestern Michael angerufen? Meinen Michael?«
»Gesimst. Ich gehe davon aus, dass er dir nichts davon gesagt hat?«
Sie schüttelte verbittert den Kopf.
»Natürlich hat er das nicht. Dieser hinterhältige, falsche Drecksack! Verdammt, wie konnte ich nur so dumm sein! Ich hatte schon das Gefühl, dass irgendwas nicht koscher ist, als ich ihm von Simon erzählt habe. Immerhin war er einer seiner besten Freunde, und er hat reagiert, als hätte ich ihm gesagt, dass wir fünfhundert Kronen Steuer nachzahlen müssen. Gott im Himmel … man sollte ihn echt für einen Oscar vorschlagen.«
Lenes Knöchel am Lenkrad leuchteten weiß.
Bjarne kommentierte ihren Ausbruch nicht weiter. Michaels und ihre Ehe war schon immer von vulkanischer Aktivität geprägt gewesen, das war ein offenes Geheimnis.
»Bjarne, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Klar.«
»Könntest du rauskriegen, wo Michaels Mobiltelefon sich gestern befunden hat?«
Skeptische Stille.
»Warum fragst du ihn nicht einfach selbst?«
Lene konnte förmlich spüren, wie Bjarne sich wand .
Lene wollte sich eine Zigarette anzünden, aber das Feuerzeug fiel ihr in den Fußraum. Sie pulverisierte die Zigarette und stellte sich vor, dass es Michaels Gesicht wäre.
»Hör zu, Bjarne: Du warst nie verheiratet. Aber ich. Zwei Mal. Und eine Ehe ist ganz und gar anders, als du es dir vorstellst. Man kann niemandem trauen, zuallerletzt dem Partner, mit dem man verheiratet ist. Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Und was ist dann der Witz daran?«
»Es gibt keinen Witz! Die Ehe ist eine gesellschaftliche Illusion. Ein Kaninchen im Zylinder … ohne Kaninchen … und Zylinder. Wir glauben, dass wir uns nur zu arrangieren brauchen. Wie bei Facebook. Völlig sinnlos, das Ganze, aber wir befürchten, dass wir ohne irgendwas verpassen könnten. Und es ist auch kein Heilmittel gegen irgendetwas, am wenigsten gegen Einsamkeit.«
Lene hörte geradezu die Zahnräder in Bjarnes Kopf rattern.
»Ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst … Oder nein, ehrlich gesagt tu ich das nicht, aber ich werde schauen, was ich rausfinden kann.«
Der Verrat ging weiter. Endlos.
Sie hatte gerade das Feuerzeug aus dem Fußraum geangelt und zündete sich eine neue Zigarette an, als der Mercedeshändler anrief. Da Michael offiziell nicht existierte, lief der hoch besteuerte Mercedes auf ihren Namen. Jetzt wollte der Händler von ihr wissen, ob sie einen neuen Termin ausmachen sollten, da ihr Mann zu der vereinbarten Zeit nicht erschienen war.
Als Nächstes rief die Kindergartenleiterin an, die ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck brachte, dass kein Elternteil von Maria es für nötig befunden hatte, bei dem Elterngespräch aufzutauchen – geschweige denn, abzusagen.
Lene stammelte vor Wut zitternd ein paar lahme Entschuldigungen. Ihre Unterlippe war blutig gebissen. Und zum wiederholten Mal wunderte sie sich darüber, dass ihre Intuition sie gestern, als sie mit Michael in der Küche gesessen hatte, so maßlos im Stich gelassen hatte. Die war ansonsten ihre absolute Stärke, wie ein zuverlässig präzises Instrument der NASA: unfehlbar.