Ein schmaler Schotterweg führte an den hohen, weißen Mauern des Gutshauses entlang. Die Straße vor dem Anwesen war von den üblichen Fahrzeugen der Journalisten und Fotografen blockiert und den langen deutschen Luxuslimousinen der Mitglieder der oberen Hierarchieebene von Linden Pharma. Die Presseleute standen an ihre Kühlerhauben gelehnt in der brütenden Sonne, rauchten Zigaretten, tranken Wasser und Kaffee und warfen sehnsüchtige Blicke zu den glänzend schwarzen Ziegeldächern hinter der Mauer und den hohen Föhren, die sich vom Westwind drangsaliert gen Osten neigten.
Lene parkte ihren schmuddeligen, aber treuen Toyota hundert Meter von dem schmiedeeisernen Doppeltor entfernt.
Einige der Journalisten erkannten sie und winkten ihr zu. Lene ignorierte sie und lief zielstrebig und mit gesenktem Blick an ihnen vorbei.
Sie wurde von zwei elegant gekleideten Herren mit Sonnenbrille, Headset im linken Ohr und weißen Spiralkabeln, die unter dem Jackenkragen verschwanden, in Empfang genommen. Lene zeigte ihren Dienstausweis, der genau begutachtet wurde. Schließlich öffnete der jüngere der beiden Männer eine Tür.
»Anna Linden? «
Der ältere der beiden Sicherheitsmänner sah sie an.
»Halten Sie nach dem teuersten Kostüm Ausschau, dann können Sie sie nicht verfehlen, Kriminalhauptkommissarin.«
Eine gewisse Härte in der höflichen Stimme und präzise, abgehackte Konsonanten. Lene registrierte eine blasse Narbe, die sich über seine Stirn zog.
Exsoldat, dachte sie. Der gleiche Tonfall wie bei Michael.
Kompetenz, absolute Treue und Resultate. Das war das Einzige, was zählte. Alles andere war überflüssiges Gerede.
Beim Gedanken an den Erzverräter Michael begannen ihre Hände zu zittern.
»Danke.«
Die Rasenfläche sah aus wie in einem königlich schottischen Golfclub. Riesige Rosensträucher mit Blüten in allen Farben des Regenbogens. Weiße Kieswege schlängelten sich durch den Garten. Dazwischen Buchsbaumskulpturen und meditierende Marmorfiguren, schattige Laubdächer und plätschernde Fontänen.
Der Himmel war klar, und sie hörte die Brandung hinter dem schmalen Föhrenwäldchen, das vom Zivilisierungswahn des Gärtners verschont geblieben war.
Als der geborene Jäger, der er war, hatte Thomas Schmidt das perfekte Versteck für sich und den Jungen gefunden. Im Schutz der Föhrenzweige hatten sie freien Blick auf Vedersølund. Durch das Fernglas sah er eine schlanke Frau zielstrebig auf die Terrasse zuschreiten. Sie sah komplett anders aus als die um Anna Lindens Gunst buhlenden Direktoren in ihren schwarzen Anzügen: graues T-Shirt, verschlissene kurze Lederjacke, Jeans und blaue Tennisschuhe. Das rote Haar leuchtete in der Sonne. Bei jedem zweiten Schritt erhaschte er einen Blick auf das Pistolenhalfter über ihrer linken Hüfte.
Die Reichspolizei ist also auch schon da, dachte er.
Iskander und er hatten ihren Unterschlupf hinter der schützenden, grünen Wand vor dem Morgengrauen bezogen. Sie hatten Thomas’ uralten, aber funktionierenden grünen Mercedes-Kastenwagen verlassen, waren an der Küste entlanggelaufen, die Dünen hochgeschlichen und hatten sich in dem komfortablen Nest eingerichtet. Anna Linden hatte er noch nicht gesehen, nur ihre Hofschranzen, alle möglichen anderen Trauernden und die Wachmänner.
Lene trat durch die Glastüren in den creme-, gold- und sandfarbenen Traum eines Wintergartens. House & Garden würde sich überschlagen. Überall frische Schnittblumen in hohen Vasen. In den tiefen Chintzsofas saßen Geschäftsmänner in dunklen Anzügen und schwarzen Lackschuhen, nippten lauwarmen Kaffee aus kostbaren Porzellantassen und unterhielten sich in feierlichem Flüsterton, als läge Frank Linden im Nachbarzimmer aufgebahrt.
Lene entdeckte ein älteres, weibliches Faktotum mit klaren Vogelaugen und einem zuvorkommenden Lächeln, auch sie in Schwarz gekleidet, mit weißem Spitzenkragen.
»Ich bin Beatrice. Ich wohne hier. Kaffee?«
Einige der Trauergäste musterten Lene angesichts ihrer legeren Aufmachung von Kopf bis Fuß mit abfällig heruntergezogenen Mundwinkeln.
Verdammt, dachte sie, von mindestens der Hälfte könnte ich die Mutter sein .
»Wo finde ich Anna Linden?«
»Ich hoffe, Sie haben eine Brechstange dabei, meine Gute. Das arme Ding wird belagert von allen möglichen … ja … Sie kommen aus ihren Löchern, jetzt, wo Frank tot ist. Die meisten habe ich noch nie gesehen.«
»Manager und Direktoren?«
»Ein Haufen Menschen mit Drei-Buchstaben-Abkürzungen ihrer Titel.«
Lene lächelte.
»Ich habe Pfefferspray im Auto, aber keine Brechstange. Lene Jensen mein Name, Reichspolizei. Ich habe gestern mit einer Sekretärin gesprochen …«
»Hier entlang, Frau Kriminalhauptkommissarin.«
Lene folgte der Hausdame eine elegant geschwungene Treppe hoch ins obere Stockwerk. An den pastellgrünen Wänden hingen Aquarelle: englische Jagdszenen, Pferde und Hunde. Vermutlich unschätzbar wertvoll. Mit jeder Stufe wurde das gedämpfte Murmeln lauter. In der Galerie standen weitere cremefarbene Sofas und antike Rosshaarstühle, auf denen noch mehr Männer in kostspieligen und maßgeschneiderten Anzügen saßen – ganz wie der Mann von der Security es gesagt hatte.
Lene fiel ein großer, distinguierter Mann um die sechzig auf, der die Aussicht von einem der hohen Fenster bewunderte. Er drehte sich exakt im richtigen Zeitpunkt um und musterte sie interessiert von ihren Turnschuhen bis zum Pferdeschwanz. Durch seinen gepflegten, weißen Vollbart zog sich senkrecht und exakt in der Mitte ein charakteristischer und außergewöhnlich schwarzer Streifen. Auf Lene machte die breitschultrige Gestalt in dem perfekt sitzenden, dunkelblauen Anzug einen maritimen, piratenmäßigen Eindruck. Kräftig, aber nicht dick.
Zwischen ihnen flackerte so etwas wie wortloses Erkennen auf, und sie hätte schwören können, dass er ihr mit einem seiner meergrauen Augen zublinzelte.
Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die schlanke Frau neben ihm gelenkt: in den Dreißigern, gut aussehend, wohlproportioniert und augenscheinlich in Topform. Sie trug einen dunklen Hosenanzug zu schwarzer, knabenhafter Frisur und war mit einem iPad und einem Headset ausgerüstet. Sie lächelte Lene und die Hausdame schüchtern mit ihren hübschen, lebendigen nussbraunen Augen an.
Der Mann flüsterte ihr etwas zu, das in blitzschnellen Anschlägen auf die Tastatur übertragen wurde.
Das Faktotum blieb vor einer weißen Tür in der Mitte der Galerie stehen und meldete Lenes Ankunft mit drei kurzen Klopfern.
Unheilbar unersättlich, wie er nun einmal war, hatte Blythe es nicht versäumt, der rothaarigen Frau, die eben auf der Galerie an ihm vorbeigegangen war, einen bewundernden Blick zuzuwerfen. In dem Augenblick vibrierte sein Handy. Er seufzte und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen auf das Display, riss die Augen auf und stellte fest, dass seine Finger zitterten.
Michael Sander.
Der Däne war der Letzte, mit dem er jetzt sprechen wollte.
Er wechselte einen Blick mit seiner persönlichen Assistentin, zog die Schultern hoch und hustete in seine geballte Hand .
»Ja?«
»Vince? Ich bin’s. Michael Sander.«
Blythe drehte sich von seiner Assistentin weg und schaute aus dem Fenster.
»Mike! Alter Freund, wie zum Teufel geht’s dir?«
Seine Assistentin wollte sich an ihm vorbeischieben und versuchte, seinen Blick einzufangen, aber er wedelte sie nur fort.
»Mike, du musst entschuldigen, aber ich bin komplett überrumpelt. Das ist Jahrhunderte her! Und das Beste: Wir leben beide noch, es sei denn, in der Hölle gibt es inzwischen Telefon. Wer hätte das gedacht?«
»Ich hoffe, ich störe nicht, Vince?«
Michael klingt so leidenschaftslos wie immer, stellte Vince fest. Ein Meister seines Fachs. Und was gab es Wichtigeres?
Das Faktotum war damit beschäftigt, Direktoren aus den privaten Gemächern der Witwe zu scheuchen, als wären sie verirrte Gockel. Linden Pharmas schlanker und braun gebrannter Kronprinz, William Dupont, betrat die Bühne – wie dem Cover eines Barbara-Cartland-Romans entsprungen.
Dupont instruierte einen seiner Lakaien und wechselte einen langen Blick mit Blythe. Die Tür schloss sich hinter der rothaarigen Frau mit der unaufgeregten Kleiderwahl, und die Hausdame baute sich mit kämpferisch vor der Brust verschränkten Armen davor auf.
Blythe konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.
»Überhaupt nicht, alter Junge«, sagte er. »Ich bin eine Woche zum Forellenangeln. Am River Tay. Der sauberste Fluss in ganz Schottland. Und der einzige Platz auf der Welt, wo die Schneider aus Savile Row ihren Kunden erlauben, mit ihren Anzügen baden zu gehen. Sitze gerade im The Dead Swan Pub bei einem vierzig Jahre alten Highland Park und denke mir neue Übertreibungen für den in Wahrheit recht erbärmlichen Tagesfang aus. Alte Freunde vom Rugby zum Abendessen. Keiner von uns sieht mehr sonderlich gut, und wir haben uns ohnehin nie über den Weg getraut.«
»Haben sie dich zwangspensioniert, Vince?«
Blythe lächelte säuerlich.
»Weißt du, du darfst nie … nicht eine Sekunde darfst du glauben, dass du unentbehrlich bist. Versprich mir das. Das ist keiner. Ebbe und Flut, die Bahn der Planeten, du weißt schon. Aber ganz weg vom Fenster bin ich noch nicht. Ich krieg immer noch eine Menge mit, was in den finstersten Winkeln dieses Jammertals passiert. Was kann ich also für dich tun? Ich gehe mal davon aus, dass du nicht aus nostalgischen Gründen in Erinnerung an alte Tage anrufst.«
»Wieso eigentlich nicht?«
»Na hör mal, du hast Small Talk schon immer gehasst. Warum sollte sich das geändert haben? Du warst immer eine Infrarot-Rakete und ein Einzelgänger. Genau so jemanden wollte die Firma haben, und deswegen haben sie dich eingestellt.«
Ein paar Sekunden war es still.
»Also gut«, sagte Michael. »Es geht um einen weiblichen Auftragskiller mit einer Vorliebe für schalldämpferausgerüstete Glocks 21 und BMW Offroad-Motorräder. Im Nebenjob beschäftigt sie sich als Brandstifterin. Ich schätze sie als äußerst fähig ein. Sie spricht Dänisch. Ist um die dreißig. Klein, dunkles Haar. War 2012 in Äthiopien. Klingelt es da an irgendeiner Stelle bei dir, Vincent? «
Blythe starrte rüber zu seiner Assistentin, die wenige Meter von ihm entfernt Sahne in eine Kaffeetasse goss. Nur ein paar Tropfen. Wie er es am liebsten mochte.
Er ließ einstudierte Skepsis in seine Stimme einfließen.
»Eine Dänisch sprechende Operatorin? Bist du si… Aber natürlich bist du das. Außer dir und Carl Hamilton kenne ich keine skandinavischen Sniper, die in maßgeblichen Zusammenhängen auftreten. Und streng genommen kann man Hamilton nicht mitzählen.«
»Sie ist dänisch-amerikanischer Herkunft. Nach meiner aktuellen Einschätzung. Aber hundertprozentig sicher bin ich nicht.«
»Das klingt schon wahrscheinlicher«, räumte Blythe ein. »Eine Killerin? Selten. Extrem. Militärischer Hintergrund?«
Die Assistentin sah ihn mit großen Augen an.
»Davon gehe ich aus. Ich habe den Typus auf einem Handyfoto wiedererkannt, das mir geschickt wurde. Aber ich kann das Gesicht nicht erkennen.«
»Hm, darf ich nach den genaueren Umständen fragen?«
»Natürlich darfst du, Vince.«
»Was ich hiermit unterlasse. Wo treibst du dich gerade rum?«
»In Dänemark. Ich schicke dir eine SMS mit meiner Nummer, falls du etwas hörst. Ich wäre dir sehr dankbar.«
»Frau in den Dreißigern. Kurzes, dunkles Haar. Spricht Dänisch. Ich werde mich umhören. Verlass dich drauf. Ist sie attraktiv?«
»Attraktiv genug, um Männer zu wahnsinnigen Handlungen zu treiben.«
Blythe lächelte vor sich hin. Eine Reihe haarsträubender Szenen spulte sich in seiner Erinnerung ab. Und in allen spielten hübsche, verhängnisvolle Frauen eine Rolle. Haarsträubend, wie gesagt, aber er würde alles wieder genauso machen!
»Das scheint unser Fluch zu sein. Wie auch immer, es war mir ein Vergnügen, mit dir zu reden, Michael. Ich werde es mir ansehen. Ciao. «
Er wollte das Gespräch gerade wegdrücken, als der Hauch einer fernen Erinnerung ihn zögern ließ.
»Mike?«
»Vince.«
»Du darfst nicht denken, dass ich jemals vergesse, dass du mir das Leben gerettet hast. An jenem Tag in Afghanistan … ich meine … fuck …«
»Ebenso. Wir schulden einander alles. Wir hören.«
Blythe schob das Handy in die Innentasche seiner Jacke. Seine Assistentin kam zu ihm und reichte ihm die Kaffeetasse. Er starrte in die braune Pupille der Tasse. Der Kaffee war nur noch lauwarm.
»Alles in Ordnung, Sir?«
»Bitte? Ähm, ja. Ein bemerkenswerter Mann. Wirklich bemerkenswert.«
»Michael Sander?«
»Ja. Er hat gefragt, ob ich Sie kenne.«
Ihr Gesicht war ausdruckslos, aber die Augen waren immer noch geweitet.
»Was haben Sie geantwortet?«
»Dass ich Sie ausfindig machen werde.«