Die Suite der frischgebackenen Witwe, zu der ein Schlafzimmer, eine begehbare Garderobe und ein Wohnzimmer gehörten, war in sanften, kühlen Farbnuancen gehalten, harmonisch wie eine klassische Klaviersonate. Vor dem Fenster lag ein tiefer Balkon, dahinter öffnete sich der Blick auf das dunkle Meer. Wellen brachen sich auf dem felsigen Küstenstreifen.
Anna Linden saß wie gestrandet in der Mitte eines Sofas, das viel zu groß für die zierliche Frau war. Blaue Stehkragenbluse, schwarze Hose und eine einfache weiße Perlenkette. Das graue Haar war in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Stirn war breit, die Augen klar. Unter Anna Lindens linkem Auge war ein wenig Mascara verlaufen, und sie drehte an ihrem Ehering, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ihn abnehmen sollte oder nicht. Das volle Gesicht war sonnengebräunt, um die Augen- und Mundpartie von feinen Lachfaltendeltas durchzogen.
Sie legte die Hand auf das Kissen neben sich und bedeutete Lene, sich zu ihr zu setzen. Lene stellte sich ihr vor, was die Witwe mit einem kurzen Nicken beantwortete. Dann massierte sie ihre Schläfen. Ihre Nägel waren praktisch kurz.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten … Tee? «
Anna Lindens Stimme war dunkel und voller offener, jütländischer Vokale.
»Nein, danke.«
Die Witwe sah zur Tür, hinter der das Gemurmel der Hofschranzen zu hören war.
»Sie hatten vermutlich noch keinen ruhigen Augenblick für sich«, sagte Lene.
Die Witwe lächelte über diese unverblümte Bemerkung.
»Nein. Ich fühle mich … schiffbrüchig. Er hätte nicht auf diese Weise gehen dürfen. Das werde ich ihm nie verzeihen können, dass er mich nicht geweckt und sich ordentlich verabschiedet hat. Wir waren einunddreißig Jahre verheiratet.«
Lene suchte nach einem sauberen Papiertaschentuch in ihrer Jackentasche. Sie hatte eigentlich immer welche für Situationen wie diese dabei, aber Anna Linden kam ihr zuvor und tupfte sich die Augenwinkel, ehe sie sich schnäuzte.
»Er ist also früh aufgebrochen?«
»Sehr früh. Da habe ich noch geschlafen, und ich werde normalerweise gegen sieben Uhr wach. Aber da war er schon weg. Ich habe ihn immer wieder zu erreichen versucht, aber er hatte sein Handy ausgeschaltet.« Aus ihren Augen blitzten Zorn und Verzweiflung.
Dann erhob sich die Witwe, ging zu einem antiken Sekretär und kam mit einem Papierbogen zurück zum Sofa. Handgeschöpftes, dickes Briefpapier, mit nur wenigen Zeilen beschrieben. Die Unterschrift war nahezu unleserlich, verwischt. Von Tränen, vielleicht. Seinen oder ihren ?
Und wer war dieser Thomas, der dort erwähnt wurde?
»Sie sind von der Polizei, sagen Sie? Warum sind Sie hier? Soweit ich es verstanden habe, hat Frank Selbstmord begangen.«
»Daran besteht kein Zweifel. Aber wir haben Grund anzunehmen, dass es nicht unabhängig von anderen Faktoren geschehen ist.«
Lene hätte sich in den Hintern treten können. Die Worte klangen so hohl und bürokratisch.
»Was für Faktoren?«
Ja, was wollte sie damit eigentlich sagen?
Lene schaute an Anna Linden vorbei auf das endlose, graue Meer. Die Wellen waren jetzt von weißer Gischt gekrönt.
»Haben Sie gewusst, dass Ihr Mann mit dem Nemo Verlag und einem Ghostwriter namens Simon Hallberg einen Vertrag für seine Autobiografie gemacht hat?«
Lene studierte aufmerksam das Gesicht der Witwe.
Diese Information wurde mit einem langen Schweigen quittiert.
Anna Linden schien aufrichtig erstaunt. Sie kniff die Augen zusammen und öffnete den Mund einen Spaltbreit.
Sie hob den Kopf.
»Frank? Eine Autobiografie? Das ist mir völlig neu, Lene. Es war doch Lene, oder? Sind Sie sicher?«
»Ja, in beiderlei Hinsicht.«
Anna Linden legte eine Hand auf Lenes Arm.
Dann stand sie auf und lief tief in Gedanken versunken durch das Wohnzimmer. Ihre rechte Hand spielte nervös mit der Perlenkette .
»Wenn Sie es sagen, wird es ja wohl stimmen. Aber das ist so ganz und gar untypisch für Frank. Unser Privatleben war ihm absolut heilig. Er war sehr reserviert, was das betraf. Es fällt mir aufrichtig schwer zu glauben, dass …«
»Ich habe gestern mit dem Redakteur vom Nemo Verlag gesprochen«, sagte Lene. »Das Projekt gibt es tatsächlich. Es liegt ein von allen drei Parteien unterschriebener Vertrag vor. Außerdem …«
Sie zögerte. Wenn ihre Chefin die nächsten Worte mitbekäme, würde sie sie auf der Stelle suspendieren und in Unehren entlassen.
»Simon Hallberg, der Ghostwriter Ihres Mannes, wurde wenige Kilometer vom Wagen Ihres Mannes gefunden. Aus nächster Nähe erschossen. Liquidiert.«
Die Witwe blieb wie angewurzelt stehen. Die Perlenkette war vergessen, und ihre Arme hingen untätig herunter. Gleich darauf legte sie die Hände vors Gesicht.
Lene war erleichtert. Keine noch so talentierte Schauspielerin hätte etwas Derartiges spielen können. Keine.
Anna Linden öffnete zerstreut die Balkontür. Der Raum war ihr offenbar zu eng geworden. Meeresluft strömte herein. Sie drehte sich zu Lene um. Der Wind drückte die Tür hinter ihr zu, aber sie nahm es nicht wahr.
»Das ist ja furchtbar! Der arme Mann. Und was genau war der Grund?«
»Das Motiv, meinen Sie?«
»Ja. Warum?«
»Das wissen wir noch nicht. Das ist mit einer der Gründe meines Besuches bei Ihnen. Ich hatte gehofft, dass Sie uns weiterhelfen können. «
»Hatte er Familie? Frau und Kinder?«
»Nein. Und was das Motiv betrifft, war mein erster Gedanke, dass Ihr Mann vermutlich extrem sensible Informationen für den Journalisten hatte. Es war vertraglich abgemacht, dass Frank Linden als Autor des Werkes auftrat. Später am Tag ist Hallbergs Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt, ganz offensichtlich in direktem Zusammenhang mit dem Mord. Am Tatort haben wir nichts gefunden. War Ihr Mann am gestrigen Abend irgendwie nervös … mit den Gedanken woanders … anders als sonst?«
Die Witwe lachte trocken.
»Wohl nicht mehr als jeder andere unheilbar Kranke.«
Lene nahm den Sarkasmus unkommentiert hin. Alle ihre Fragen waren unumgänglich und notwendig.
»Natürlich«, sagte sie beherrscht. »Aber um noch einmal auf mögliche Motive zurückzukommen …«
»Ja?«
»Wissen Sie etwas über eine mit Scham besetzte, verachtenswerte oder kriminelle Tat in der Vergangenheit Ihres Mannes, die er jetzt vielleicht öffentlich machen wollte? Ich meine, in Anbetracht seiner ernsthaften Erkrankung? Ein Geständnis, das irgendjemand um jeden Preis verhindern wollte?«
Anna Linden starrte auf den Abschiedsbrief auf dem Wohnzimmertisch und schien ernsthaft über die Frage nachzudenken. Ihre Finger waren wieder mit der Perlenkette beschäftigt.
»Hm … nein.« Die rastlosen Finger strichen übers Haar. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was das sein könnte. An dererseits bin ich gerade furchtbar erschöpft, und ja, ratlos, um ehrlich zu sein.«
Lenes Lügendetektor begann zu summen. Sie seufzte innerlich. Wenn die Leute doch bloß einsehen würden, dass die Wahrheit zu guter Letzt das Beste für sie war. Irgendwann würde sie sie ja doch herausbekommen. So wie im Fall von Michael.
»Wer ist dieser Thomas?«
Die Witwe wich ihrem Blick aus.
»Entschuldigung?«
Lene zeigte auf den Brief.
»Thomas. Die einzige Person, die Ihr Mann außer Ihnen in seinem kurzen Abschiedsbrief namentlich nennt.«
Die Witwe errötete.
»Ich würde Sie wirklich gerne bei Ihren Ermittlungen unterstützen, Lene, aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich habe hämmernde Kopfschmerzen, und alle … alle wollen etwas von mir.«
»Speziell William Dupont?«
»Ja!«
Die aufrichtige Antwort verdutzte vermutlich nicht zuletzt Anna Linden selbst.
»Er besonders!«
Lene lächelte.
»Sie sind nicht übermäßig glücklich mit William Duponts Wahl?«
Die Witwe wedelte die Frage weg wie eine lästige Fliege.
»Ich gehe davon aus, dass Sie sich in der Hochfinanz nicht auskennen, Lene. Das soll weiß Gott kein Vorwurf sein, ich kenne mich ja selbst kaum aus. Ich habe in einer Fischfabrik gearbeitet, als ich Frank kennengelernt habe, nie eine ordentliche Ausbildung gemacht. Bis jetzt habe ich das nicht gebraucht.«
Sie holte tief Luft, ehe sie fortfuhr.
»Linden Pharma hat hundertzwanzigtausend Angestellte auf der ganzen Welt. Das Unternehmen liegt auf Platz 15 im Forbes-Ranking. Bis gestern kannte der Aktienkurs nur eine Richtung: aufwärts und noch ein bisschen höher. Selbst die Rezession 2007 hat die Firma gut überstanden. Ich sitze im Vorstand des familieneigenen Fonds, aber meine persönliche Meinung, auch zum nächsten Verwaltungsdirektor, stelle ich zurück. Linden Pharma hat einen professionellen Vorstand, und ich muss mich auf dessen Entscheidungen verlassen. Mir gehört die Firma nicht. Genauso wenig wie Frank.«
»Sie können Dupont nicht leiden?«, hakte Lene noch einmal nach.
Anna Linden schüttelte den Kopf.
»Und Sie geben niemals auf, oder?«
Anna sah Lene an.
»Ich kann mich tatsächlich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal aufgegeben hätte. William hatte immer Franks grenzenloses Vertrauen. Er wurde sozusagen in die Firma hineingeboren, hat ganz unten angefangen. Heute ist er der Kronprinz. Aber jetzt müssen Sie mich wirklich entschuldigen. Darf ich Sie bitten, mich über den Mord an dem jungen Journalisten auf dem Laufenden zu halten?«
»Selbstverständlich.«
Das Faktotum Beatrice musterte Lene streng, als die wieder auf die Galerie kam, weshalb sie versuchte, möglichst neutral zu gucken. Dafür wechselte sie einen Blick mit dem verwegenen Hünen mit dem grauen Vollbart: verwandte Seelen. Das wussten sie beide. Seine bildhübsche, dunkelhaarige Assistentin schaute durch sie hindurch.
Lene ließ sich im Strom der Hofschranzen aus dem Haus treiben. Ihr fiel plötzlich ein, dass sie Anna Linden gegenüber nichts über Simon Hallbergs Alter gesagt hatte, die Witwe ihn aber als »jung« bezeichnet hatte.
Iskander seufzte und gähnte gelangweilt. Er trank einen Schluck Tee aus seiner Thermoskanne und kratzte sich über der Unterschenkelprothese.
Thomas Schmidt betrachtete seinen adoptierten Sohn, der glücklicherweise die unvergleichliche Geduld der Afrikaner in den Genen hatte. Thomas hob den Feldstecher vor die Augen: Die Anzüge strömten aus dem Haus. Autotüren schlugen vornehm gedämpft zu. Motoren sprangen an.