Es war still in dem großen, hellen Haus bis auf Iskanders quietschende Gummisohlen auf den Fliesen der Eingangshalle. Anna Linden und das Faktotum Beatrice standen regungslos am Fuß der eleganten Treppe. Iskander bekam große Augen beim Anblick all der Gemälde, Statuen und Vasen, die so groß waren wie er.
Thomas Schmidt konzentrierte sich auf Anna Lindens Gesicht und durchforstete es nach dem leisesten Anzeichen von Verrat.
Wenn das hier eine Falle war, konnten sie einpacken.
Schließlich wandte er sich doch der Hausdame zu.
»Beatrice … Haben Sie möglicherweise noch etwas anderes als Petit Fours und Canapés zu essen? Iskander stirbt vor Hunger.«
Das Stillleben löste sich auf.
»Iskander? Das ist ein hübscher Name. Was sagst du zu Hähnchensandwich und einer kalten Cola? Und wenn ich mich nicht irre, gibt es noch Eis im Gefrierschrank.«
Sie legte dem mageren Jungen den Arm um die Schulter und führte ihn in die Küche.
»Hört sich gut an«, antwortete Iskander höflich.
Thomas und Anna Linden folgten den beiden mit dem Blick .
Danach ließ es sich nicht weiter hinauszögern.
Die Witwe lächelte zurückhaltend.
»Willkommen, Thomas. Du bist dünn geworden, aber der Bart steht dir.«
»Sind alle Arschkriecher gegangen?«
Sie seufzte.
»Ja.«
»Beileidsbekundungen und Bitten um Unterschriften auf diversen Dokumenten, und dein Verständnis, dass sich das leider nicht aufschieben lässt?«
»Wollen wir nicht ins gelbe Zimmer gehen? Dort ist es um diese Tageszeit angenehm kühl.«
Seine Knie zitterten. Ihm war schlecht und schwindelig.
»Das ist der Raum mit der Hausbar, oder?«
Er erkannte seine Stimme kaum wieder.
»Dein Gedächtnis ist bewundernswert«, sagte sie leise.
Er sah sie an.
»Das ist es, in der Tat … bewundernswert.«
Er setzte sich auf eins der alles verschlingenden Sofas, während sie zur Bar eilte.
»Whisky für dich?«
»Mhm.«
»Eis?«
»Nein.«
»Ich glaube, ich nehme auch einen«, sagte sie.
Sie nahm einen Meter von ihm entfernt Platz.
»Skål.«
Sie genoss den puren Alkohol mit geschlossenen Augen. Ihre Wangen nahmen Farbe an, die Augen funkelten, als sie sie wieder öffnete .
»Ich liebe Whisky«, sagte sie.
Thomas leerte die Hälfte seines Drinks in einem Zug und spürte, wie sich die Wärme angenehm in ihm ausbreitete. Dann beugte er sich vor und betrachtete das komplizierte Muster in dem dicken Perserteppich unter seinen Füßen. Wie eine von den Phöniziern gezeichnete Karte vom Blauen und Weißen Nil.
»Was kann ich für dich tun, Thomas? Für dich und deine Familie? Jetzt, wo Frank …«
Thomas platzte innerlich.
»Sei so gut und sprich seinen verdammten Namen nicht aus, okay?«
Ihre Augen blitzten.
»Ich habe nicht vor, mich für ihn zu entschuldigen! Wir waren immerhin einunddreißig Jahre verheiratet. Wir können uns gerne die wildesten Beschimpfungen um die Ohren hauen … aber glaub mir: Ich beherrsche nach wie vor ein paar, die du noch nie gehört hast. Oder wir akzeptieren, dass die Dinge sind, wie sie sind, auch wenn wir uns beide wünschen, dass es anders wäre.«
Thomas fuhr sich langsam mit den Fingern durch das lange, verfilzte Haar und untersuchte seine Nägel, die mit schwarzen Halbmonden versehen waren. Es hatte auf der Strecke von Schonen Probleme mit dem Keilriemen gegeben. Früher hatte er immer gepredigt, dass das Wichtigste für einen Arzt saubere Hände seien. Nichts weckte so starkes Misstrauen bei den Patienten wie ein Arzt mit dreckigen Fingernägeln.
»Natürlich. Gut, verhalten wir uns zivilisiert. Reif … Da hat der alte Hurensohn sich also selbst erschossen? «
Annas Gesicht wurde so weiß wie die Alabastervasen in der Ecke des Raumes, wie die leichenweißen Lilien, wie Frank Lindens blasse Ahnen an den Wänden. Holländer, wie Thomas wusste. Frank hatte auf dem Weg an die Spitze ein »van« eingebüßt.
»Du hörst jetzt augenblicklich damit auf oder verlässt auf der Stelle mein Haus«, rief sie.
Er schickte ihr ein halbherziges Lächeln und hob ironisch das Glas.
»Bewahre … Sagen wir, dass er ein Heiliger war.«
»Du weißt, dass Frank mich im Hafen von Skagen kennengelernt hat? Ich war zwanzig, habe in der Fischfabrik gearbeitet und noch nie was von Aktien oder Insulin gehört. Und ich stank nach Fisch.«
»Frank hat mir erzählt, er hätte dich mit dem Rad stürzen sehen. Du hättest dermaßen über deinen elenden alten Drahtesel, dein Leben und dein Schicksal geflucht, dass ihm das Blut in den Adern gefroren wäre. Er hätte sich wie ein Ritter gefühlt, hat er gesagt, der einer schönen Jungfrau in Not hilft, und obwohl sie nach Fischinnereien stank, wäre er hoffnungslos verloren gewesen.«
»Hat er das wirklich gesagt?«
»Ja.«
Sie erlebten einen Augenblick der Harmonie in dem gelben Zimmer mit Meerblick – den Thomas schnell wieder torpedierte.
»Das war lange, bevor er so ein kaltes, raffgieriges Arschloch wurde wie alle anderen.«
Anna Linden ignorierte die Attacke und zeigte Thomas den Abschiedsbrief .
»Lies das.«
Sie schenkte Whisky nach, während er die wenigen Zeilen überflog.
»Er hat die Diagnose vor zwei Monaten bekommen«, sagte sie. »Der Krebs hatte schon gestreut und war operativ nicht mehr behandelbar. Sie haben es mit Chemo versucht, die nicht geholfen hat. Er war mindestens so besorgt um dich wie um seine Krankheit.«
Thomas legte den Brief weg.
»War er das?«
»Ja.«
»Was wollte er? Was hat er in seinem tiefsten Innern vom Leben gewollt, Anna?«
»Viel. Aber er war gezwungen, Prioritäten zu setzen. Sie haben ihm noch wenige Wochen gegeben. Sein größter Wunsch war, dass du ihm vergibst, außerdem wollte er dafür sorgen, dass ihr euch nicht länger verstecken müsst. Er wollte, dass alle erfahren, wie durch und durch verrottet die Pharmabranche ist.«
»Da kann man sich ja fast wünschen, dass er schon viel eher Krebs bekommen hätte«, murmelte Thomas gedankenlos. »Offenbar brauchte es das, damit er so etwas wie ein Gewissen entwickelt.«
Anna sprang blitzschnell auf und verpasste ihm eine harte, schallende Ohrfeige, die Thomas völlig unvorbereitet traf. Sein linkes Ohr begann zu pfeifen.
»Und wie läuft es mit dem Kickboxen?«, fragte er mit aufs Ohr gepresster Hand.
»Ich ertrag es einfach nicht, wie du über Frank sprichst. «
»Das sind nur Worte, Anna. Worte! Davon stirbt man nicht. Aber man stirbt, wenn man mit einer AK-47 beschossen wird! Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, wie viele Menschenleben Frank Linden und William Dupont auf dem Gewissen haben? Das waren verfluchte, von Satan ausgesandte Apostel, Anna! Sie haben in Adigrat mehr als zwanzig Menschen töten lassen. Zwanzig! Achtzehn von ihnen ältere Nonnen, die nie auch nur einer Fliege etwas zuleide getan haben und glaubten, in die Welt gesandt worden zu sein, um ihren Mitmenschen, dem Herrn und der Kirche zu dienen. Danach haben sie noch drei Leute in Addis Abeba umgebracht, unter anderem einen jungen Holländer, mit einer Frau und drei kleinen Kindern in Den Haag. Robbie Akerman. Also entschuldige, dass ich abfällig über ihn rede!«
Anna verbarg das Gesicht in den Händen.
Natürlich hat sie davon gewusst, dachte er.
Die Schatten wurden länger. Die Sprossenkreuze der Fenster kletterten langsam die schwedisch gelben Wände empor. Keiner von ihnen sagte etwas.
Thomas war wieder zurück in Adigrat. Bei Kobus, Danachew und Rainer. Er sah ihre verblassenden Silhouetten. Hörte das Echo ihrer Stimmen.
Dann stand er auf, trat an die Fenster und betrachtete das sonnenglitzernde Meer. Der starke Sturm war abgeebbt. Die Dünung rollte gleichmäßig über den feuchten, festen Strandstreifen. Es klang wie fernes, langsames Kriegstrommeln.
»Das habe ich nicht gewusst …«, sagte sie.
»Doch, hast du«, sagte er über die Schulter. »Vielleicht nicht alle Details. Aber natürlich hast du davon gewusst. Du bist eine kluge, alte Frau. «
Als er sich umdrehte, blickte sie ihn mit wildem Gesichtsausdruck und Tränenstreifen auf den Wangen an.
Etwas Warmes lief seinen Hals hinab, seine Fingerspitzen waren rot von Blut. In seinem Gehörgang war eine hitzig summende Biene eingesperrt.
»Du Miststück hast mein Trommelfell gesprengt«, murmelte er resigniert.
Sie stand auf und stellte sich neben ihn.
»Warum, Thomas?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weil sie es für notwendig befunden haben, nehme ich an. Hat er nie etwas über Äthiopien erzählt?«
»Nein. William Dupont … Ihm traue ich das Schlimmste zu … Aber Frank? Das passt nicht. Er war immer so fürsorglich, herzlich, der Beste.«
»Genf«, sagte Thomas. »Die fünf größten Insulin produzierenden Pharmaunternehmen der Welt schickten ihre Topmanager zu einem kurzfristig einberufenen Treffen nach Genf, nachdem ich die unverzeihliche Dummheit begangen hatte, deinen Mann über die Testergebnisse in Adigrat zu informieren.«
Sie senkte den Blick und versuchte, sich zu erinnern.
»Er war tatsächlich verändert, als er aus Genf zurückkam«, sagte sie. Ihr Blick wurde leer und richtete sich nach innen, als sie von den verdrängten Erinnerungen überrollt wurde. Anna griff nach Thomas’ Hand. Sie war schweren Entscheidungen noch nie aus dem Weg gegangen. Ihre Vorfahren hatten über tausend Jahre ihren Unterhalt in mehr oder weniger tauglichen Fischerbooten auf der verräterischen Nordsee verdient. Thomas zweifelte nicht daran, dass deren Zähigkeit in ihre DNA eingebrannt war.
»Also … warum?«, fragte sie noch einmal.
Thomas hatte Tausende schlaflose Nächte damit verbracht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und fühlte in diesem Moment noch nicht einmal mehr so etwas wie gerechtfertigte Verbitterung.
»Die Antwort auf deine Frage ist Rivaquantel und die Aussicht, einen Jahresumsatz von vierhundertundacht Milliarden Dollar zu verlieren«, sagte er. »Und Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Die Topmanager haben sich bestimmt ihre Köpfe zerbrochen, aber das Problem war ja ganz einfach zu lösen, insbesondere da es auf einen vergessenen Winkel in Äthiopien beschränkt war. Dementsprechend einleuchtend schien auch die Lösung: Alle, die etwas von dem Projekt wussten, mussten von der Erdoberfläche verschwinden. Vierhundertacht Milliarden Dollar sind eine Stange Geld.«