Michaels Büro
Er musste Pinkie Pixie
außerhalb des heiligen Zeitplanes kontaktieren, was gelinde gesagt problematisch war. Für Pinkie Pixie war Spontanität eine unverzeihliche Todsünde.
Michael loggte sich still fluchend in die verhasste Talented Pet Beach Show
ein. Sein Avatar, der debile Pudel, lag lässig hindrapiert auf einer Sonnenliege an Deck eines Kreuzfahrtschiffes und schlürfte Limonade durch einen weiß-rot gestreiften Strohhalm.
Es waren keine lila oder blauen Katzen zu sehen.
Skipper schnarchte friedlich zu seinen Füßen.
Es vergingen fünf Minuten ungeduldigen Wartens, bis die zwei Katzen lässig über das Deck angeschlendert kamen. Weiße Sprechblasen ploppten auf, die sich nach und nach füllten.
TRIXIE: Ich brauche eure Hilfe. Jetzt. Aber nicht in diesem verfluchten Spiel.
PINKIE PIXIE: Wir haben nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen, Trixie.
TRIXIE: Ich benötige vollen Zugang zu Aufnahmen von amerikanischen Satelliten und Drohnen über einem
bestimmten Bereich in Äthiopien am 5. und 6. April 2012. Ich weiß, dass dort welche unterwegs waren.
Die blaue Katze drehte den anderen den Rücken zu und stellte sich an die Reling. Die Sonne ging in einer Farbexplosion aus grellgelbem, rotem und orangem Technicolor unter, die Michael blendete. Die lila Katze setzte sich auf einen Liegestuhl neben dem Pudel. Ihr Gesichtsausdruck war – selbst wenn das vielleicht übertrieben scheint – unergründlich.
PINKIE PIXIE: Ist das alles? Du willst nicht wissen, wie weit Kim Jong-un mit Nordkoreas Atomwaffenprogramm ist oder die definitive Wahrheit über den Mord an John F. Kennedy?
Michael ließ sich nicht auf den sarkastischen Schlagabtausch ein.
TRIXIE: Nein. Können wir auf TOX gehen? Ich ertrage diese Scheißviecher nicht länger. Das ist debil, Pixie. Echt debil. Ich bitte dich!
Zwei geschlagene Minuten tat sich gar nichts. Die Tiere waren wie zu Salzsäulen erstarrt.
Dann endlich füllte sich die Sprechblase über Pinkie Pixie.
PINKIE PIXIE: Okay. Jetzt.
Michael loggte sich rasch bei TOX ein – der topverschlüsselten Alternative zu Skype für kurze Videokonferenzen –, bevor Pinkie Pixie es sich anders überlegte.
Michaels Bildschirm wurde schneeweiß. Dann grau. Dann schälten sich die schneebedeckten Gipfel des Himalajas heraus. Er erkannte sie wieder, weil er vor weniger als drei Jahren am Fuß des Berges gestanden hatte. Skeptisch
schaute er auf den Bildschirm, bis Pinkie Pixies Computerkamera sich scharf stellte und in der Halbtotale eine indische Familie auf einem knallroten, plastikbezogenen Sofa zeigte.
Die schroffen, zerklüfteten Bergzinnen erwiesen sich als ein Reiseposter an der weiß gekalkten Wand hinter dem Sofa.
Er hatte Pinkie Pixie noch nie in Fleisch und Blut gesehen und konnte gar nicht genau sagen, was er eigentlich erwartet hatte – jedenfalls nicht das hier: einen jungen, verlegen lächelnden Mann mit weißem Turban, gepflegtem Vollbart und langem, weißem Hemd; daneben eine rundliche und eulenhafte junge Frau mit dicken Brillengläsern, die ihr schwarzes Haar in der Mitte gescheitelt trug, und ein properer, etwa zwei Jahre alter Junge, der auf seinen Eltern herumkletterte.
Der Junge schob den Daumen in den Mund und sah Michael verdutzt an. Dann verzog er das Gesicht und fing an zu weinen. Seine Mutter drehte sein rundes Gesicht zu ihrem saribedeckten Busen.
Michaels Mund war trocken wie die Wüste von Namibia.
»Ihr drei seid also Pinkie Pixie?«
Der Mann lächelte breit, die Frau kicherte.
»Vorerst nur zwei von uns. Merkwürdig, Sie zu sehen, Michael.«
Das perfekte Englisch des jungen Mannes hatte einen schwachen amerikanischen Akzent.
»Sind Sie in Indien?«, fragte Michael, der noch immer mit der Erkenntnis kämpfte, dass die rätselhafte Pinkie Pixie in Wirklichkeit eine … Familie war
.
»Wir waren zusammen auf CALTECH«, klärte die Frau ihn auf. »Jetzt sind wir zurück in Mumbai, und hier werden wir bleiben.«
Der Junge heulte unverdrossen weiter, worauf die Frau sich erhob und Michael anlächelte.
»Entschuldigen Sie mich, Sammy hat Hunger. Es war mir ein Vergnügen, Sie endlich einmal kennenzulernen, Mr. Sander.«
»Ganz meinerseits, Mrs. Pinkie.«
Sie verschwand aus dem Bild.
»Sammy?«, fragte Michael.
»Benannt nach meinem Professor in binärer Codierung«, antwortete der junge Mann unbeeindruckt.
»Natürlich. Und wie soll ich Sie nennen? Immerhin kennen Sie meinen Namen.«
»Nennen Sie mich … Ismael.«
Michael nickte.
»Okay, Ismael. Erzählen Sie mir, warum wir das hier machen?«
Das Lächeln verschwand aus den Augen des Inders.
»Mein Bruder hatte eine Tochter. Das ist eine lange, traurige Geschichte, so viel kann ich Ihnen versichern. Sie hatte ein Schicksal … ja, wie all die Mädchen, die Sie zu sehen bekommen haben.«
Das glatte, junge Gesicht des Inders war versteinert.
»Was können wir als Gegenleistung für Sie tun?«, fragte er schließlich.
Mit wenigen, sorgfältig gewählten Worten erzählte Michael ihm von dem Massaker in Adigrat. Er gab ihm die Koordinaten und zeitlichen Daten und registrierte, dass der junge Mann keine Notizen machte
.
»Laut einem sehr zuverlässigen Augenzeugen haben zu genau diesem Zeitpunkt umfangreiche militärische Aktivitäten in der Provinz stattgefunden«, sagte Michael. »Es besteht daher Grund zur Annahme, dass die Amerikaner die Situation mit Satelliten und Drohnen aus Dschibuti aufgezeichnet haben. Und diese Aufnahmen müsste ich mir anschauen. Sie sind von größter Wichtigkeit für mich.«
Ismael dachte eine Weile mit fast wehmütigem Ausdruck über die Bitte nach. Dann rieb er sich skeptisch über den Bart.
»Lassen Sie mich ganz offen sprechen, mein Freund Michael. Das wird nicht leicht sein. Ihr Problem ist eins, das sich nicht in wenigen Minuten lösen lässt. Es ist von vielen Faktoren abhängig, Dingen, die alle irgendwie ineinander verzahnt sind. Wie die Zahnräder eines Uhrwerkes.«
»Aber es ist nicht unmöglich?«
Der Inder drückte die Unterlippe fest zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen.
»Das wird sich zeigen, nicht wahr? Es wird jedenfalls einiges an Überzeugungsgeschick diverser Personen in der Nahrungskette erfordern, um an die Aufnahmen aus Adigrat in Äthiopien am 5. und 6. April 2012 zu gelangen.«
Michael drückte seine Zigarette aus und zündete sich die nächste an.
»Ihr Leben ist dann vor denen nicht mehr sicher«, sagte Ismael.
»Das ist mir klar. Von welcher Art Überzeugungsgeschick reden wir?«
Ismael zeigte ihm seine zarten, rosa Handflächen.
»Meine Frau und ich sind im Grunde genommen äußerst unbedeutende Betriebsangehörige der indischen Abteilung
eines amerikanischen IT-Unternehmens. Ich will keine Namen nennen, aber Sie kennen es und benutzen die Software tagtäglich. Wir alle. Vergessen Sie Silicon Valley oder Seattle. Mumbai ist heute die Welt-IT-Hauptstadt. Darum …«
»Darum was?«
Ismael lächelte verlegen.
»Es hat nichts mit Voodoo oder Magie zu tun, was Mrs. Ismael und ich tun. Wir arbeiten uns durch die Hierarchie der betreffenden Organisation und hoffen, am Ende irgendwann den Krug mit Gold zu finden.«
»Wie muss ich mir das in der Praxis vorstellen, Ismael?«
»Wir sind alle Sünder, mein Freund Michael, seit Anbeginn der Zeit. Mit dem Unterschied, dass unsere Sünden heute Spuren im Cyberspace hinterlassen. Unsere Browserchronik, zum Beispiel. Meine Frau und ich verschaffen uns Zugang zu diesen Chroniken. Wer betrügt wen mit wem? Wer verfolgt ungesunde Interessen, wenn er mitten in der Nacht alleine vor seinem Computer sitzt, sobald Frau und Kinder schlafen? Wer abonniert Victoria Milan, welche Hotels besucht jemand, mit wem und wann? Bestellen Sie hinterher Champagner und Austern? Was schreiben Sie sich über Messenger?«
»Ah, verstehe«, sagte Michael. »Erpressung.«
Der Inder errötete, fuhr aber im gleichen leidenschaftslosen Tonfall fort.
»Wir ziehen die Bezeichnung Überzeugung vor.«
Ismaels Augen wurden schmal, er legte die Hände in den Schoß. Es sah aus, als ob er betete.
»Wenn wir die Drohnenaufzeichnungen für Sie beschaffen – mit ausdrücklicher Betonung auf dem Wenn
–, würde
ich mit der Suche nach Namen verschiedener Drohnen-Piloten der US Air Force beginnen. Danach würde ich nach Angestellten der niedrigeren Chargen bei der CIA suchen und beten, dass sie nicht allesamt Musterschüler sind. Aber das ist kaum zu befürchten. Das wäre was ganz Neues. Als nächsten Schritt hacken wir ihre Arbeitscomputer und die privaten Computer ihrer Partner und machen von dort aus weiter, abhängig davon, was wir finden.«
Michael bewegte sich rastlos durch sein Büro.
»Das hört sich höllisch umständlich an«, sagte er.
»Darum lässt es sich ja auch nicht in wenigen Minuten lösen. Oder Stunden.«
Sie verabredeten eine Zeit und einen Ort für ihre weitere Kommunikation, bevor Michael sich bei TOX ausloggte.
Er war enttäuscht.
Aber Ismael hatte recht: Das war keine Frage von Magie, nur Ausdauer. Kombiniert mit den kleinen und großen Sünden durchschnittlicher Menschen.