Verzweiflung und Zorn hatten sie hinter sich. Auch das abwechselnde Herumwandern durch den Raum, wenn sie nicht länger still sitzen konnten. Jetzt saßen sie wieder auf dem Sofa. Mit einem Lichtjahr Abstand zwischen sich.
Anna Linden riss den Blick vom Boden ihres Glases los.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Frank grünes Licht für so ein furchtbares Massaker gegeben hat. Ich kenne ihn doch, zum Teufel.«
Das Meer hatte sich jetzt türkis gefärbt, wie Thomas feststellte.
»Ich habe nie behauptet, dass Frank persönlich in Adigrat war, das war er mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht. Ich habe überhaupt keine Weißen gesehen. Nur die Abdrücke ihrer Stiefel. Aber er hat davon gewusst. Begreif es doch endlich, Anna! Mag sein, dass er es später bereut hat, aber damals hat er seinen Segen gegeben. So muss es gewesen sein.«
»Sonst …«
»Sonst hätte er Gabra, Iskander und mich seitdem nicht so großzügig unterstützt. Nenne mir einen anderen Grund, warum er das tun sollte?«
Das schräg einfallende Licht offenbarte Falten, die beim letzten Mal, als er sie angesehen hatte, noch nicht da gewesen waren .
»Wir waren in Venedig und haben unsere Silberhochzeit gefeiert.«
»Wie romantisch, Anna. Aber dann kam ein Anruf, richtig?«
Sie nickte.
»Drei Tage nach dem Treffen in Genf. Er war sehr aufgewühlt. Hat geweint. Ich habe ihn so noch nie erlebt. Danach war er fünf Stunden verschwunden. Als er zurückkam, hatte er einen Privatjet gechartert und verlangte, dass wir umgehend nach Dänemark zurückfliegen. Dort verschwand er mit dem alten Segelboot seines Vaters. Eine Woche habe ich nichts von ihm gehört. Kein Wort. Ich wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben, als er plötzlich spätabends auftauchte. Er war kaum wiederzuerkennen. Nein, er war ein anderer.«
»Und begrub Rivaquantel?«
Sie drehte nervös an ihren Perlen. Dann knetete sie sich die Hände.
»Ich durfte nicht mehr über Rivaquantel oder dich sprechen. Also habe ich geschwiegen. Wie hast du überlebt?«
Thomas lächelte ironisch.
»Ich habe nie gewusst, dass ich so extrem lang die Luft anhalten kann. Ich habe mich im Fluss versteckt, als sie zurückkamen. Mit meinen zwei Jagdgewehren hätte ich kaum etwas gegen die mindestens zwanzig mit Kalaschnikows bewaffneten Rebellen ausrichten können.«
Sein Grinsen wurde breiter.
»Rastest du jetzt aus?«, fragte sie besorgt.
»Ganz und gar nicht. Aber das Verrückte ist, dass ich mir im Fluss selber Bilharziose zugezogen habe. Das Schneckenfieber. Gott hat wirklich einen kranken Humor. «
Die Witwe prustete überrascht los.
»Wie makaber! Was hast du dagegen getan?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Rivaquantel?«
»Es wirkt hervorragend. Es könnte Millionen Menschenleben in Afrika retten, Anna. Und es ist wahnsinnig kostengünstig herzustellen. Wenn nur …«
»Ja, wenn.« Sie nahm seine Hand. »Sie wissen, dass du lebst. Du, Gabra und Iskander.«
Er sah sie schockiert an.
»Was?!«
»Frank hatte einen Vertrag mit einem Verlag für seine Autobiografie. Er wollte dich vollständig rehabilitieren und die Wahrheit über Rivaquantel ans Tageslicht bringen. Mit allen Formeln und Kopien des ursprünglichen Patentantrages. Er hat sich mit einem Ghostwriter namens Simon Hallberg getroffen, unmittelbar vor seinem … Tod.«
»Ein Ghostwriter?«
»Der kurz nach seinem Treffen mit Frank liquidiert wurde.«
Der Boden tat sich unter Thomas’ Füßen auf.
»Hört das denn niemals auf?!«
Sie legte ihre Hände auf seine Schulter und zog ihn an sich.
»Ich habe heute Vormittag mit einer Kommissarin von der Reichspolizei gesprochen, Lene Jensen heißt sie. Sie schien mir scharfsichtig und kompetent. Sie hat gesagt, dass sie weder bei Frank noch bei Hallberg irgendetwas gefunden hätten. Keine Papiere und kein Geld. Ich gehe davon aus, dass es Hallberg noch gelungen ist, die Sachen irgendwo zu verstecken, bevor er erschossen wurde. «
Thomas hob den Kopf.
»Das ist anzunehmen … sonst wäre ich jetzt auch tot. Weil sie dann gewusst hätten, wie sie mich kriegen. Und Iskander.«
»Und ich ebenfalls. Bis jetzt ist es nur ihr Zweifel, der mich verschont. Ich habe Beatrice schon so oft angefleht umzuziehen, aber sie will nicht.«
Thomas stand auf.
»Ich muss zusehen, dass ich hier wegkomme. Damit ich Gabra und Iskander in Sicherheit bringen kann.«
»Die Übergabe soll morgen stattfinden, oder?«
»Ich denke, das ist gecancelt. Frank kann schließlich nicht persönlich kommen.«
»Natürlich nicht. Aber unterschätz ihn nicht. Er war zwar in letzter Zeit nicht immer ganz klar wegen des Morphins und weil er wusste, dass es jeden Augenblick vorbei sein kann. Aber es sähe ihm so überhaupt nicht ähnlich, wenn er nicht sowohl einen Plan B als auch C parat gehabt hätte, für den Fall, dass ihm etwas zustößt.«
Sie erhob sich ebenfalls, durchquerte langsam den Raum und schaltete ein paar Lampen ein.
»Wie läuft die Übergabe ab?«, fragte sie.
Er sah sie lange an, ehe er ihr das Prozedere erklärte.
»Das hört sich wirklich bombensicher an, Thomas. Echt clever.«
»Ich hoffe es.«
»Gibst du mir deine Telefonnummer, falls ich etwas Neues von der Polizei erfahre? Die Kommissarin hat versprochen, mich auf dem Laufenden zu halten.«
Sie standen jetzt voreinander .
Die Tür ging auf, und Beatrice und Iskander traten ein. Der Junge strahlte. In seinem Mundwinkel klebte ein Rest vom Schokoladeneis.
Thomas und Anna umarmten sich zum Abschied. Mit dem Mund dicht an ihrem Ohr flüsterte er: »Wenn du mich verarschst, komme ich zurück und bringe dich um, das verspreche ich dir.«
Sie drehte ihr Gesicht seinem zu.
»Das hätte ich verdient, und du wirst willkommen sein.«