Zentrale der Reichspolizei, Glostrup, später Nachmittag
Lene rauschte an der Rezeption
vorbei und funkelte den Mann am Metalldetektor an, bis er einen Schritt zur Seite machte und sie mit einer Handbewegung vorbeiwinkte, obgleich der Detektor wie eine verlorene Seele heulte.
Der Rezeptionist hatte Charlotte Falster offensichtlich Bescheid gegeben, denn die Chefin fing Lene ab, als sie in der dritten Etage aus dem Fahrstuhl trat.
Falsters Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Die grauhaarige, schlanke elegante Frau war fuchsteufelswild.
Lene stand wie angewurzelt da und schaute durch ihre Vorgesetzte hindurch.
»In mein Büro. Jetzt«, murmelte Charlotte zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Das war keine Bitte.
Neugierige Köpfe tauchten über den Trennwänden auf wie Korken. Alle witterten einen erneuten Eklat zwischen der rothaarigen Einzelkämpferin mit der fantastischen Aufklärungsrate und der leidgeprüften, juristisch ausgebildeten
Polizeidirektorin mit einer allenfalls oberflächlichen Kenntnis praktischer Ermittlungsarbeit, dafür aber mit einem dem Staatssekretär würdigen Lebenslauf.
»Warum?«, fragte Lene.
Charlottes Augen funkelten wie Glasscherben.
Sie packte Lene am Arm und zog sie hinter sich her.
Charlotte Falster hatte erstaunliche Kräfte, dachte Lene. Die Power-Yoga-Stunden waren offenbar nicht vergeudet, auch wenn Lene Sportarten ohne vollen Körperkontakt, Nasenbluten und hin und wieder einer Gehirnerschütterung nichts abgewinnen konnte.
Charlotte Falster ließ sich steif auf ihrem Bürostuhl nieder. Nach ein paar tiefen Atemzügen war sie bereit. Ein Nerv zuckte unter der dünnen Schläfenhaut.
»Setz dich!«
Lene blieb stehen.
»Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem? Ich habe keine Zeit für so was«, sagte sie.
Charlotte Falster faltete die Hände über ihrer Schreibunterlage.
»Setz dich endlich hin, wenn du nicht in fünf Sekunden suspendiert sein willst. Hätte ich längst tun sollen.«
Lene setzte sich mit einem genervten Seufzer.
»Was willst du?«
Charlotte Falster schluckte die eine oder andere Bemerkung herunter.
»Sag mir bitte, warum wir jedes Mal
diese Komödie durchspielen müssen, in der du die in tiefster Seele gekränkte Teenagerin gibst und ich deine nichts raffende Mutter? Ich bin es so leid, ehrlich. Du wirst bald fünfzig!
«
»Meinetwegen brauchen wir die Komödie nicht zu spielen, solange du mich einfach meine Arbeit machen lässt. Und ich arbeite tatsächlich an einer Sache.«
»Ich habe dir heute mindestens zwanzig SMS geschickt und dich ein Dutzend Mal angerufen, und du hältst es nicht für nötig zu antworten.«
»Hast du das?«
»Frank Linden ist nicht irgendwer. Slotsholmen sitzt mir im Nacken. Und er war offenbar ein enger Freund der königlichen Familie. Alle rätseln und tuscheln und wollen wissen, wer mit dem Fall betraut ist. Wer
, sagst du?! Aber ist sie nicht …? O doch, das ist sie, aber ich vertraue ihr, und nein, danke, ich habe keinen Bedarf an weiteren Ressourcen.«
Charlotte leierte ihren Sermon mit geschlossenen Augen herunter. Lene war sich natürlich im Klaren darüber, welch enormer Druck auf den Schultern der Polizeidirektorin lastete. Aber sie wusste auch, dass Charlotte Falster aus spezialgehärtetem Stahl geschmiedet war. Das elegante Äußere und ihre großbürgerlich polierte Art waren komplett irreführend. Sie hatten schon früher immer mal wieder spektakuläre Mordfälle auf dem Tisch gehabt – und erhitzte Gemüter bei der gesamten oberen Verwaltungsbehörde.
»Er wurde gestern
ermordet«, fauchte Lene. »Was verlangt ihr? Olof Palme wurde vor verfluchten zweiunddreißig Jahren ermordet, und der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt!«
»Komm mir jetzt nicht so«, sagte Charlotte mit gedämpfter Stimme. »Nicht mit ihm! Bitte keine Vergleiche mit Olof Palme. Nie mehr, hörst du?! Wir arbeiten professionell.
«
»Dann halt mir Slotsholmen vom Leib … Von wem reden wir eigentlich?«, fauchte Lene.
»Den Politikern. Keiner von denen hat jemals außerhalb einer politischen Organisation einen ordentlichen Beruf ausgeübt, geschweige denn so viel wie eine Ausbildung zum Nageltechniker abgeschlossen. Die wissen einen Dreck. Aber sie haben ihre Meinungen.«
»Darf ich dich zitieren, Charlotte? Ich kann mir vorstellen, damit großen Jubel im Justizministerium auszulösen.«
»Tu das.«
In der Regel landeten sie irgendwann an diesem Punkt: dem Austausch eines zögernden Lächelns.
Charlotte Falster war in Lenes Augen in vielen Bereichen unzulänglich, aber ein gewisser Humor war ihr nicht abzusprechen.
»Was ist eigentlich mit der Flasche Sherry, die du in deinem Schreibtisch versteckst, Charlotte? Wäre das nicht ein guter Zeitpunkt, sie ans Tageslicht zu holen?«
Die permanente Furche zwischen den Augenbrauen der Polizeidirektorin vertiefte sich.
»Wie bitte …? Ich habe keine Ahnung, wovon du …«
Lene wischte den Einwand großzügig vom Tisch.
»Das wissen alle, Charlotte, von der jüngsten Bürohilfe bis zu Andersen, unserem geriatrischen Hausmeister, von dem du wahrscheinlich noch nie etwas gehört hast. Wir sind hier bei der Polizei. Wir wissen, dass du gerne einen hebst, vielleicht sogar abhängig bist … Und weißt du, was? Das ist völlig okay. Das macht dich fast menschlich.«
»Halt die Klappe.
«
Die Flasche kam mit zwei wohlgeformten Holmegaardgläsern auf den Tisch.
Der Sherry war gut. Knorztrocken. Lene dachte an Andalusiens flache, sonnenverbrannte Berge, die Michael und sie einen Sommer lang erforscht hatten. Damals …
Sie schob den Gedanken an Michael in die hinterste Ecke.
Charlotte schenkte nach, stieß einen tiefen Seufzer aus und lehnte sich zurück.
»Du musst mir irgendwas geben. Du hast ja keinen Schimmer, was ich mir für eine Scheiße anhören muss. Seit heute Morgen habe ich zweihundert Mails bekommen.«
Im Versuch, ihre Gedanken zu ordnen, schaute Lene an die perforierten Deckenplatten.
»Frank Linden befand sich im Endstadium seiner Erkrankung«, sagte sie. »Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Streuung … überallhin. Ich war gestern bei Helle Englund. Oder war das heute? Never mind. Er hat sich mit der eigenen Pistole in den Kopf geschossen, einer Walther PPK. Daran besteht kein Zweifel. Aber er wollte diese Welt nicht verlassen, ohne sich vorher einem zweiunddreißigjährigen, anerkannten Journalisten anzuvertrauen, Simon Hallberg, den er als anonymen Ghostwriter für seine Autobiografie ausgewählt hatte. Darin sollten dunkle Geheimnisse und Sünden aus seiner Vergangenheit ans Licht geholt werden. Es gab einen Vertrag mit dem Nemo Verlag. Er hat sozusagen den Staffelstab an Simon weitergegeben, der nach dem Treffen mit Linden von einem bislang unbekannten Täter durch den Wald verfolgt und auf eiskalte, professionelle Weise hingerichtet wurde, kurz bevor er sich auf dem Skodsborgvej in Sicherheit bringen konnte. Eine Stunde später brannte sein
Haus bis auf die Grundmauern nieder. Keine Beweise. Keine Spuren. Nichts. Wir gehen von einem hoch spezialisierten Fachmann aus. Vermutlich importiert.«
Charlotte Falster hatte zugehört, ohne Lene zu unterbrechen. Jetzt befeuchtete sie die Unterlippe mit der Zungenspitze.
»Von was für Sünden sprechen wir?«
»Schenkst du noch mal nach?«
Falster folgte der Aufforderung.
»Das weiß ich noch nicht. In seinem kurzen Abschiedsbrief an seine Frau erwähnt er einen ›Thomas‹. In irgendeiner Form war die Opposition über den Bußgang informiert und hat … dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben.«
»Die Opposition?«
»Das ist einer von Michaels Ausdrücken.«
»Wie geht es Michael eigentlich?«
In Charlottes Augen war ein gewisses Glitzern. Lene wusste sehr gut, dass ihre Vorgesetzte Michael einfach … dass sie ihren Mann für ein echt vernaschungswürdiges Sahneschnittchen hielt. Das hatte sie mit mehreren von Lenes Freundinnen gemein.
Lene ignorierte das. Eifersucht war ihr immer fremd gewesen.
»Super. Können wir weitermachen?«
»Entschuldige.«
Das sinnliche Strahlen in den hellen Augen der Polizeidirektorin verlosch.
»Ich habe gestern Nachmittag mit Anna Linden gesprochen, in ihrem Herrenhaus in Westjütland.«
»Was hat sie gesagt?
«
»Im Grunde nichts. Unangebrachte Loyalität, wie üblich. Misstrauen den dummen Bullen gegenüber. Sie weiß sehr viel mehr, als sie gesagt hat.«
Charlotte Falster lehnte sich zurück und streckte in systematischer Reihenfolge Arme, Hals und Schultern. Es knackte trocken wie ungekochte Spaghetti.
»Bist du fertig?«, fragte Lene.
»Womit?«
»Deinem Sonnengruß.«
»Du solltest wirklich mal mit zum Yoga kommen, Lene. Das würde dir so guttun. Du wirkst so verkrampft. Fang am besten mit ein paar Atemtechniken an.«
»Meine Atmung funktioniert einwandfrei.«
Charlotte musterte sie wie eine Veganerin, die jemanden dabei beobachtet, wie er sich über eine Rinderlende hermacht.
»Du stinkst übrigens schon wieder nach Zigaretten, Lene.«
»Ich verspreche hoch und heilig, auf dem Heimweg Tofu und Reismilch zu kaufen.«
»Zurück zur Opposition … Siehst du eine Chance herauszufinden, wer dahintersteht? Das scheint mir fast unlösbar, aber du pflegst ja …«
Lene starrte vor sich hin.
»Die sehe ich, ja. Es gibt eine Quelle, die über alles informiert ist, und ich werde seine verdammte Zunge schon lösen, und sollte es meine letzte Handlung sein.«
»Wer?«
»Michael.«