Flemming Brandts Haus
Lene öffnete das Vorhängeschloss, brach das Polizeisiegel auf und trat in das dunkle Haus. Sie schaltete nacheinander die Lichter in den Zimmern ein. Der Geruch von Farbe und Terpentin schlug ihr entgegen, und – als sie das Atelier des Professors betrat – von noch etwas. Urin?
Sie sah sich um, überwältigt von den Farben und Formen. Die Bilder schlugen eine Saite in ihr an. Sie hätte gerne jedes einzelne davon aufgehängt. Dann dachte sie an die Kinder – und hatte das Bedürfnis, das gesamte Atelier zu zertrümmern.
Sie sah sich die Fotos der Kriminaltechnik an: der Bürostuhl einen halben Meter von den Füßen des Erhängten. Der rot-weiße, jungfräuliche Nylonstrick, der sich von dem gestreckten, blauschwarz verfärbten Hals des Malers bis zu einem lackierten Deckenbalken spannte. Die Augen des Professors waren halb geschlossen und nach oben gewandt. Wie bei einem Heiligen.
Die Notizen der Kommissarin Salomonsen waren mit Schreibfehlern gespickt und genauso naiv und oberflächlich, wie sie befürchtet hatte .
Wer bitte stellte sich auf einen frei hin und her rollenden Bürostuhl, um einen Palstek um einen abseitigen Dachbalken zu knoten, in der Absicht, sich zu erhängen?
Niemand.
Mit brennender Zigarette im Mundwinkel durchsuchte Lene das Haus, bis sie in der Garage eine solide Trittleiter fand. Sie zog Gummihandschuhe über. Die Leiter war ein prädestiniertes Medium für Fingerabdrücke.
Sie nahm sie mit ins Atelier und klappte sie unter dem Dachbalken auf. Trat einen Schritt zurück und untersuchte das glatte Aluminium der Leiter.
»Michael …«
Mit einem terpentinbefeuchteten Lappen wischte sie jeden Quadratmillimeter der Leiter ab, obgleich sie natürlich wusste, dass Michael viel zu routiniert war, um Spuren an einem Tatort zu hinterlassen. Die Schlussfolgerungen der Polizei aus Paris und Barcelona waren deckungsgleich gewesen. Es bestand kein Zweifel darüber, dass sowohl die Kosmetikerbin als auch der Medienmogul ermordet worden waren, aber man hatte nicht einmal so viel wie ein Haar des Täters oder der Täter gefunden. Es schien ein Geist durch die Penthousewohnung am Bois de Boulogne und die Villa am Rand von Barcelona geschwebt zu sein. Keines der ausgeklügelten Alarmsysteme war ausgelöst worden.
Lene stieg auf die Leiter, bis der Deckenbalken in Augenhöhe war. Das lackierte Eichenholz war die perfekte Oberfläche für Fingerabdrücke, und es war nur schwer vorstellbar, dass Flemming Brandt sich zum Binden des Palsteks nicht an dem Balken abgestützt hatte. Sie pinselte eine großzügige Schicht Spurensicherungspulver auf das Holz, legte Haftstreifen darüber und studierte die Abdrücke im Licht der starken Deckenleuchten.
Nichts.
Michael.
Der Geist.
Bjarne hatte etwas von topcodierten und professionellen pädophilen Netzwerken gesagt, die momentan überall in der Welt aufgedeckt wurden.
Um jeden Zweifel auszuräumen, blies sie vorsichtig den rötlichen Dampf aufgeheizter Jodkristalle auf die Balkenoberfläche. Joddampf war nach wie vor der uralte, aber goldene Standard – wie schon zu Sherlock Holmes’ und Dr. Watsons Zeiten.
Da waren keine Abdrücke.
Lene kletterte die Leiter hinunter, löschte die Atelierlampen und saß lange in dem dunklen Raum und rauchte.
Dann rief sie Bjarne an.
»Der USB-Stick mit Brandts abscheulichen Filmen, seinen Kontakten und Kontoverbindungen … Hat irgendjemand den auf Fingerabdrücke untersucht?«
Sie hörte das hastige Klappern der Tastatur.
»Nein.«
»Könnte ich dich überreden, in den Keller zu gehen, dir den Stick aushändigen zu lassen und ihn selber zu untersuchen?«
»Augenblick. Ich rufe dich zurück.«
Es vergingen unendliche Minuten.
»Da bin ich wieder«, sagte Bjarne. »Es sind zwei hübsche und sehr deutliche Fingerabdrücke auf dem Stick.«
Lenes Herz schlug schneller .
»Ja?«
»Beide von Kommissarin Salomonsen.«
Ihre Schultern sackten nach unten.
»Alles klar … Okay, geh jetzt nach Hause und schlaf dich aus. Wir werden die nächsten Tage eine Menge zu tun haben.«
Exakt eine Minute nach Mitternacht bekam Michael Zugang zu Thomas Schmidts Video auf YouTube. Es beinhaltete die kurze Beschreibung eines Parks im Zentrum von Kopenhagen, Koordinaten, den genauen Zeitpunkt und Instruktionen für die Deponierung des Geldes – und in Großbuchstaben auf einem Whiteboard: Keine Sekunde früher oder später.
Michael war beeindruckt.
Er stand auf, als er Lenes Wagen auf dem Kies der Einfahrt hörte, und sah Skipper an. Der Hund erwiderte seinen Blick – und schaute ihm bis tief in die Seele. Sie hatten seit fünf Jahren fast jeden Tag miteinander verbracht und waren in allem synchronisiert.
»Gott steh mir bei«, murmelte Michael.
Der Hund wedelte leicht mit dem Schwanz.