Sie waren umeinander herumgeschlichen. Keiner von ihnen ging auf den anderen zu, um sich, wie sonst nach einem besonders langen und anstrengenden Tag, mit einer Umarmung zu begrüßen.
Jetzt saßen sie sich am Küchentisch gegenüber wie Schauspieler, die noch keine Regieanweisung erhalten, geschweige denn ein Manuskript in Händen hatten.
Lene hatte ihre Lederjacke nicht ausgezogen und starrte auf einen Punkt über seiner Schulter.
Michael schielte zu der Wanduhr über der Tür. Thomas Schmidts Video erforderte eine Reihe verschiedenster Vorbereitungen. Unter anderem die Erkundung des Fælledparks.
»Wie war dein Tag?«, fragte er.
»Voll.«
»Aber konstruktiv?«
Sie massierte die Kopfhaut.
»Eigentlich nicht. Du lügst mich an.«
»Ah ja?«
Sie hob müde die Hand.
»Erspar mir das! Du und Simon Hallberg! Nicht noch mehr Lügen, Michael! Der Autohändler hat angerufen. Und der Kindergarten. Fuck you!«
Er räusperte sich .
»Okay, nicht noch mehr Lügen. Aber lass uns von vornherein klarstellen, dass ich nicht darum gebeten habe. Es hat sich einfach ergeben. Unausweichlich. Ich habe es nicht kommen sehen und konnte es nicht verhindern, ich habe keinen Einfluss darauf, aber ich bin gezwungen, der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Wegen Simon?«
»Zum Teil. Nein, du hast recht – hauptsächlich seinetwegen.«
»Simon hat dir an dem Morgen mehrere SMS geschickt und am späteren Vormittag noch einmal, kurz bevor er umkam. Solche Informationen sind wichtig für mich, Michael.«
»Das weiß ich. Er hat mich um ein Treffen am Nachmittag bei ihm zu Hause gebeten. Aber da war er schon tot, und das Haus existierte nicht mehr.«
»Warum?«
»Er hat geschrieben, dass er einen Job für mich hätte. Oder genauer gesagt: Frank Linden hätte einen Job für mich.«
Lene ballte ihre Hände auf der Tischplatte zu Fäusten. Und öffnete sie wieder.
»Das ist schon ein merkwürdiges Zusammentreffen, findest du nicht?«
»Ja. Ich sollte eine Person aufspüren. Für ein Honorar von einer Million Dollar.«
»Wer macht solche Sachen, Michael?«
Er sah wieder zu der Uhr über der Tür und beugte sich vor.
»Wer es kann. Die Abgebrühtesten. Solche wie ich.«
Lene stand auf und füllte ein Glas am Wasserhahn. Sie leerte es in einem Zug bis auf den letzten Tropfen, stellte es weg und verschränkte die Arme .
»Du versuchst also, mich vor dieser Opposition zu schützen? Wie edel von dir.«
Michael spürte den Zorn wie Gezeiten in sich hochsteigen.
»Du weißt, dass der Mord an Simon von einem Profi begangen wurde. Da draußen läuft ein Profikiller herum.«
»Und was bitte bin ich? Eine naive Amateurin?«
»Aber natürlich nicht, du bewegst dich nur nicht in der gleichen …«
»Liga?«
»Hör schon auf, Lene. Du bist bei der Polizei und damit an die Gesetze gebunden. Sie nicht. Und ich auch nicht.«
»Sie?«
»Es ist vollkommen egal, ob es eine Sie oder ein Er oder ein verdammtes Es ist. Sie sind alle gleich. Ausgebildet in der einen oder anderen Eliteeinheit, mit viel Praxis und Erfahrung, und sie denken alle gleich. Es ist in ihre Hirne eingraviert: die Mission. Die Mission vor allem anderen. Sie geben niemals auf, bis ihnen die Flügel gestutzt werden.«
Sie zündete sich eine seiner Zigaretten an. Ihr Körper beschrieb ein langes, geschmeidiges S.
»Und wen sollst du aufspüren? Gib mir endlich was, Michael!«
Er ließ seine Knöchel knacken und senkte den Blick.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Das alles entwickelt sich weiter und geht seinen Gang, während wir hier sitzen. Ich muss in zwei Minuten los.«
»Hat das etwas mit einem gewissen Thomas zu tun?«
Michael hob den Blick, und Lene lächelte schwach.
»Volltreffer? «
»Ja«, gab er zu. »Du bist gut. Doktor Thomas Schmidt hat vor sechs Jahren in Äthiopien ein Medikament für Linden Pharma getestet, in das enorme Erwartungen gesetzt wurden. Es sollte geprüft werden, ob es gegen Bilharziose wirkte, Schneckenfieber. Die Ergebnisse übertrafen offensichtlich alle Erwartungen, aber es zeigten sich unerwartet Nebenwirkungen, über die ich nichts Genaueres weiß. Schmidt praktizierte parallel als Chirurg in einer katholischen Missionsstation, in der ein Massaker stattfand. Soweit ich weiß, war Schmidt der einzige Überlebende. Frank Linden hat ihn danach finanziell unterstützt. Möglicherweise hat er Familie. Ich weiß es nicht. Woher hast du seinen Namen?«
»Aus Franks Abschiedsbrief an seine Frau. Linden hatte Krebs im Endstadium. Er hat seine Frau gebeten, diesem Thomas zu helfen, falls er eines Tages bei ihr auftauchen und um Hilfe bitten sollte. Simon war der Letzte, der Linden lebend gesehen hat.«
»Außer der Auftragskillerin, vermutlich.«
»Außer ihr, ja. Eine Frau. Ist das nicht sehr merkwürdig, dass …«
»Ja.«
Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand.
»Michael, können wir in dieser Sache zusammenarbeiten? So wie in früheren Fällen?«
Michaels vernarbtes Gesicht war eine abweisende Maske, und Lene wusste, dass ihre Bitte vergebens war. Er entzog ihr seine Hand und stand auf.
»Damals waren wir noch keine Eltern.«
Er verließ die Küche, und Lene vernahm die verhassten Geräusche, die sie schon so oft gehört hatte. Die Stahltür zu seinem Büro, danach die vom Waffenschrank, das hitzige Ritschen des Reißverschlusses einer seiner schwarzen Sporttaschen. Die zuschlagende Haustür. Schritte auf dem Kies. Das Auto.
Sie begann zu weinen.
So eilig hatte Michael es eigentlich gar nicht, aber er brauchte einen Ort, an dem er in Ruhe nachdenken konnte – weit weg vom Haus, Lene und Maria. Sein Zufluchtsort für solche Gelegenheiten war das Zimmer 314 im Hotel Admiral, das ihm im Laufe der Jahre fast ein zweites Zuhause geworden war. Er kannte die Nachtportiere und den Barkeeper. Und er liebte es, mit Blick über den Hafen im Fensterrahmen zu sitzen.
Als er in die Stadt fuhr, nahm der Plan für den nächsten Tag Form in seinem Kopf an, war weder sonderlich genial noch einfallsreich. Tausend Dinge konnten dabei schieflaufen, aber er hatte keinen anderen. Und so musste er sich einen Überblick über alle Wege, Entfernungen, Fluchtwege, schnellste Laufgeschwindigkeiten und Ausdauer verschaffen.