Lene änderte die Position auf dem Korbstuhl vor dem Fenster ihrer Tochter. Gab es etwas Friedlicheres und Tröstlicheres als den Anblick eines schlafenden Kindes? Sie ließ einen Zipfel der Gardine durch ihre Finger gleiten, während sie sich vor Sorge verzehrte.
Als sie nachmittags nach Hause gekommen war, hatte sie Bjarnes magnetischen GPS-Tracker unter Michaels Wagen montiert. Jetzt folgte sie ihm auf ihrem Handy via Google Maps. Ein kleiner, leuchtend grüner Punkt auf dem Bernstorffsvej. Nah war sie ihm dadurch wohl kaum, aber besser als nichts.
Im nächsten Augenblick sprang sie auf und lief mit dem Hund auf den Fersen runter in den Keller. Vor Michaels Bürotür blieb sie stehen: Stahltür, Stahlrahmen, diverse Kombinationsschlösser und ein Fingerabdruckscanner. Unüberwindbar.
Im Prinzip.
Lene begab sich nach draußen zum Schuppen, eine Kombination aus Werkstatt und Garage. Sie machte Licht und sah sich um, die ganze Zeit mit der feuchten Hundeschnauze in der Kniekehle.
Lene tätschelte den Hund.
»Skipper, lass uns irgendwas Brauchbares suchen, okay?«
Skipper wedelte aufmunternd mit dem Schwanz .
Lene wog eine Feueraxt in der Hand, verwarf sie dann aber zugunsten eines 16-Pfund-Vorschlaghammers mit langem Schaft.
»Wenn der die Dreckstür nicht schafft, dann bleibt nur noch Dynamit.«
Zurück im Kellergang vor Michaels Tür, zog sie ihr T-Shirt aus, lockerte die Schultermuskeln und zog sich schwarze Arbeitshandschuhe an. Sie legte den Vorschlaghammer über die Schulter und visierte das Türschloss an.
Nach zwanzig energischen, wuchtigen Schlägen gegen die Tür legte sie eine Pause ein. Der Schweiß lief ihr in die Augen, weshalb es eine Weile dauerte, ehe sie Maria bemerkte, die im Schlafanzug und mit ihrem Lieblingsteddy im Arm auf der unteren Treppenstufe saß.
Mit großen Augen.
Sie wechselten einen langen, stummen Blick.
»Hat Papa sich in seinem Büro eingeschlossen?«, brach Maria schließlich das Schweigen.
Lene wischte sich den Schweiß aus der Stirn und stellte den Hammerkopf auf dem Betonboden ab.
»Er hat den Schlosscode vergessen.«
»Braucht er etwas aus seinem Büro?«
Skipper leckte Marias Bein und wedelte einladend mit dem Schwanz. Sie schubste ihn mit dem Fuß weg. Lene starrte hasserfüllt auf die solide Tür. Dann lächelte sie ihre Tochter mechanisch an.
»Nein … Ja. Er hat den Code auf seinem Handy gespeichert, das im Büro liegt. Und ich muss es für ihn da rausholen, okay? Und du gehst jetzt wieder ins Bett. Nimm Skipper mit hoch. «
»Aber wenn er …«, begann Maria mit der unerbittlichen Logik eines Kindes.
»Schlaf gut, Schatz!«
Vor sich hin murmelnd, stieg Maria die Treppe nach oben.
Nach zehn weiteren Minuten gewalttätiger Hämmerei gab das Schloss endlich nach, und Lene taumelte in Michaels Kellerbüro. Sie ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und sah mit Erstaunen Thomas Schmidts abgegriffenes Tagebuch und einen Stapel frisch ausgedruckter Seiten mit unverständlichen Formeln, Diagrammen und Grafiken auf dem Tisch.
»Da haben wir Thomas ja endlich! Status: untergetaucht.«
Sie begann mit der Lektüre des Tagebuches und vergaß darüber ihre schmerzenden Schultern und Hände. Nach dem letzten Satz legte sie das Buch behutsam vor sich.
Lene googelte nach Arzt Thomas Schmidt und studierte die Fotos von dem sonnenverbrannten Tal in Afghanistan und dem Auditorium in Kairo, wie Michael es zuvor getan hatte. Sie nahm das Buch und eine Speicherkarte mit nach oben, klatschte sich an der Küchenspüle kaltes Wasser ins Gesicht, goss sich einen Becher starken Nescafé auf und zündete sich eine Zigarette an. Dann schob sie die Speicherkarte in ihren eigenen Computer und riss die Augen auf, als der Bildschirm sich füllte.
»Zum Teufel, Michael … warum hast du mir das nicht gesagt?«, flüsterte sie.
Lene war der dritte Mensch auf der Welt, der Thomas Schmidts Video Adigrat2012 sah .
Lene blickte aus dem Küchenfenster. Im Osten wurde es allmählich hell, Häuser und Gärten auf der gegenüberliegenden Straßenseite bekamen klarere Konturen und nahmen Farbe an. Sie wusste, dass Bjarne den Tagesrhythmus einer Fledermaus hatte, und er meldete sich wie erwartet mit hellwacher Stimme, als sie ihn anrief.
»Kann ich dich morgen Vormittag aufsammeln?«, fragte sie. »Ich habe vorher noch eine Besprechung bei der Behörde für Zivilschutz, und Charlotte bringt mich um, wenn ich da absage.«
»Michael?«
»Wer sonst?«
»Klar. Ich bringe Proviant mit, ein paar extra Pizzaecken und eine Thermoskanne.«
»Und ich steuere eine Pistole bei. Dieses fliegende Dingsbums, die Drohne, ist die aufgeladen und einsatzbereit? Und – hast du sie mit nach Hause genommen?«
»Ja und ja. Wo fahren wir hin?«
Bjarne klang richtig munter.
»In den Fælledpark. Laufen. Wie der Rest der Welt. Und wir müssen zeitig da sein.«
»Laufen?«
»Wenn du dich um die Drohne kümmerst, übernehm ich das Laufen.«
Lene beendete das Gespräch und sammelte sich kurz, ehe sie Georginas Nummer wählte und all ihr Überredungsgeschick einsetzte, damit sie sich am morgigen Nachmittag und frühen Abend um Maria kümmerte – fürs doppelte Honorar.