Während Michael seine imaginären Gesprächseinleitungen mit dem schicksalsgebeutelten Chirurgen durchspielte, stand Lene an ihr Auto gelehnt auf dem Parkplatz vor dem Rigshospital, ein paar Hundert Meter von dem DHL-Torbogen entfernt. Der Tag mit den endlosen Sitzungen war längst vergessen. Sie hatte nicht zugehört und auch nichts Konstruktives beigetragen, sondern wie auf heißen Kohlen auf den Moment gewartet, da sie sich endlich verdrücken und Bjarne abholen konnte.
Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Bjarne mit der Drohne beschäftigt war. Wenn sie nicht rauchte, starrte sie in den Himmel oder fluchte über den Lärm aus dem Park, während sie immer wieder hektisch auf ihre Armbanduhr blickte.
Ihr war schlecht vor Sorge.
18:08:30
»Noch drei Minuten und fünfundfünfzig Sekunden, Bjarne«, sagte sie eindringlich.
Ihm glitt ein Plastikteil aus den Fingern und landete auf dem Asphalt.
Sie hätte am liebsten laut geschrien .
»Bja …«
»Aus dem Weg!«
Lene zog sich ein paar Meter zurück. Sie zündete eine neue Zigarette an und kaute nervös an den Nägeln, was sie sich eigentlich mit zwölf Jahren abgewöhnt hatte. Endlich trat Bjarne einen Schritt weg von dem hoffentlich flugbereiten Wunderding. Er fummelte an der Fernsteuerung, und Lene schaute auf ihr iPad, das die Aufnahmen von der Drohnenkamera empfing.
»Ich sehe immer noch nur Asphalt, Bjarne. Zugegeben super scharf. Wow, da ist ein Käfer!«
Bjarne ließ sich nicht zu einer Antwort herab.
Mit dem Summen ihrer vier koordinierten Rotoren hob die Drohne endlich von der Erde ab. Sie lebte, verwandelte sich in ein Luftwesen und folgte ihrer Bestimmung. Bjarne lächelte Lene triumphierend an.
Um Haaresbreite wäre die Drohne mit einem Baum kollidiert.
»Pass doch auf, wo du hinfliegst, Mann!«
Bjarnes Gesicht glänzte vor Schweiß.
»Sorry.«
18:12:05
»Zwanzig Sekunden …«
Das bunte Gewimmel der laufenden Menschen bildete sich kristallklar auf Lenes Bildschirm ab.
Bjarne platzierte die Drohne in fünfzig Meter Höhe über dem gelben Müllcontainer, während Lene einzelne Läufer heranzoomte und sich mit der Fernbedienung der Kamera vertraut machte .
Michael, der unablässig auf seine Uhr stierte, wäre um ein Haar über seinen Vordermann gestolpert. Er richtete sich auf, entschuldigte sich und lief etwas langsamer. Es schien niemand weiter auf ihn zu achten.
Jetzt sah er den gelben Müllcontainer, wo die beiden Wege sich kreuzten.
18:12:20
Er sprintete die letzten zwanzig Meter, beugte sich neben der Tonne unauffällig vor und legte die Papiertüte zwischen den Abfall, der danebenlag. Dann trottete er weiter und nahm sein Handy heraus. Zwanzig Meter später stieg er über das Plastikband, das den Bahnverlauf markierte, und fasste sich an den Bauch, als hätte er Seitenstiche.
»Da ist er, der Drecksack«, murmelte Lene.
»Wer?«
»Michael. Er hat das Päckchen deponiert!«
Michael stand jetzt auf der Rasenfläche und hantierte an irgendetwas herum, das Lene nicht identifizieren konnte. Sie konzentrierte sich auf die braune Papiertüte im Gras, als der Bildschirm komplett von einer Gruppe mittelalter, übergewichtiger Frauen in gelben T-Shirts ausgefüllt wurde.
»Weg mit euch, ihr Nilpferde!«, rief Lene und hüpfte auf der Stelle. »Weiter, Bjarne, höher! Ich kann die verdammte Tüte nicht mehr sehen!«
Bjarne fingerte hektisch an der Fernbedienung. Die Kamera panoramierte und flimmerte ruckweise über die Menge. Lene fühlte sich merkwürdig schwerelos, wie eine Flocke im leeren Raum. Ihre Finger bohrten sich fast durch den Bildschirm. Endlich gelang es ihr, die Kamera auf den kleinen Flecken platt getrampeltes Gras zu richten, wo die Tüte – nicht mehr war.
»Michael!«, fauchte sie. »Such Michael! Er trägt eine lächerliche Jacke mit gekreuzten Gitarren, unmöglich zu übersehen!«