Bjarne musterte Lene kurzsichtig.
»Und was jetzt? Folgen wir dem Läufer oder Michael … wem von beiden?«
Lene starrte ins Gras.
»Gib mir zwei Sekunden, okay? Herrgott noch mal! Thomas Schmidt ist glatter als Katzenkacke auf Linoleum.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Bjarne ernst, pedantisch wie immer.
Lene sah hoch in den blauen Himmel. Selbst die Drohne dort oben schien vor Ungeduld zu zittern.
»Keinem von beiden … Fuuuuck … Sehen wir uns einfach um.«
»Geht es vielleicht ein kleines bisschen präziser? Weder die Drohne noch ich haben Einblick in dein Gehirn, Lene.«
»Nein. Einmal um den Block. Komm.«
Sie wischte eine verräterische Träne aus dem Augenwinkel.
Michaels Gesicht auf Lenes Bildschirm wurde immer kleiner. Er hob die Hand zu einem linkischen und zugleich ironischen Abschiedsgruß.
Die Drohne flog in einem Bogen über den westlichen Teil des Fælledparks. Bjarne bediente sie inzwischen virtuos. Der Bildschirm zeigte haufenweise blasse Gesichter. In diesem Augenblick hasste Lene die gesamte wimmelnde, idiotisch jubelnde Menschheit. Sie fühlte sich am Rand eines Nervenzusammenbruchs und zwang sich, ruhig zu atmen.
»Wie entkommt man dieser Hölle?«
»Gar nicht. Die Leute parken in doppelter Reihe, und zwar in ganz Østerbro und Nørrebro. Der Akku der Drohne ist übrigens fast leer. Wenn’s hochkommt, hat sie noch fünf Flugminuten.«
Lene hörte nur mit halbem Ohr zu und dachte laut nach.
»Blegdamsvej … Nein, zu weit. Wahrscheinlich ist er in der Nähe vom Lyngbyvej und der Ringstraße 3 … Die Route würde ich wählen … Probier es mit Øster Allé.«
Die Drohne flog die Allee entlang. Die Menschen und Fahrzeuge waren größtenteils vom Laub der hohen Bäume verdeckt.
Eine neue Träne bahnte sich ihren Weg.
»Siehst du was?«, fragte sie hoffnungslos.
»Ich weiß ja nicht mal, wonach ich suche«, murmelte Bjarne. »Vier Minuten noch … maximal.«
Lenes Blick klebte auf dem kleinen Bildschirm.
Etwas Grünes, Verstaubtes und Kastenförmiges bewegte sich durchs Bild. Etwas, das sie wiedererkannte.
Ihre Finger bohrten sich in Bjarnes fleischige Schulter.
»Zurück«, flüsterte sie. »Zurück und tiefer, um Gottes willen!«
»Wohin?!«
Sie tippte hektisch auf den Bildschirm.
»Der Kastenwagen vor der Eisbude! Den kenne ich! Das ist Schmidt. Der Wagen stand gestern vor Lindens Gutshaus.«
»Sicher? «
»Ja!«
Bjarne lenkte die Drohne weiter nach unten, bis sie über dem grünen Mercedes-Kastenwagen unter den Bäumen schwebte.
Ein Mann in Laufklamotten joggte auf den Wagen zu. Die Beifahrertür ging auf, und ein dünner, dunkelhäutiger Junge in Shorts und T-Shirt sprang auf den Bürgersteig. Der Läufer sprach mit besorgter Miene in sein Handy. Die Drohne war vielleicht zwanzig Meter von den beiden entfernt, ihre Gesichter waren deutlich zu erkennen. Das war Thomas Schmidt. Lene erkannte den Mann von den Fotografien wieder. Sie lächelte Bjarne an.
»Das ist er! Zurück zu Michael!«
»Drei Minuten«, murmelte Bjarne besorgt.
»Das muss reichen! Mach schon, Bjarne.«
Sie tippte in blitzartigem Tempo Michaels Nummer.
Die Drohne schraubte sich erneut nach oben, wegen der erschöpften Batterien weniger geschmeidig als vorher. Lenes Blick war auf den Bildschirm geheftet. Endlich entdeckte sie die albern gekreuzten Gitarren auf Michaels Jacke. Er hatte sich nicht mehr als ein paar Meter vom Fleck bewegt, unentschlossen, genau wie sie.
Sein Gesicht war blass und verzerrt, sie hatte ihn selten so mutlos gesehen. Er tastete nach seinem Handy in der Innentasche der Laufjacke, als ihr Anruf durchging.
Michael hatte für Anrufe von Lene den unverwechselbaren Riff von Led Zeppelins »Whole Lotta Love« gewählt. Ein paar männliche Läufer mittleren Alters hielten in einer Art pawlowschem Reflex kurz inne und lauschten anerkennend. Michael lächelte entschuldigend .
»Michael, guck nach oben, verdammt! Die Drohne. Thomas Schmidt ist hundert Meter nordöstlich von dir in einem grünen Mercedes-Kastenwagen auf der Øster Allé. Lauf, zum Teufel!«
»Wohin?!«
Michael breitete die Arme aus und sah auffordernd zu dem dreißig Meter über ihm schwebenden Ding.
»Der Drohne hinterher!«
Michael lief los.
Lene ebenfalls.
Sie lief mit langen, federnden Schritten, aber Bjarne bremste sie aus. Nach zwanzig Metern war er blau im Gesicht.
Lene warf ihm einen wütenden Blick über die Schulter zu.
»Mein Gott, Bjarne, du Fettkloß. Warum trainierst du nicht ab und zu mal auf dem Stairmaster?«
»Weil ich Techniker bin und nicht vorgesehen ist, dass ich im Feld unterwegs bin!«
Er sah aus, als hätte er noch mehr auf dem Herzen, aber nicht die nötige Luft, um es loszuwerden.
»Heb die Füße!«
Wenige Sekunden später sah sie Michael im Slalom zwischen den Leuten über die Rasenfläche sprinten.
»STOPP!«
Bjarnes Stimme veranlasste sie anzuhalten.
»Was ist?«
»Nein, nein, NEIN! Sieh dir das an!«
Auf dem Bildschirm war der verblasste, staubige Kastenwagen zu sehen. Der magere Junge zeigte aufgeregt nach oben, und gleich darauf tauchte Thomas Schmidt mit einer Schrotflinte in den Händen aus dem Laderaum auf .
Der Kolben bewegte sich in einem graziösen Bogen nach oben, und im gleichen Augenblick, als er sich an Schmidts Schulter schmiegte, löste sich der Schuss.
Lenes Bildschirm wurde schwarz.
Bjarne stand da wie vom Blitz getroffen.
»Er hat meine Drohne abgeschossen!«
Lene sprintete die verbleibenden dreißig Meter, rutschte über die Kühlerhaube eines parkenden Wagens, landete geschmeidig auf beiden Füßen und musste sofort nach hinten ausweichen, um nicht von Schmidts beschleunigendem Wagen angefahren zu werden, der sie nur um wenige Zentimeter verfehlte. Sie erhaschte einen Sekundenblick auf das Gesicht des Jungen im Seitenfenster und Thomas Schmidts konzentriert über das große Lenkrad gebeugte Profil.
Der Wagen rumpelte quer über die Rasenfläche des Universitätsparks, schnitt ein wütend hupendes Taxi und verschwand auf zwei Reifen um die Ecke zur Nørre Allé aus ihrem Sichtfeld.
Bjarne bewegte sich wie ein defekter Roboter.
»Er hat sie abgeschossen …«, wiederholte er perplex. »Er hat meine Drohne erschossen, Lene!«
»Ich weiß. Ich war dabei. Aber ihr wart nicht verlobt oder so?«
»Nein, aber …«
»Und hattet keinen Sex?«
Er schüttelte gereizt ihre Hand ab.
»Natürlich nicht, aber …«
»Ich kaufe dir eine neue«, sagte sie. »Es gibt bestimmt schon die nächste Generation auf dem Markt. Versprochen. Du kriegst eine, die noch besser ist. «
»Ja, aber …«
Bjarne hörte nicht richtig zu. Er bückte sich und sammelte ein Stück Rotor vom Boden auf.
Michael überquerte die Edel Sauntes Allé, ohne Lene eines Blickes zu würdigen – was das Verletzendste an diesem durch und durch furchtbaren Tag war. Er hielt seinen elektronischen Autoschlüssel in der Hand und sprang in den Mercedes. Der Motor erwachte mit einem tiefen Brüllen aus dem Schlaf, und die Räder drehten heulend durch, ehe sie griffen. Dann verschwand er in derselben Richtung wie Thomas Schmidt – begleitet von einer Hup-Kakofonie.
Sie sah verbittert hinter ihm her.
Bjarne hatte sich von dieser Welt verabschiedet.
Menschen strömten zusammen und sahen sie an, als wären sie zweiköpfige Wesen aus dem All. Einige blickten nach oben; aus den Bäumen regnete es noch immer Plastikfragmete herunter.
»Lass uns verschwinden«, sagte Lene.