Michael fuhr an einem
schlammigen Parkplatz vor einer Ansammlung flacher Gebäude vorbei. Von der Sonne ausgebleichte Reklameschilder versprachen dem Reisenden kulinarische Glückseligkeit verheißendes schwedisches Junkfood. Die Reifen der Lkw hatten sich an mehreren Stellen bis auf die Felssohle durchgegraben.
Thomas Schmidt, jetzt in Jeans und Hoodie, stapfte mit dem Jungen an der Hand durch die Pfützen.
Michael fuhr nach ein paar Hundert Metern an den linken Straßenrand und machte den Motor aus. Saftig grüne Wiesen fielen malerisch zu einem turbulenten Wasserlauf herab. Er überlegte, Thomas Schmidt in der Cafeteria abzufangen, entschied sich dann aber zu warten. Nach dem Erlebnis in Fælledpark stand Thomas Schmidt, aller Ausdauer zum Trotz, vermutlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Es war sicher ratsam zu warten, bis der Arzt wieder zu Hause und zur Ruhe gekommen war. Ganz davon abgesehen war er bewaffnet, und Michael verspürte kein gesteigertes Bedürfnis, mitten im verfluchten Schonen einen Auftritt à la Quentin Tarantino zu provozieren.
Er trank etwas Wasser, rauchte ein paar Zigaretten und wollte gerade aussteigen und pinkeln, als er im Rückspiegel
einen weißen Toyota Pick-up bemerkte, der langsam die Straße entlangrollte und vielleicht hundert Meter hinter ihm stehen blieb, als wäre der Fahrer sich unsicher, wo er sich befand. Dann gab er plötzlich Gas, bog scharf nach rechts ab und verschwand in einem kleinen Feldweg.
Lenes freie Hand spielte mit dem Handy.
»Rufst du ihn an?«, fragte Bjarne.
»Michael? Der würde komplett ausflippen, wenn er wüsste, dass ich ihm folge. Er findet, ich bin nicht gut genug.«
»Warum bitten wir die schwedische Polizei nicht, Thomas Schmidt festzunehmen?«
»Mit welcher Begründung? Dass er flüchtet, weil er um sein Leben bangt? Oder dass er eine Drohne abgeschossen hat, die ihn illegal observiert hat?«
Bjarne drückte den Deckel auf die Brotdose.
»Du hast recht. Das bringt nichts.«
»Ist Michael immer noch an derselben Stelle?«
»Jep.«
Es passierte ungeheuer selten, aber wenn, dann immer zum ungünstigsten Zeitpunkt, an dem eine Mission auf der Kippe zwischen Erfolg oder Fiasko stand. Ein dunkler Monolith sackte durch Michaels Bewusstsein und zog alle Aufmerksamkeit mit sich in die Tiefe. Er schlief ein und glitt von diffusen Überlegungen durch zerhackte Tagtraumfragmente in eine tiefe Ohnmacht. Es war eine Art nervöse Narkolepsie, hatte ein Neurologe ihm irgendwann einmal erklärt. Und im Übrigen unheilbar
.
Ein störendes, bedrohliches Geräusch holte ihn jäh zurück in die Wirklichkeit. Auf der Suche nach der Ursache für seine blinde Panik sah Michael sich benommen um.
Ein kräftiger Dieselmotor brüllte auf, viel zu nah, und wurde auf der höchsten Umdrehungszahl gehalten. Das Geräusch wurde intensiver, und er brauchte viel zu lange, um die Bedrohung zu identifizieren: Der tonnenschwere, weiße Toyota hatte einen U-Turn gemacht und näherte sich nun auf einem anderen Feldweg, der genau in der Höhe seines Mercedes auf die Straße mündete. Schlamm spritzte von den Reifen, der Pick-up füllte die ganze Welt aus. Der turboaufgeladene V6-Motor brüllte wie ein Urzeittier.
Michael streckte die Hand nach dem Startknopf aus, wissend, dass es zu spät war. Es passierte alles unendlich langsam und zugleich viel zu schnell.
Der riesige Toyota pflügte quer über die Landstraße. Sein massiver Kängurufänger rammte den Mercedes mit einem Donnerschlag, hob ihn in die Luft und schob ihn durch den Zaun auf die Wiese. Michaels Kopf schlug gegen den Türrahmen, die Welt um ihn herum war plötzlich voll mit grauenvollen Lauten reißenden Metalls, splitternden Glases und explodierender Airbags. Die Seitentür verschwand, und Michael schlug im schwerelosen Zustand einen Salto mortale in der klaren, fruchtbar duftenden Landluft. Der grüne Hang zog ihn begehrlich an sich, und die Kollision mit der terra firma
presste ihm alle Luft aus den Lungen.
Sobald der Schraubstock um seinen Hals sich lockerte, schnappte er gierig nach Luft. Michael wollte sich gerade zu diesem gnädigen Wunder beglückwünschen, als
er seinen Mercedes langsam und mit tödlicher Unabwendbarkeit auf sich zurollen sah.
War noch Zeit für ein Stoßgebet? Eine kurze Bildfolge mit einer schelmisch lächelnden Maria und einer ernsten Lene, umgeben von sanft schimmernden Strahlenkränzen wie in mittelalterlichen Kathedralen?
Füße und Hände suchten vergebens in dem nachgebenden Schlamm nach Halt.
Das Geräusch zerknautschender Karosserie verstummte, und die Vibrationen in der Erde verebbten. Stattdessen spürte er ein erdrückendes Gewicht auf dem rechten Unterschenkel. Er schrie laut, biss die Unterlippe durch und schmeckte Blut.
Etwas später stemmte Michael sich auf die Ellenbogen und öffnete die Augen. Er registrierte mehrere Dinge gleichzeitig. Er lag halb versunken in einem kalten Bach, der sich zu dem Fluss weiter unten in der Talsenke schlängelte, der Mercedes lag in einem dramatischen Winkel auf dem Dach, sein Bein war eingeklemmt unter der hinteren Stoßstange.
Er konnte sich keinen Zentimeter bewegen, war hilflos ausgeliefert. Jeder normal entwickelte Zehnjährige könnte ihn ohne Anstrengung im Bach ertränken.
Er schüttelte das Wasser aus seinem Haar und Gesicht wie Skipper und sah den Hang hinauf. An der Stelle, wo eben noch sein Mercedes gestanden hatte, als ihm kurz die Augen zugefallen waren, parkte nun der weiße Hilux-Pick-up und verstellte vorbeifahrenden Autos die Aussicht auf die Havarie am Wiesenhang. Michaels Blick wanderte
traurig zu dem offenen Handschuhfach keine drei Meter entfernt, in dem unter anderem seine nagelneue Sig Sauer P 320 9 mm-Pistole lag. Genauso gut hätte sie auf dem Mars liegen können.
Eine feminine, schwarz gekleidete Gestalt bewegte sich behände den Hang hinunter wie die Furie aus einem Albtraum. Sie hatte eine schwarze Skimaske übers Gesicht gezogen und war mit einer schallgedämpften Glock 21 bewaffnet. Als sie vor ihm stand, nahm Michael ein raffiniertes, teures Parfüm wahr.
Die Operatorin sah mit einem kleinen Lächeln in den warmen, braunen Augen auf seine wehrlose Gestalt herab, ehe sie sich neben ihn kniete. Mit auf sein Herz gerichtetem Schalldämpfer durchsuchte sie Michaels Taschen und nahm seine Brieftasche und sein Handy an sich.
Sie stand auf und versuchte, das Handy zu aktivieren.
»Code?«
»Leck mich.«
Sie warf das Handy weg. Die Augen unter der Skimaske lächelten unverdrossen und ruhig. Sie klappte seine Brieftasche auf, schob die Pistole unter den Gürtel und nahm ein Foto von Lene heraus.
»Hübsche Frau«, murmelte sie und sah Michael an. »Ich glaube, ich weiß, wer sie ist. Reichspolizei, stimmt’s?«
»Fuck you.«
Die Killerin seufzte geduldig. Ihr Blick wurde ernst, als wäre Michael ein trotziges Kind, das nicht einsehen wollte, was das Beste für ihn war.
Das nächste Foto zeigte Maria mit einem Plastikdiadem im Haar, aufgenommen an ihrem vierten Geburtstag
.
Die Operatorin musterte Michael. Die Drohung war unausgesprochen, aber glasklar.
»Die behalte ich«, sagte sie und steckte die Fotos ein.
Michael versuchte, den spitzen Schmerz zu ignorieren, der durch sein Bein schoss. Er befeuchtete die Lippen.
»Hören Sie, Sara. Ich weiß alles. Sara ist Ihr richtiger Name, oder?«
Das Lächeln kehrte in ihre braunen Augen zurück.
»Sie wissen alles?«
»Adigrat. Eine teuflische, todbringende … Entschuldigung, eine falsche Journalistin und ein Haufen toter Nonnen.«
Ihr Blick wandte sich nach innen – fast sehnsuchtsvoll –, ehe ihr Training und ihre Instinkte sie ins Jetzt zurückholten. Sie hob die Pistole, bis Michael schielend in den Lauf starrte.
»Das spielt im Moment keine Rolle«, murmelte sie.
»Doch, tut es!« Michael hasste sich für den unterwürfigen Unterton in seiner Stimme. »Wir sind beide Profis. Sie haben die Gelegenheit, jetzt zu verschwinden. Hauen Sie ab, verdammt noch mal! Lügen Sie! Sagen Sie denen, dass es eine Sackgasse war.«
Sie sah ihn enttäuscht an.
»Würden Sie das tun? Kurz vorm Ziel umkehren? Würden Sie auch nur eine Sekunde überlegen, eine Mission abzubrechen? Das glaube ich nicht.«
Seine Finger gruben sich in den nassen, weichen Lehmboden.
»Nein, natürlich nicht!«, sagte er zähneknirschend.
»Habe ich mir doch gedacht.
«
Wie eine Schlange umklammerte sie sein linkes Handgelenk, schob den Ärmel der Laufjacke hoch und sah stumm auf den in die Haut eingravierten Prätorianerhelm und das römische Kurzschwert. Sie ließ sein Handgelenk mit einem nachdenklichen Ausdruck in den diskret geschminkten Augen unter perfekt gezupften Brauen los und erhob sich.
Die Pistole hing an ihrem Arm herunter. Sie konsultierte ihre rostfreie Rolex und sah wehmütig zu dem am Boden liegenden Michael.
»Ich wäre gerne … Ich wäre wirklich liebend gern diejenige, die Michael Sander tötet. Hier und jetzt. Aber das ist nicht gestattet.«
Sein Mund war knochentrocken, obwohl ansonsten alles nass war.
»Ist es das nicht?«
»O nein, ist es nicht. Aber niemand hat etwas von Frauen oder Kindern gesagt. Verstehen wir uns?«
»Absolut.«
Er überlegte, wer ihr untersagt haben mochte, ihn zu sanktionieren.
»Ich gehe jetzt. Und hoffe, dass wir uns nie wiedersehen. Eine Katze hat nur neun Leben, wissen Sie.«
Sie stieg zügig den Hang hinauf.
Der Pick-up startete und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.
Michael legte den Hinterkopf im Bach ab und starrte zu den vorbeitreibenden Wolken, während eine Zeile von William Wordsworth aus seiner Erinnerung hochstieg.
Es fing an zu regnen.
Natürlich.