Ringsjö, Schonen
Die Sonne war zwischen
durchsichtigen, blauvioletten, schmetterlingsflügelzarten Lavendelschleiern untergegangen, und die Dämmerung senkte sich über den See. Die Birkenstämme hinterm Haus und am Seeufer leuchteten silbrig weiß, und die Blattspitzen waren in die purpurroten und orangegelben Farbeimer des Herbstes getaucht.
Gabra warf einen langen Schatten, als sie mit zwei dampfenden Kaffeebechern zu Thomas auf den Badesteg ging. Ihre Augen blitzten in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen.
Sie lächelte zärtlich.
Iskander saß in der kleinen Jolle am Ende des Stegs, die auf den Wellenspitzen auf und ab dümpelte, die der Nordwind auf dem Wasserspiegel verwirbelte.
Thomas nahm einen Becher und nippte daran.
»Tu das bitte nie wieder, Thomas. Ich war völlig außer mir vor Angst!«
Er lächelte sie verliebt an.
»Nie wieder. Versprochen.«
»Ist euch jemand gefolgt?
«
Er warf Iskander einen Blick zu, der mit im Wasser baumelnden Füßen achtern im Boot saß. Die Prothese war dunkel über der Wasseroberfläche und leuchtete weiß darunter.
»Die Polizei. Sie müssen irgendwie von der Übergabe Wind bekommen haben. Aber statt mir haben sie Henrik verfolgt, wie geplant. Er hat ihnen natürlich nichts gesagt.«
»Wie um alles in der Welt haben sie davon erfahren?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Anna hat mir erzählt, dass Frank einen Vertrag mit einem Verlag über eine Autobiografie abgeschlossen hat, in der er vor seinem Tod noch alles offenlegen wollte. Der Verlag hat für das Projekt einen Journalisten als Ghostwriter angeheuert. Frank hat sich wohl ein paar Mal mit ihm getroffen und sich ihm anvertraut.«
Thomas beschloss spontan, nicht zu erwähnen, dass besagter Journalist nach seinem letzten Treffen mit Frank Linden liquidiert worden war. Was sollte das bringen? Sie wollten ohnehin so schnell wie möglich weg. Nach Shangri-La.
Sie verlagerte das Gewicht, und die morschen Bretter unter ihr knarrten.
»Wird das Buchprojekt trotzdem realisiert?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er antwortete, indem er einen Finger an ihre Lippen legte.
»Das spielt keine Rolle, Schatz. Das Einzige, was zählt, sind wir drei. Sonst nichts. Und wir werden fort von hier gehen.
«
Eine Mischung unterschiedlichster Emotionen huschte über ihr hübsches Gesicht.
»Tun wir das?«
Thomas leerte den Kaffeebecher. Ließ ihn in den See fallen. Er schwappte hin und her, kippte, füllte sich mit Wasser, sank langsam und hellblau nach unten.
»Je eher, desto besser. Ich weiß, wie sehr du diesen Ort liebst … aber ich werde bedroht. Und ich will nicht riskieren, dass dir oder Iskander etwas zustößt.«
»Aber … Iskander hat hier Freunde. Er geht hier zur Schule, Thomas!«
»Das weiß ich auch. Aber was soll ich deiner Meinung nach tun? Hätte ich dich und ihn in Adigrat zurücklassen sollen? Eine alleinerziehende Mutter mit einem einbeinigen Sohn?«
Gabra versteinerte.
Er streckte die Hand nach ihr aus. Zog sie an sich. Sie gab nach.
»Tut mir leid«, sagte er mit dem Gesicht in ihrem nach Sandelholz duftenden Haar.
»Du musst dich nicht entschuldigen, Thomas. Ich weiß sehr gut, dass Iskander und ich dir alles verdanken.«
»Ihr habt mir aber auch alles gegeben«, sagte er.
Sie wand sich aus der Umarmung.
»Und wo wollen wir hin?«
»Ich glaube, Rhodos würde dir gefallen. Oder Kreta. Die Südküste. Am Fuß der Weißen Berge. Wir könnten einen Scooterverleih aufmachen. Oder ein kleines Café.«
Sie lächelte ihn an.
»Du weißt, dass ich überallhin mit dir gehe. Wie gut ist dein Griechisch?
«
»Nicht existent, aber ich bin sprachbegabt. Amharisch habe ich schließlich auch gelernt, oder?«
»So was Ähnliches wie Amharisch«, zog sie ihn auf.
Thomas’ Handy vibrierte. Die Panik zog ihm den Boden unter den Füßen weg, als er die Nachricht las.
»Was ist los? Was ist passiert?«
Er sah in ihre schönen Augen. Dann schaute er über ihre Schulter zum Wald hinter dem Haus.
»… Anna … Sie hat der dänischen Polizei unsere Adresse gegeben. Sie können jeden Augenblick hier sein. Henrik hat auch angerufen. Er wurde im Fælledpark von einem von ihnen festgehalten, konnte aber entkommen. Er ist auf dem Weg hierher, um uns zu helfen.«
»Wie heroisch von ihm.«
»Er ist mein bester Freund.«
»Ich weiß.«
Sie zog hart am Ärmel seines verwaschenen T-Shirts.
»Aber wieso die Polizei? Du hast doch nichts verbrochen. Im Gegenteil. Beruhig dich und erzähl mir, was hier läuft, Thomas!«
Er sagte nichts, sah zu Iskander in der Jolle. Der Junge pfiff tonlos, sortierte Schnüre und spießte Köder auf die Haken für eine letzte abendliche Angeltour.
Thomas riss sich so ungestüm von ihr los, dass ihr ein Nagel abbrach. Automatisch steckte sie die Fingerspitze in den Mund.
»Au!«
»Es ist nicht die Polizei, die mir Sorgen macht. Sind die Gewehre im Schuppen?«
»Wozu brauchst du Gewehre? Hör auf … Du machst mir Angst!
«
Gabra fiel ins Amharische.
Thomas versuchte, das Halbdunkel zwischen den Birkenstämmen zu durchdringen. Sein Jagdinstinkt war geweckt.
»Der Wald ist so still, Gabra. Viel zu still.«