In ihrem Tarnanzug war Sara im Halbdunkel bis auf wenige Meter Abstand nicht zu sehen. Sie blieb hinter der dritten Birkenreihe stehen, von wo aus sie einen freien Blick auf den Mann und die Frau auf dem Badesteg und den Jungen in der Jolle hatte.
Sara atmete tief und gleichmäßig, wie sie es in unendlichen Stunden auf den Schießbahnen der US Marines trainiert hatte. So lange, bis es ein Reflex war, über den sie nicht mehr nachdachte. Sie checkte den Pulsmesser am Handgelenk: 55 Schläge pro Minute. Optimal. Sie zog die Sehne des Compoundbogens an die rechte Wange und fixierte das Ziel durch das Fernrohr.
Einen Kilometer weiter die Straße hoch hatte sie ein Konferenzzentrum entdeckt, in dem Büromenschen Teambuilding lernten und in dem umliegenden Park herumspazierten. Das erforderte eine einigermaßen geräuschlose Waffe.
Sie atmete halb aus, wartete auf die Pause zwischen zwei Herzschlägen – und ließ den Jagdpfeil fliegen.
Thomas erspürte die minimale Bewegung zwischen den Birkenstämmen mehr, als dass er sie sah.
Ihre Augen weiteten sich, und sie hauchte ihm ihren warmen Atem ins Gesicht. In dumpfem Unglauben starrte er auf die hässliche, vielkantige und rasiermesserscharfe Pfeilspitze, die ihren Brustkorb durchbohrt hatte und aus ihrer linken Brust ragte, als würde sich ein mutierter Alien aus ihrem Körper schälen.
Sie stieß einen tiefen, gurgelnden Laut aus.
Thomas wusste, dass der Pfeil ihr Herz zerfetzt hatte.
Gabra war verloren.
Ihr überraschter Blick war noch auf ihn gerichtet, als er sich losriss und eine Warnung brüllend ans Ende des Badestegs spurtete.
Iskander starrte seinen Vater an.
Da hörte Thomas – durchdrungen von einer geballten, die ganze Welt umfassenden Verzweiflung – ein singendes Sirren über seinem Kopf. Der zweite Pfeil überholte ihn spielend.
»ISKANDER!«
Thomas versteinerte mitten im Schritt. Im selben Moment erscholl ein Schrei vom Ende des Badestegs. Iskander war weg, die Jolle leer. Auf dem ruhigen Wasser trieb eine hautfarbene Unterschenkelprothese.
Er drehte sich zu der alles Vernichtenden um.
Sara trat zwischen den Birken hervor. Der Bogen schwang lässig in ihrer rechten Hand, mit einem dritten Pfeil geladen. Kapuze und Maske hatte sie abgenommen.
Thomas erkannte sie sofort wieder, doch die Information erreichte seinen Verstand erst mit einer Verzögerung.
Das war unmöglich.
Sara war vor sechs Jahren in Adigrat umgekommen.
Ihre Stimme im diffusen Dunkel der Klosterzelle. Ihre Berührungen. Die Küsse. Wie sie ihm das Gefühl gegeben hatte, gesehen zu werden. Ihr Lächeln. Das Lachen. Ein schnurrender Fußball – virtuos angenommen und auf einem Fuß jongliert, zum Kopf hochgekickt. Dann ein Pass, der millimetergenau im roten Staub vor einem Mitspieler am Torpfosten landete, wenn von einem Tor überhaupt die Rede sein konnte bei diesem Gebilde ohne Netz und Querlatte, dessen Pfosten aus Stinklorbeer bestanden, die tief in die sandige Erde hinter der Mission gerammt worden waren.
Sie hatte den Badesteg erreicht. Stieg über seine tote Frau hinweg, ohne die Leiche eines Blickes zu würdigen. Die Bretter knarrten leise unter ihren Jagdstiefeln.
»Aber …«
Mit einer fließenden Bewegung schwang sie den Bogen nach oben und sah ihn über die vierblättrige, glänzende Pfeilspitze hinweg an.
Thomas wollte sich gerade umdrehen, als der Pfeil ihn mit unerhörter Kraft und einem unbeschreiblichen Schmerz unter dem linken Schulterblatt traf. Er schlug der Länge nach mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Wasser auf und sank.
Die Unterströmung wiegte seinen Körper träge hin und her, und er sah sie oben auf dem Steg stehen, regungslos, verschwommen, flimmernd wie durch ein kaputtes Prisma. Saras Gesicht war verschleiert, ihre Hände leer und unschuldig.
Thomas rotierte um seine eigene Achse. Das wiegende Seegras streichelte ihn zärtlich mit seinen kühlen Fingern.