Lene war noch nie in ihrem Leben so waghalsig gerast. Ihre Sinne waren geschärft, die Müdigkeit vergessen. Körper und Gehirn wurden von einem Profi-Rennfahrer gesteuert. Ihr Wagen bretterte über die schmalen, dunklen Schotterwege.
Bjarne schien zu beten.
Sie rasten an der Einfahrt zu einem Kongresszentrum vorbei und verspritzten eine Kaskade kleiner Steinchen und Staub über die friedlich herumschlendernden Menschen.
In dem Moment legte Michael ihr von hinten eine Hand auf die Schulter und zeigte zu den Rauchwolken über den Baumwipfeln vor ihnen. Der Rauch wurde von unten von orangeroten und gelben Flammen erleuchtet.
Lene nahm den Fuß vom Gas.
Sie hörten das Knistern der Flammen durch die Seitenfenster. Lene sah Michael über den Rückspiegel an. Sie kannte diesen Blick bei ihm, und jedes Mal hatte er bedeutet, dass er sich in einem Zustand berserkerartigen Zorns befand.
»Ich werde sie finden und umbringen«, sagte er leise, aber in einem Ton, bei dem sich ihre Nackenhaare aufstellten .
Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude standen in hellen Flammen, die gierig das trockene, alte Holz verschlangen wie Zunder. Ein paar Hühner waren über den Zaun entkommen, während der Rest wie Teerklumpen auf der Erde verteilt lag.
Mit Lenes Hilfe zwängte Michael sich mit steifen Knochen aus dem Auto. In der Hitze kräuselten sich die Haare und Augenbrauen. Er humpelte auf den Badesteg, wo quer über den Brettern die Leiche einer jungen Frau lag. Die Fingerspitzen der einen Hand berührten gerade so die Wasseroberfläche.
Lene kniete sich neben die Tote und tastete nach ihrem Puls am Hals und in der Leiste. Bjarne und Michael gingen weiter.
Die weiße Glasfiberjolle am Ende des Stegs war mit langen Streifen roten Arterienblutes dekoriert.
Michael blickte zurück zu den brennenden, halb verkohlten Gebäuden.
»Wo steckt Thomas, dieser Riesenidiot? Und der Junge?«
Bjarne schüttelte den Kopf, und vielleicht war es genau diese Bewegung, die seinen Blick auf etwas halb Untergetauchtes am hinteren Eckpfeiler lenkte. Er fasste Michael am Arm und zeigte aufgeregt in die Richtung.
»Da ist was! Gleich da drüben.«
Er lief ans Ende des Stegs, warf sich auf den Bauch und streckte sich nach einer Hand aus, die auf dem glatten Pfahl lag.
Lene, die durch Bjarnes uncharakteristische Behändigkeit aufmerksam geworden war, lief zu den beiden und kniete sich neben ihren Kollegen .
Sie bekamen Thomas Schmidts Hand und den Ärmel zu fassen.
»Wir haben ihn!«, rief Lene. »Und er lebt … glaube ich.«
Mit vereinten Kräften zogen sie den großen, schweren Mann auf den Steg. Michael forderte die beiden anderen auf, still zu sein, und studierte das Gesicht des Chirurgen. Die Pupillen waren wegen des Sauerstoffmangels geweitet, es war kein Puls zu fühlen, aber das eine Augenlid glitt einen Spaltbreit auf, als Michael mit einer Fingerkuppe über die Wimpern strich.
»Hol die Tasche«, rief er Lene zu und begann mit einer Herzmassage und Beatmung.
In einer kurzen Pause wies er Bjarne an, die Beine des Arztes hochzuhalten. Die Bretter unter ihm waren bereits blutverschmiert, aber vielleicht war ja noch etwas lebenspendendes Blut in den Beinen, das dringender im Bereich ums Herz und im Gehirn gebraucht wurde.
Lene rannte zu ihrem Auto. Seit sie Michael mit seinem legendären Talent dafür, beschossen, geschlagen oder niedergestochen zu werden, kannte, hatte sie beständig den Inhalt ihrer Erste-Hilfe-Tasche erweitert und war inzwischen fast so gut ausgerüstet wie ein Sanitäter.
Als Michael Lenes Schritte auf dem Steg hörte, hob er den Kopf.
»Er ist eiskalt. Möglicherweise hat ihn das bis hierher gerettet. Aber er ist fünfundneunzig Prozent weg.«
»Puls?«
»Kommt und geht. Sehr schwach. «
Er fuhr mit der Herzmassage fort, während Lene auf die brutale Pfeilspitze zeigte, die Thomas Schmidts linke Lunge durchbohrt hatte.
»Sollten wir die nicht besser rausziehen?«, fragte sie.
»Wir können sie genauso gut für eine Thoraxdrainage nutzen. Seine Lunge ist kollabiert.«
Nachdem Lene die Wiederbelebung übernommen hatte und Bjarne unverrückbar wie eine Statue die Beine des Chirurgen nach oben hielt, schraubte Michael die Pfeilspitze vom Schaft und befestigte an dem herausragenden Ende mit einem Laufknoten einen dicken Gummischlauch. Er nickte Lene zu, die den Verletzten so weit auf die Seite drehte, dass Michael am Rücken ganz behutsam den Schaft nach hinten und so den am anderen Ende befestigten Schlauch in den Brustkorb ziehen konnte. Danach zog er den Schaft aus der Schlauchschlaufe und drückte ein Heimlichventil in das freie Schlauchende, durch das augenblicklich Luft und Blut aus Thomas Schmidts Brustkorb strömte.
Als Nächstes legte Michael intravenöse Zugänge an den Halsvenen des Chirurgen und klemmte Bjarne einen Beutel Kochsalzlösung zwischen die Kiefer.
»Es schlägt«, murmelte Lene triumphierend. »Das Herz schlägt wieder, Michael.«
»Halleluja …«
Er sah die Hundemarke um Thomas’ Hals und nahm sie in die Hand. Bestimmt schrieben Ärzte ohne Grenzen ihren ausgesandten Ärzten vor, das zu tragen.
»A-Rhesus-negativ«, sagte er und sah sie an. »Genau wie ich.«
»Gute Idee! «
Lene legte einen Katheter in Michaels Ellenbeuge und verband ihn mit dem Venflon an Thomas’ Hals. Michaels Blut begann, in den Chirurgen zu fließen.
Die Pupillen des Arztes zogen sich zusammen, und Lene richtete sich auf, die Hände gegen die schmerzenden Lenden gedrückt.
»Jetzt können wir nur noch beten«, sagte Michael. »Das Einzige, was wir für den armen Teufel tun können. Wahrscheinlich ist er längst hirntot und die Harddisk gelöscht.«