Fast alle Plätze am Küchentisch
waren besetzt. Lene, Bjarne und Michael aßen ein höllisch scharfes Curry, das die Zahnfüllungen zum Glühen brachte, dazu tranken sie indisches Cobra-Bier.
Sie sagten nicht viel, das einzige Geräusch war das Klappern des Bestecks auf den Tellern. Falls doch einer von ihnen irgendetwas Belangloses sagte – weil alles andere, das mit den Ereignissen des Tages zu tun hatte, zu gewaltig, dramatisch und unbegreiflich war –, wurde er schnell von Thomas’ Schreien im Obergeschoss unterbrochen, wo Michaels Schwester sich um ihn kümmerte. Dann ließen sie stumm die Bestecke und Biergläser sinken und schauten in einer Mischung aus Grauen und Mitgefühl an die Decke, während Idas gnadenlose Anweisungen und Flüche die Treppe hinunterdrifteten.
Nach einer besonders furchterregenden Mischung hebräischer Schimpfwörter und herzerweichender Schreie wurde Bjarne leichenblass.
»Geht sie nicht ein bisschen hart mit ihm um?«, sagte er zu Michael.
»Sie war zu lange in Israel«, murmelte er. »Da haben sie ihr die dänische Sanftheit abgewöhnt.«
Bjarne schaufelte mehr Chicken Masala auf seinen Teller
.
»In Israel scheinen ähnlich strenge Sitten wie in Sparta zu herrschen.«
»Bestimmt.«
»Wie war sie als große Schwester?«
Die Schreie und das Flehen in der oberen Etage nahmen kein Ende.
Michael zeigte an die Decke.
»Was glaubst du, wieso ich zwei Tage nach meinem Abitur zum Militär gegangen bin?«
»Verstehe.«
Georgina stolperte in die Küche, völlig erschöpft nach einem Zehn-Stunden-Marathon mit Maria.
Lene und Michael sprangen von ihren Plätzen auf.
»Schläft sie?«
»Wie eine Tote«, sagte Georgina.
Lene eskortierte die Babysitterin zu einem freien Stuhl und tat ihr etwas zu essen auf.
»Georgina, setz dich doch. Wasser? Cola? Michael, hol eine Cola für das arme Mädchen.«
Georgina blickte zu den beschlagenen Bierflaschen auf dem Tisch. Michael öffnete eine und stellte sie vor ihren Teller.
Lene umarmte Georgina.
»Du Liebe, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, dass du so kurzfristig …«
Michael stimmte überschwänglich ein.
»Wir sind dir wirklich wahnsinnig dankbar, Georgina, das werden wir dir nie vergessen. Sie ist ein echter Satansbraten, unsere Kleine. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, was du durchgemacht hast.
«
Lene warf ihm einen wütenden Seitenblick zu.
»Ich glaube, alle haben verstanden, wie entsetzlich unser Kind ist, Michael. Aber jetzt iss erst mal was, Georgina. Und trink!«
Georgina sah ihr Bier an.
»Ich weiß nicht … meine Eltern …«
»Das ist indisches Bier«, sagte Michael. »Kaum Alkohol. Nichts, was gegen eure religiösen Lebensregeln verstoßen würde, oder, Bjarne?«
»Absolut.«
»Wir haben eine Gästezahnbürste, Georgina-Schatz«, sagte Lene.
Georgina setzte die Flasche an den Mund, leerte die Hälfte in einem Zug und quittierte es mit einem genießerischen Aaaaah
.
»Was ist eigentlich da oben los?«, fragte sie. »Das hört sich an, als würde jemand operiert oder so …«
Michael lächelte beschwichtigend.
»Ach was. Einer unserer Bekannten hat sich die Schulter ausgekugelt. Nicht das erste Mal. Das muss höllisch wehtun. Meine Schwester renkt sie ihm gerade wieder ein. Sie ist Ärztin, weißt du.«
Georgina kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sie schien ihm offensichtlich nicht zu glauben. Dann zuckte sie mit den Schultern.
»Sollte er nicht lieber in die Notaufnahme?«
»Er hasst Krankenhäuser.«
Lene wechselte das Thema.
»War Maria wirklich so unerträglich?«
Georgina dachte nach
.
»Ja und nein. Wir haben ferngeguckt und sind zufällig auf eine Zeichentrickserie gestoßen, Rick and Morty.
Damit war sie stundenlang abgelenkt. Ich fand die Filme ziemlich durchgeknallt, aber Maria war begeistert.«
Michael lächelte sie an.
»Hast du schon mit dem Kapitän der Pelagia Australis
gesprochen?«
Georgina strahlte, als hätte jemand eine Glühbirne in ihr angeknipst.
»Ich mustere am Wochenende vor den Herbstferien an«, erzählte sie begeistert. »Wir segeln dann erst zu den Shetlandinseln und danach nach Grönland. Ich freu mich total darauf.«
Lene sah Michael fragend an, der ihren Blick ignorierte.
Am späteren Abend saßen Michael und Lene schweigend in der leeren Küche, zwischen sich eine unüberwindliche Wüstenei. Georgina war, um tausend Kronen reicher, nach Hause geradelt, und Bjarne hatte sich ein Taxi gerufen.
Sie hörten oben Wasser laufen und verzogen das Gesicht, als ein gedämpfter Schrei ertönte, gefolgt von einem Röcheln.
Lene trank einen Schluck Bier. Das war ihre vierte oder fünfte Flasche. Sie hatte aufgehört mitzuzählen.
»Hat er unterwegs irgendwas gesagt?«, fragte sie. »Ich meine … war er bei Bewusstsein?«
»Absolut klar. Ein echt zäher Brocken. Ich gehe mal davon aus, dass du sein Tagebuch gelesen hast. Wer kommt übrigens für meine zertrümmerte Bürotür auf?
«
»Wenn ich nicht in dein Büro eingebrochen wäre, wärst du jetzt immer noch unter der Stoßstange eingeklemmt … von Kühen umringt.«
Michael schüttelte sich.
»Erinner mich nicht daran.«
Sie sah ihn an.
»Michael, wie kommt es eigentlich, dass wir sehenden Auges auf eine Katastrophe zusteuern, in der wir nicht nur unser Leben, sondern auch das unserer Tochter und deiner Schwester riskieren? Das würde ich wirklich gerne wissen.«
Er tupfte mit dem Daumen ein paar Reiskörner vom Teller.
»Hör auf damit und antworte mir!«
»Entschuldige … Es hat sich herausgestellt, dass Rivaquantel nicht nur gegen Bilharziose, sondern mindestens so effektiv gegen Diabetes wirkt. Und beeindruckend kostengünstig in der Produktion obendrein.«
»Aber das ist doch gut, oder nicht?«
Michael machte eine Flasche mit den Zähnen auf, und Lene verzog das Gesicht.
»Kommt ganz auf den Blickwinkel an«, sagte er und setzte die Flasche an die Lippen. »Aus Patientenperspektive ist es ein Segen, für die Pharmaunternehmen eine Katastrophe. Es würde dem multimilliardenschweren Industriezweig den Teppich unter den Füßen wegziehen. Die Aktien wären höchstens noch als Isolationsmaterial für Dachböden zu gebrauchen. Hunderttausende Angestellte stünden auf der Straße. Selbst bei so stolzen nationalen Flaggschiffen wie Linden Pharma.
«
Lene zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und versah Michaels Kopf mit einem perfekten Rauchglorienschein. »Darum haben sie beschlossen, Rivaquantel und alle, die damit zu tun hatten oder davon wussten, auszuradieren?«
»In einem weit entfernten, abgelegenen Winkel Äthiopiens. Es wäre alles perfekt gewesen, wenn Thomas nicht überlebt hätte.«
Lene beugte sich zu ihm vor. Ihre Augen funkelten wie bei einer aufgescheuchten Zibetkatze.
»Wer tut so etwas?«
Er zog die Schultern hoch.
»Es gibt Dutzende kleiner und großer Firmen, die solche Aufträge übernehmen. Söldner, Sicherheitsfirmen. Aber wenn man sichergehen will, dass es ordentlich und wasserdicht erledigt wird, ist höchstens eine Handvoll von denen qualifiziert genug.«
Er fasste sich an den Kopf und sah sie an.
»Ich bin ein totaler Idiot! Verdammt, sie kannte dich. Sie hat das Foto von dir behalten, das in meiner Brieftasche steckte, und meinte, dass sie dich kennt.«
Lene runzelte die Stirn.
»Eine schlanke Brünette?«
»Keine Ahnung. Sie hat eine Skimaske getragen. Braune Augen. Und schlank war sie, ja.«
»Auto?«
»Ein weißer Toyota Hilux. Das Kennzeichen konnte ich nicht sehen. Eine echte Satansbraut.«
»Die war gestern in Lindens Gutshaus. Die halbe Direktorentruppe von Linden Pharma war dort versammelt. Ich dachte, sie wäre die Privatsekretärin von einem von ihnen.
«
Michael spürte sein Bein nicht mehr und hatte kein gesteigertes Bedürfnis, es näher zu untersuchen.
Lenes Informationen ließen nur eine unausweichliche Schlussfolgerung zu.
»Mit wem war sie dort?«, fragte er leise.
»Engländer. Oberklasse. Ein echter Schrank, weißer Vollbart mit …«
»… einem schwarzen, senkrechten Streifen exakt in der Mitte?«
»Ja! Woher weißt du das?«
Michael verschränkte die Finger unter seinem rechten Oberschenkel und verschob das Bein wie einen Fremdkörper. Es war steinhart und viel dicker als das andere.
»Vincent Armitage Blythe. Mein früherer Verbindungsoffizier bei Shepherd & Wilkins. Herrgott! Sie hätte mich mit Leichtigkeit ins Jenseits befördern können, Lene, aber sie meinte, das wäre ihr nicht erlaubt. Sie war enttäuscht, hätte mir leidenschaftlich gern einen Kopfschuss verpasst.«
»Vincent Armitage Blythe? Dein Blutsbruder aus Afghanistan?«
»Ich habe ihn gestern kontaktiert, um mich zu erkundigen, ob er professionelle Auftragsmörderinnen kennt. Es ist hundert Jahre her, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Und er hat viel zu viele Details erzählt. Er hat gelogen. Dann war er also auch im Gutshaus?«
»Ja, und sie stand direkt neben ihm«, sagte Lene.
»Verdammt …«
Michael starrte vor sich hin, während er die Erkenntnis sacken ließ
.
»Er wäre auf alle Fälle perfekt für die Planung und Durchführung des Massakers in Adigrat geeignet. Ich als Auftraggeber hätte ihn dafür gewählt.«
Lene stand auf, ging um den Tisch herum, legte die Arme von hinten um seine Schultern und küsste ihn in den Nacken.
»Das konntest du doch unmöglich wissen, Schatz.«
»Ich brauche unbedingt die Filmaufnahmen der Drohnen über Adigrat«, murmelte er.
»Wie?«
»Was meinst du mit … wie?«
»Selbst mir ist klar, dass man so was nicht einfach bei Google Play runterlädt. Auch wenn du mich für inkompetent hältst, was euer großes, großes Spiel betrifft. Aber hör endlich auf, mich zu unterschätzen.«
»Das tu ich nicht.«
»Tust du wohl.«
»Du hast mir das Leben gerettet.«
Lene ging zurück an ihren Platz. Sie faltete die Hände auf der Tischplatte und atmete tief ein. Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren völlig surreal. Sie hätte gerne die Zeit gehabt, die vielen Eindrücke zu verarbeiten und Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber die Zeit hatte sie nicht.
Die Wanduhr über der Tür tickte unnatürlich laut. Dann blieb die Zeit stehen.
»Michael?«
Ihre Stimme klang wie unter Wasser.
Sie machte einen neuen Anlauf.
»Michael?«
»Ja?
«
»Hör auf. Jetzt. Wenn nicht, muss ich dich festnehmen. Und ich verlasse dich.«
Sie hasste ihre wackelige Stimme. Hasste die Tränen, die hinter den Lidern brannten und über ihre Wangen rollten, obwohl sie mit aller Macht versuchte, sie zurückzuhalten.
Michael setzte die Flasche wieder an den Mund.
Er ist brillant, dachte sie. Aber er soll mich nie wieder zum Narren halten.
»Wovon …«
»Wovon redest du?
Das wolltest du sagen, oder?«
Er wandte den Blick ab, und dafür liebte Lene ihn. Sie drang zu ihm durch, und sie gehörten zusammen. Das musste man ihm nur ab und zu nachdrücklich eintrichtern.
Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Blies einen neuen Rauchring. Aber diesmal in Richtung des geöffneten Küchenfensters.
»Flemming Brandt«, sagte sie. »Und eine stinkreiche Kosmetikerbin, die einen Kopfsprung aus ihrer Penthousewohnung im Bois de Boulogne gemacht hat. Dann noch ein Medienmogul namens Hernandez, wohnhaft am Rand von Barcelona. Muss ich noch mehr sagen? Die drei hatten sehr ungesunde Interessen. Sie waren Mörder.«
Michaels Blick huschte ruhelos hin und her.
»Wer weiß davon?«
»Bjarne hat ein Muster erkannt. Er ist perfekt in diesen Dingen. Asperger, du weißt schon. Er hat dein Handy vor Brandts Haus geortet und weiterverfolgt. Bjarne vergöttert dich. Bis zu einer gewissen Grenze. Aber er ist auch ein rechtschaffener Mensch. Ich bin zu Brandts Haus gefahren …«
»Ja?
«
»Verdammt, Michael! Hältst du wirklich alle anderen außer dir für schwachsinnig? Warum waren keine Fingerabdrücke von Flemming Brandt an dem verfluchten Dachbalken zu finden, um den er das Seil geknotet hatte? Und wo ist das Wechselgeld aus dem Schiffszubehörladen geblieben?«
Lene stand auf und ging ein paar Runden durch die Küche. Sie ertrug es nicht, ihn anzusehen.
»Du hast schon mal von Europol gehört, oder?«, fragte sie sarkastisch. »Und stell dir vor, die haben Algorithmen erstellt über unaufgeklärte, sich stark ähnelnde und äußerst ungewöhnliche Verbrechen. Verbrechen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass alle Ermordeten die Produktion und den Vertrieb gewalttätiger Kinderpornografie finanziert haben. Und dass an keinem der Tatorte kriminaltechnisch relevante Spuren gefunden wurden, dafür aber alle Computer, Mobilgeräte und Tablets offen und für jedermann zugänglich waren wie auf einer verflixten Elektronikmesse! Und jetzt lass zum Teufel endlich den Teller in Ruhe, Michael! Das nervt.«
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Ich verstehe, was du sagst, Lene, aber …«
Sie klatschte ironisch.
»Fantastisch, du verstehst etwas!«
»Dir ist schon klar, was sie den Kindern angetan haben, oder?«
Sie blieb stehen.
»Ja«, sagte sie einen Hauch sanfter. »Natürlich. Ich habe es gesehen. Was nicht in meinen Kopf will, ist, wie du dich auf so etwas irrsinnig Dummes und Riskantes einlassen konntest. Ich bin nicht der einzige Bulle bei der Reichspolizei,
der über ein Gehirn verfügt, Michael, und das ist bei der spanischen und französischen Polizei auch nicht anders.«
Sie machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach.
»Und, was kommt als Nächstes? Dass du serbische Nationalisten und Kriegsverbrecher aufspürst und hinrichtest? Terroristen?«
Er wurde rot vor Wut.
»Natürlich nicht. Wenn du es wirklich wissen willst …«
Lene unterbrach ihn.
»Findest du nicht, dass ich alles Recht der Welt habe, informiert zu werden?« Sie zählte an den Fingern ab. »Erstens: Ich bin Kriminalhauptkommissarin und ermittele im Linden-Fall. Und zweitens: Ich bin mit dir verheiratet. Gott sei Dank ist die auf den Brandt-Fall angesetzte Kommissarin so dumm, dass sie den eigenen Arsch nicht mit zwei Händen und einer Landkarte findet.«
Michael breitete die Arme aus.
»Wegen Maria! Darum! Viele der Kinder waren nicht älter als unsere Tochter, Lene! Serbische Kriegsverbrecher gehen mir am Arsch vorbei. Um die soll der Teufel sich kümmern.«
Sie setzte sich.
Die nächste Minute sagte keiner von ihnen etwas.
»Also gut«, murmelte Lene schließlich. »Ich verstehe. Natürlich verstehe ich. Aber du musst damit aufhören. Maria braucht ihren Vater … in der Realität und nicht theoretisch.«
Michael nickte.
»Ich bin eine mündliche Vereinbarung eingegangen. Wenn ich es nicht mache, wer dann …? Aber okay. Was ist mit Bjarne?
«
»Er ist hinter all seinen fürchterlich nervenden Macken ein gradliniger und gesetzestreuer Mann. Ich kann dir zwar nicht garantieren, dass er bis in alle Ewigkeiten dichthält, aber ich werde noch ein ernstes Wort mit ihm reden.«
Michael sah sie an wie ein Ertrinkender.
»Und du … Was ist mit dir?«
»Ich liebe dich. Bedingungslos. Das tue ich, seit ich dich vor hundert Jahren das erste Mal gesehen habe. Das simpelste und schwerste Unterfangen auf der Welt, weil du nicht leicht zu lieben bist.«
»Danke.«
Die Tür knallte gegen die Wand, als Michaels Schwester Ida die Küche betrat.
Einerseits bedauerte Lene die Störung, andererseits war sie ihr herzlich willkommen.
Michael schickte seiner Schwester ein gequältes Lächeln, das sie nicht erwiderte. Ida hatte schmale Augen in dem identischen Ozeanblau wie ihr Bruder. Ihr pechschwarzes Haar bekam inzwischen ein paar graue Strähnen, aber sie war noch immer sportlich, schlank und ausdauernd.
Die Geschwister waren schon immer eng miteinander verbunden und hatten vor langer Zeit aufgehört, mit Worten zu kommunizieren. Michael war der große Bruder, Ida die kleine Schwester, und wehe dem, der versuchte, sich zwischen sie zu stellen.
Ida ließ sich auf einen Stuhl fallen und schnappte sich eine von Lenes Zigaretten.
»Kaffee, bitte! Danke.
«
Sie schnipste auffordernd mit den Fingern. Obgleich seit acht Jahren wieder zurück in Dänemark, hatte ihre Stimme nach wie vor das tiefe hebräische Timbre.
Michael betrachtete die Blutstropfen, die ihre elegante weiße Bluse vom Kragen bis zum dritten Knopf schmückten. Er zeigte auf sein eigenes, dreckiges Hemd.
Ida schaute an sich herunter und zuckte mit den Schultern.
Lene machte sich an der selten benutzten italienischen Espressomaschine zu schaffen, die mehr Einstellungen und Knöpfe hatte als das Cockpit eines Raumschiffes.
Ida musterte das Ehepaar mit einem Blick, der sowohl Ärger als auch Ehrfurcht ausdrückte.
»Wie oft soll ich euch eigentlich noch euren Arsch retten? Ich war in der Oper!«
»Ich werde dir neue Tickets besorgen«, sagte Michael.
»Und mit jedem Mal wird es schräger und komplizierter«, fuhr sie unverdrossen fort. »Wer ist er?«
»Michael, erklärst du ihr das?«, fragte Lene.
»Ich denke, es ist das Beste, wenn du das nicht weißt«, sagte Michael ernst. »Ich kann dir nur so viel sagen, dass er vor ein paar extrem gnadenlosen und routinierten Männern und Frauen auf der Flucht ist, die ihn kaltmachen wollen.«
»Das ist ihnen zu neunzig Prozent gelungen«, sagte Ida. »Mein Kompliment übrigens für eure Erste Hilfe. Ohne die Drainage seiner Brusthöhle und die Blutspende hätte er nicht überlebt. Ein Pfeil durch die Lunge! So was ist mir bisher noch nicht untergekommen. Ich gehe mal nicht davon aus, dass es Indianer waren?
«
»Keine gewöhnlichen Indianer«, räumte Michael ein. »Wie geht es ihm?«
»Dafür, dass er mindestens ein halbes Dutzend Mal dem Tod von der Schippe gesprungen ist, erstaunlich gut.«
Ida sah von Michael zu Lene.
»Aber er gehört auf die Intensivstation einer Universitätsklinik. Andererseits hat sein Sohn überlebt, was ihm einen Grund gibt weiterzukämpfen.«
Michael und Lene tauschten Blicke, und prompt verbrühte sie sich die Hand an einem verirrten Dampfstrahl der Espressomaschine. Sie fluchte und steckte sich den Finger in den Mund.
»Nescafé?«, schlug Michael vor.
»Jetzt kriegt Ida verdammt noch mal ihren Double Shot«, sagte Lene gereizt.
Sie hat mir noch nicht verziehen, dachte er.
»Ich habe unserem Flüchtling ein paar Beutel universelles Spenderblut gegeben, das ich aus der Blutbank entwendet habe. Jetzt braucht er noch ein Breitbandantibiotikum … und dass jemand für ihn betet. Ich hoffe, dass ich morgen die Lungendrainage entfernen kann.«
Sie beobachtete Michael mit einer hochgezogenen, fein geschwungenen Augenbraue, der vorsichtig, aber mit mäßigem Erfolg versuchte, wieder Leben in sein rechtes Bein zu massieren.
»Was ist los, Bruderherz? Du siehst aus wie nach einem Peeling mit einem Bandschleifer.«
»Frag nicht weiter«, bat Michael sie.
»Und was ist mit deinem Bein?«
»Nichts, ich glaube …
«
Lene funkelte ihn wütend an.
»Zeig ihr dein Bein. Du warst unter einem Auto eingeklemmt, verdammt noch mal!«
Mit Mühe erhob er sich vom Stuhl und öffnete den Gürtel und den Knopf. Die Hose rutschte bis zu den Knöcheln runter.
Die beiden Frauen schnappten nach Luft.
Lene legte die Hände vors Gesicht.
Michael sah nicht hin.
»Ist es so schlimm?«
Idas Gesicht war besorgniserregend ausdruckslos.
»Natürlich nicht. Ein bisschen warmes Wasser und Seife … Das sieht bestimmt viel schlimmer aus, als es eigentlich ist.«
»Glaubst du?«
»Nein.«