Fünfzig Meter von Lenes und Michaels Haus entfernt rollte ein geliehener VW Passat mit ausgeschaltetem Motor an den Randstein.
Vincent Armitage Blythe stieg aus und sah sich um. Die Straße lag still und verlassen da. In seiner dunkelgrauen Windjacke, dem schwarzen Rollkragenpullover, den schwarzen Sneakers und der dunkelgrauen Hose verschmolz er mit der Morgendämmerung.
Michael Sander war in keiner offiziellen oder inoffiziellen Datenbank zu finden, Kriminalhauptkommissarin Lene Jensen schon.
Michaels Villa sah bis auf den Lichtstreifen, der aus einem Kellerfenster auf der Rückseite des Hauses auf das Garagentor fiel, verlassen aus. In dem riesigen Garten standen alte Bäume mit ausladenden Baumkronen.
Blythe fand den Alarmkasten exakt an der erwarteten Stelle: im hohen Gras versteckt am Fuß der Veranda. Er öffnete ihn und schloss mit einem Stück Stanniol aus einer Kaugummipackung die Bewegungsmelder des Hauses kurz. Danach klappte er den Deckel des dunkelblauen Restmüllcontainers neben der Garage auf und untersuchte im Lichtkegel einer kleinen Stabtaschenlampe den Inhalt der Müllsäcke: blutige Verbände, leere Transfusionsbeutel, Infusionsschläuche, leere Plasmaexpander und ein blutiges Laken. Er packte das Ganze wieder so zusammen, wie er es vorgefunden hatte, und knotete die Säcke zu. Dann richtete er sich auf und versuchte, sich zu erinnern.
Was genau hatte Sara zu ihrem Intermezzo mit Sander gesagt? Dass sie ihn einigermaßen intakt zurückgelassen hatte, in einem schmerzhaften und unbequemen, aber nicht lebensbedrohlichen Zustand. Die Hinterlassenschaften im Müllcontainer zeugten allerdings eher von einer Not-OP.
Die Zusammenfassungen der Operatorin fielen immer sachlich und korrekt aus. Deshalb war er sich ganz sicher, dass irgendetwas nicht stimmte.
Blythe fiel ein, dass Michaels Schwester Chirurgin war, ausgebildet in Tel Aviv.
Er war immer sehr stolz auf sie gewesen.
Skipper lag wie ausgestopft auf Michaels Fuß. Plötzlich hob er den Kopf und gab ein Knurren in einer ungewohnt tiefen und seltenen Tonlage von sich. Er erhob sich, witterte, winselte und sah zu seinem Herrn und Meister auf.
Michael betrachtete ihn mit hochgezogenen Brauen. In seinem Bauch flatterte ein Schwarm Schmetterlinge hoch.
Skippers Nackenhaare stellten sich auf, worauf Michael den Waffenschrank öffnete und sich ausrüstete. Lene und er hatten in das avancierteste Alarmsystem investiert, das es für Geld zu kaufen gab – aber er konnte sich ums Verrecken nicht daran erinnern, ob er selbst oder Lene daran gedacht hatte, es scharfzuschalten, nachdem Bjarne und Georgina gegangen waren. Sie hatten so viel anderes im Kopf gehabt.
Der Hund stand an der Tür.
»Was ist los, Skipper?«
Skipper schüttelte sich. Dann winselte er wieder und sah ihn an.
Er löschte das Licht im Büro und schlich hinter Skipper her, der voranlief und sich regelmäßig nach seinem Herrchen umschaute.
Tief in Gedanken versunken, drehte Blythe sich um und ging über das lange Rasenstück zur Einfahrt. Er warf einen letzten Blick zu dem dunklen, stillen Haus und hatte fast die Kiesauffahrt erreicht, als sich ein menschlicher Umriss aus den Schatten schälte, ein lautloser Geist.
Er blieb stehen und seufzte. Dann machte er ein paar vorsichtige Schritte. Das Licht einer entfernten Straßenlaterne warf einen schmuddeligen Schein auf Michaels halb nackten, vernarbten Gladiatorkörper und ließ eine Pistole aufblitzen, die leger an Michaels ausgestreckter Hand direkt neben seiner schwarzen Adidas-Trainingshose hing.
Das, was Blythe vom Gesicht seines langjährigen Freundes und Kollegen sehen konnte, war komplett unergründlich.
»Beißen die Forellen nicht mehr im River Tay?«, fragte Michael.
Der Engländer räusperte sich.
»Nicht wie gewohnt, nein.«
»Nichts scheint mehr so zu sein wie gewohnt, Vince.«
Der Engländer zögerte .
»Du hast vollkommen recht, mein Junge. Alles zerfällt. Nicht zuletzt die operative Effektivität.«
»Du meinst Sara?«
Blythe blieb ihm die Antwort schuldig.
»Bist du gekommen, um mich zu töten, alter Knabe?«, fragte Michael in einer passablen Imitation von Blythes schleppendem, whiskyrauchigen Oberklasseakzent.
Blythe zog hilflos die Schultern hoch.
»Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich mir in diesem Punkt nicht sicher bin?«
»Nein.«
»Selbstverständlich nicht. Ich an deiner Stelle würde mir auch nicht glauben. Das ist nichtsdestotrotz die Wahrheit.«
»Dann belassen wir es dabei, Vince. Um der Unterhaltung willen.«
Blythe konnte das Weiße in Michaels Augen sehen. Sein Freund sah ihn traurig an, und Blythe wusste, was jetzt kommen würde.
»Warum Äthiopien, Vince? Zum Teufel, Mann! Du hast das Horn von Afrika doch noch nie leiden können.«
Blythe sah auf Michaels Laufschuhe.
»Das kann ich immer noch nicht. Das ist der gottverlassenste und hoffnungsloseste Ort auf der Welt.«
»Der seit dem 5. April 2012 noch gottverlassener ist ohne die Barmherzigkeit der Kirche.«
»Was willst du von mir hören? Das ist mein Job. Frauen. Kinder. Universitäten. Verfluchte Ponys. Dinnerpartys. Es hört nie auf, Mike.«
»Zwanzig betagte Nonnen? Eine junge Mutter? Das wäre uns früher im Traum nicht eingefallen, Vince. Niemals. Aber genau das tust du jetzt, mit Sara als todbringender Speerspitze.«
Michael machte eine Pause von der Länge eines Atemzugs.
»Ich werde sie aufspüren und umbringen.«
Der Engländer deutete ein Lächeln an.
»Was möglicherweise nicht so leicht sein wird, wie du es dir vorstellst, Mike. Sie ist gut.«
»Aber so wird es sein.«
Ein niedriger Schatten glitt über die Rasenfläche und setzte sich neben Michael. Der Hund sah Blythe an, ohne zu blinzeln.
»Es gibt kein besseres Alarmsystem als einen guten Hund«, sagte Blythe anerkennend.
»Da stimme ich dir zu«, sagte Michael.
»Wie heißt er?«
Michael zögerte.
»Skipper.«
»Mein alter Funkname?«
»Ja.«
Blythe bewegte seine rechte Hand zur linken Innentasche seiner Windjacke.
»Darf ich?«
»Natürlich«, sagte Michael.
Er verströmte die spezielle und unerschütterliche Wachsamkeit, die sehr gefährlichen Menschen zu eigen war.
Sein Verbindungsoffizier steckte sich einen Zigarillo an und zog einen Augenblick in Erwägung, die Glut in Michaels Auge auszudrücken und seine kurzläufige Smith & Wesson .38 zu ziehen, die am Rücken unter seinem Gürtel steckte, ließ den Gedanken aber genauso schnell wieder fallen. Er wäre tot, ehe seine Finger den Schaft erreichten. Michael würde den Schmerz und den Funkenregen ignorieren und ihn niederschießen. Das war es, wozu er den Dänen ausgebildet hatte: Schmerz zu absorbieren und weiterzumachen.
»Dir ist sicherlich klar, dass ich ihr untersagt habe, dich umzubringen?«
Michaels strenge Gesichtszüge entspannten sich für einen kurzen Moment.
»Das weiß ich, und dafür bin ich dir dankbar. Ich … und meine Familie.«
Blythe lächelte gezwungen. Er fühlte sich beobachtet und warf einen Blick über die Schulter. Eine Person mit einer Zigarette in der Hand lehnte sich aus dem offenen Fenster eines dunklen Mansardenzimmers. Die Glut erleuchtete das schmale, dunkle Gesicht.
Der Engländer richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Michael.
»Deine Schwester?«
»Ja.«
»Mir sind ein paar ungewöhnliche Dinge in deiner Mülltonne aufgefallen. Betreibst du neben deiner Sicherheitsfirma noch eine Privatklinik?«
»Nur bei akutem Bedarf.«
Blythes Hand zitterte. Er warf den Zigarillo weg, trat ihn unter der Sohle aus und schob die Hand in die Tasche. Dann schüttelte er fassungslos den Kopf.
»Schmidt hat also überlebt? Schon wieder? … Dieser Kerl … Verdammt! «
»Können wir uns auf Gleichstand einigen, Vince?«, fragte Michael. »Ich habe im Shahi-Kot-Tal so oft deinen Arsch gerettet, danach in Myanmar und an jenem Sonntag in Rom.«
»Das werde ich dir niemals vergessen.«
Blythe schob den rechten Jackenärmel hoch und stellte ihre gemeinsame Tätowierung zur Schau: den Prätorianerhelm und das Schwert – und das wichtigste Wort in ihrer Welt: Fidelius.
»Erinnerst du dich noch an die miese, runtergekommene Tattoo-Bude in Islamabad, wo wir sie uns haben stechen lassen? Wir waren fast blind, so betrunken waren wir, und sicher, dass wir uns mit HIV infiziert haben, oder zumindest mit Hepatitis.«
Er streckte die Hand in einer unbeholfenen, fast verzweifelten Geste nach Michael aus.
Und ließ sie sinken.
»Ich erinnere mich gut daran«, murmelte Michael.
»Verdammt, Mike, wir sind Blutsbrüder!«
»Das möchte ich gerne glauben, darum lasse ich dich gehen.«
»Du hast jetzt Familie? Frau und Kinder? Ich hätte schwören können …«
»Man wird klüger«, sagte Michael. »Oder dümmer.«
»Letzteres«, sagte Blythe bitter. »Familie wird völlig überbewertet. Die bringen dich um.«
Michael sah den Engländer an. Eine Amsel begrüßte den neuen Tag mit einem kristallklaren Triller vom Dachfirst.
»Ich habe gesagt, dass ich dich gehen lasse, Vince. Das bedeutet, dass du gehen sollst. Jetzt. Und das bedeutet auch, dass du dich aus diesem Projekt zurückziehst. Komplett. Brich den Kontakt zu deinen Herren und Meistern ab. Dir wird schon eine Entschuldigung einfallen. Sollten sich unsere Wege noch einmal kreuzen, was hoffentlich nie passiert, werden die Karten neu gemischt.«
Der Verbindungsoffizier errötete trotz der kühlen Morgenluft.
»Du bist so unfassbar arrogant, das warst du immer schon, aber naiv warst du nie. Du weißt, dass du dieses Spiel nicht gewinnen kannst, Mike.«
Der Engländer suchte vergeblich nach einer Spur des Zweifels in Michaels Gesicht.
»Du kämpfst gegen eine Multimilliarden-Industrie, die bereit ist, alles zu investieren, um dich auszuschalten. Und Schmidt. Und Anna Linden.«
Er hob beschwörend die Arme.
»Und wozu das Ganze? Weil alle wollen, dass es genauso weitergeht wie gehabt, verdammt noch mal! Niemand wird euch euren Einsatz danken.«
»Außer einer Reihe Diabetes-Patienten, die an allen möglichen Nebenwirkungen und Komplikationen leiden.«
Blythe nickte müde.
»Außer denen, ja. Aber wir haben es mit einem Ungeheuer zu tun, das nicht einmal du besiegen kannst. Rivaquantel … Da könnte man genauso gut Gillette auffordern, eine Pille zu entwickeln, die jeglichen unerwünschten Bartwuchs verhindert. Warum sollten sie das tun? Mike, zum Teufel, wach auf!«
Michael lächelte schwach.
»Ich bin hellwach. Dafür haben Sara und du gesorgt. Gehe ich recht in der Annahme, dass dir nicht daran liegt, mir eine Menge Zeit und Mühen zu ersparen, indem du mir sagst, wo ich sie finde?«
Blythe wiegte den Kopf.
»Egal, was du von mir denken magst … Was auch immer du glaubst, in wen ich mich verwandelt habe, ich bin immer noch ein Profi, und genau das würde ich nie tun.«
»Verstehe. Dann schlage ich mich allein durch. Und das tust du jetzt auch. Mach’s gut, Vince.«
Der Hund knurrte tief in der Brust.
Blythe überquerte die Straße und setzte sich in den Leihwagen.
Und er fluchte laut und frustriert in der stillen Kabine.
Ida kam auf Michael zu. Ihre Füße in dem kalten, taunassen Gras waren nackt, ihre Hände in den tiefen Taschen des Bademantels vergraben.
»War das jemand, den ich kennen sollte?«
Michael setzte sich auf einen Gartenstuhl und massierte sein schmerzendes Bein.
»Was zum Teufel hat man bloß vor der Erfindung des Morphins gemacht?«
»Gelitten. Noch mal: War das jemand, den ich kennen sollte?«
»Mein früherer Boss bei S&W. Ein guter Mann. Verantwortungsvoll und gewissenhaft auf seine ganz spezielle Art. Aber nun hat er die Seiten gewechselt.«
»Was hat er zu dir gesagt?«
»Dass ich nicht gewinnen kann.«
»Hat er recht?«
Michael schielte zur ersten Etage hoch .
»Bestimmt. Wie geht es Thomas?«
»Okay. Aber wie zum Teufel soll es für ihn weitergehen?«
»Das wissen die Götter«, sagte Michael. »Er muss sich wie die verlorenste Seele auf unserem Planeten fühlen.«
»Darum sorge ich auch dafür, dass er die meiste Zeit bewusstlos ist.«