Die Operatorin ging durch den Flur, gähnte hinter vorgehaltener Hand und zog den Bademantelgürtel fester. Blythe hatte noch nie einen Hausbesuch gemacht. Irgendetwas musste gründlich schiefgelaufen sein.
An ihrem rechten Oberschenkel saß ein Halfter mit kleinem Revolver. Sie öffnete die Wohnungstür, bat den Verbindungsoffizier herein und studierte sein Gesicht, das freundlich wie immer war. Er schob sich an ihr vorbei und hinterließ im Kielwasser den Geruch von frühem Morgen und Zigarillos.
Sie durchliefen die Suite mit ihren hohen, luftigen Räumen. Vor der geöffneten Doppeltür, die zum Balkon rausführte, blieb er stehen. Hundert Meter entfernt wölbte sich die formvollendete Kuppel der Marmorkirche dem Himmel entgegen.
»Prachtvoll«, murmelte er und nahm ohne Einladung in einem hohen Ohrensessel Platz, von wo aus er immer noch einen Teil der Kirchenkuppel sah. Seine großen, blassen Hände lagen entspannt auf den Armlehnen.
Sara lehnte sich mit den Händen in den Taschen an den Kachelofen.
»Kaffee?«, fragte sie.
»Nein, danke. Eine hübsche Wohnung haben Sie, Sara. Äußerst geschmackvoll, muss ich sagen. «
»Überrascht Sie das?«
Blythe lächelte großzügig.
»Natürlich nicht.«
»Dann bedanke ich mich, Sir.«
»Verabschieden Sie sich davon«, sagte der Verbindungsoffizier.
Das Lächeln hing noch in dem gepflegten Bart, aber Blythes Augen waren jetzt kalt.
»Wie bitte?«
»Die Operation ist abgeblasen, Sara. Thomas Schmidt hat überlebt. Zum zweiten Mal. Er scheint unsterblich zu sein. Wie der Highlander. Haben Sie die Filme gesehen?«
»Nein.«
Die Stimme des Verbindungsoffiziers war nun so nüchtern und trocken, als hätte er jemanden am unteren Tischende gebeten, das Salz weiterzureichen.
Sara sank benommen auf einen Sessel.
Blythe kniff missbilligend die Augen zusammen, und ihr wurde bewusst, dass ihr Bademantel halb offen stand und nicht viel der Fantasie überließ. Sie schloss ihn mit einer gereizten Bewegung und kratzte sich an den Unterarmen.
»Das ist verdammt noch mal unmöglich … Sir!«
Blythe beugte sich vor. Stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab.
»Ist es das? Dann fassen Sie doch bitte noch einmal die Ereignisse des gestrigen Tages für mich zusammen. Schritt für Schritt.«
Sie sah sich Hilfe suchend um, aber von den Leica-Kameras oder Messis Fußballtrikot war keine Hilfe zu erwarten. Selbst die Katze hatte sich in Luft aufgelöst .
»Da war nichts, das kann ich Ihnen versichern. Ich hatte beide Zielobjekte auf dem Badesteg im Sucher. Schmidt und seine äthiopische Frau. Die einzige Komplikation war das einen Kilometer entfernte Konferenzzentrum. Achtsamkeit, Yoga und so weiter. Deshalb habe ich mich für den Jagdbogen entschieden und alle drei Zielobjekte wie geplant getroffen.«
»Und da sind Sie ganz sicher?«
»Vollkommen, Sir. Die Frau ins Herz und Thomas in den Rücken.«
»Ja?«
Das kurze Wort klang wie ein Richterhammer. Sie zuckte zusammen.
»Well … Er hatte sich umgedreht, um den Jungen zu warnen, als der nächste Pfeil schon von der Sehne war. Keine Ahnung, ob er das getan hat, um den Jungen zu schützen oder sich selbst mit einem Sprung in den See in Sicherheit zu bringen. Dazu war es jedenfalls zu spät, und er ist unter der Wasseroberfläche verschwunden. Die Verletzung hätte niemand überlebt, Sir. Niemand.«
Mit einstudierter Gewissenhaftigkeit wählte Blythe einen Zigarillo aus dem Lederetui, steckte ihn mit einem Spezialzündholz an, das er dann in einem eleganten Bogen aus dem Fenster schnipste.
Sara ging in die Küche und holte einen Aschenbecher für ihren Vorgesetzten.
Als sie ihm wieder gegenübersaß, musterte Blythe sie durch blaue Rauchfetzen.
»Haben Sie seine Leiche gesehen, Sara?«
Sie zog die Bademantelärmel herunter .
»Nicht direkt, Sir, das gebe ich zu. Wie gesagt, er ist aus meinem Sichtfeld verschwunden, und dann habe ich auch schon die Einsatzfahrzeuge gehört … nach extrem kurzer Zeit, das muss man ihnen lassen.«
Blythe hob den Blick an die Decke.
»Weil Sie das Haus abgefackelt haben? Das scheint zur Gewohnheit zu werden, oder irre ich mich?«
»Nein, nicht zur Gewohnheit.«
Seine grauen Augen kehrten zu ihrem Gesicht zurück.
»Warum haben Sie das getan, Sara? Mit Verlaub? Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen die entsprechende Anweisung gegeben zu haben.«
»Um eventuelles Beweismaterial zu vernichten, Sir.«
Der Verbindungsoffizier seufzte geduldig.
»Na gut. Letztendlich ist das gleichgültig. Das Einzige von Bedeutung ist die Tatsache, dass Thomas Schmidt dank Michael Sander lebt. Er wurde von ihm wiederbelebt und zu ihm nach Hause gebracht. Mikes Schwester ist eine erstklassig ausgebildete Traumachirurgin.«
Sie rutschte im Sessel nach hinten. Ihre Gedanken fuhren Karussell.
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es einfach.«
Damit verlosch jedwede Leidenschaft im Gesicht des Engländers. Vincent Armitage Blythe zog an seinem Zigarillo und sah hinaus zu der Kirche. Sie saßen da wie zwei Fremde in einer Pension, die auf ihr Frühstücksei warteten.
»Sie wissen, was das Wichtigste in unserer Branche ist?«, fragte er, ohne sie anzusehen und mit einem Ton resignierter Nachdenklichkeit .
»Zu wissen, wann man aufhören muss?«
»Korrekt, Sara. Das ist das Allerwichtigste.«
»Ich weiß nicht, wie das geht, Sir. Das war das Einzige, was sie mir im Korps nicht beigebracht haben. Was ist mit der Tigerjagd, von der Sie gesprochen haben, Sir?«, fragte sie eifrig. »Ich bin nach wie vor bereit, falls Sie den Befehl geben. Wenn Sie Sander unter einem Vorwand ins offene Terrain locken, würde ich mit Vergnügen …«
Blythe schnitt den Vorschlag mit einer jähen Handbewegung ab.
»Den Punkt haben wir längst hinter uns, wo so etwas noch wünschenswert oder durchführbar gewesen wäre. Bevor ich Sie angerufen habe, hatte ich ein langes Gespräch mit Mike vor seinem Haus. Er hatte die Oberhand. Er hätte mit mir machen können, was er will, aber er ließ mich gehen.«
Sara schnaufte aufgebracht.
»Was um alles in der Welt schulden Sie dem Mann? Bei allem Respekt, Sir? Irgendein kindisches Pfadfindergelübde, oder was?«
Blythe betrachtete sie mit unverhohlener Verachtung, und sie senkte den Blick, um den Hass in ihren Augen zu verbergen.
»Das ist eine Frage der Ehre. Ich würde niemals erwarten, dass Sie das verstehen.«
Ihre vernarbten Finger klammerten sich hart um die Armlehnen.
»Weil ich kein Ehrgefühl besitze? Da irren Sie sich gewaltig!«
Blythe sah sie kopfschüttelnd an und schnippte die Zigarillokippe durch die Doppeltür auf den Balkon. Der noch glühende Stumpen prallte am Geländer ab und landete zwischen ihren geliebten Dahlien .
Sie hätte ihn am liebsten auf der Stelle erschossen.
Blythe hämmerte den letzten Nagel in den Sarg.
»Ich habe wirklich keine Zeit für so einen philosophischen Disput. Das ist eine Sache zwischen … ja, Gentlemen, wenn Sie so wollen. Hinzu kommt, dass Sie ebenfalls keine Zeit haben. Er wird Sie finden. Seine Frau ist Kriminalhauptkommissarin bei der dänischen Reichspolizei, verdammt noch mal! Sie haben im Laufe der vergangenen Tage drei Leichen hinterlassen. Wir sind hier nicht in Äthiopien. In diesem Land geht man solchen Dingen auf den Grund.«
»Ach so«, flüsterte sie. »Sie verschwinden, und ich darf die Suppe auslöffeln?«
Man hätte meinen können, Blythe wäre tatsächlich zutiefst unangenehm berührt. Judas im Garten Gethsemane hatte vermutlich den gleichen Gesichtsausdruck, als er Gottes eingeborenen Sohn verleugnete und verriet, dachte sie, was ihn nicht daran gehindert hatte, seine auf ewig verurteilte Tat durchzuführen. Blythes hochtrabender Ehrenkodex beschränkte sich offensichtlich ausschließlich auf die alten Freunde. Andere Offiziere. Wie Hauptmann Michael Sander von den Königlich Dänischen Garde-Husaren, danach sechzehn Jahre beim Jägerkorps, entsendet an die US Ranger School, die Michael, soweit Sara wusste, bekniet hatten, die Aufnahmeprüfung für die Delta Force bei Fort Bragg zu machen, aber seine dänische Staatsbürgerschaft hatte ihm diesen Weg verbaut.
Der Engländer schob einen Finger unter den Rollkragen seines schwarzen Pullovers. Von draußen wehte eine kühle Brise herein .
»Grämen Sie sich nicht, Sara, ich habe eine großzügige Summe … falsch … eine äußerst großzügige Summe auf Ihre Konten in Liechtenstein überwiesen. Sie werden keine Not leiden müssen, so viel sei Ihnen versichert. Die Summe ist ausreichend, ein neues Leben anzufangen, wo immer Sie wollen. Ich persönlich hatte immer eine Vorliebe für Französisch-Polynesien. Vielleicht kreuzen sich ja irgendwo da draußen unsere Wege. Dann plaudern wir bei ein paar Drinks über die guten, alten Zeiten. Warum nicht?«
Sie sah ihn mit leerem Blick an. Es gelang ihr nicht, ihr Gehirn auf die alles verändernde Katastrophe einzustellen. Alles, was sie sich aufgebaut, worin sie sich die vergangenen fünf, sechs Jahre eingerichtet hatte. Endlich hatte sie einen Platz gefunden und sich ein Leben geschaffen, das fast wie das anderer Menschen war. Zum ersten Mal in ihrem neununddreißigjährigen Dasein.
Und jetzt verlangte er, dass sie sich von all dem verabschiedete. Mit ihrem Pass, Handy, ihrer Zahnbürste und einem Rucksack mit den notwendigsten Sachen die Wohnung verließ, die Bahn zum Flugplatz Kastrup nahm und wie ein kosmischer Funken im Weltgewimmel verschwand. Ohne Vergangenheit. Allein. Gleichgültig für den Rest der Welt.
»Das heißt, ich bin gefeuert?«, fragte sie.
»Sie haben die Abmachung nicht erfüllt, Sara, und kennen die Bedingungen. Es gibt kein kurz davor oder fast. Oder gute Absichten. Nur das Resultat zählt. Das wissen Sie. Im Übrigen sind wir beide gefeuert, falls das ein Trost ist.«
Sie sah sich um .
»Ich kann mich nicht so einfach von all dem hier verabschieden. Das ist mein Leben, verdammt.«
Blythe beugte sich vor und musterte sie ausgiebig, als hätte sie behauptet, die Erde sei eine Scheibe.
»Man sollte sich niemals an jemanden oder etwas binden, das man nicht mit einer Stunde Vorlauf bereit wäre zu verlassen. Ich dachte, das wüssten Sie … Vielleicht habe ich Sie ja doch überschätzt«, fügte er fast bedauernd hinzu.
»Im Gegenteil, Sir.«
»Und das bedeutet?«
»Dass ich die Mission zu Ende führen werde. Schmidt. Und Sander, wenn er sich in den Weg stellt.«
Blythe erhob sich und sah sie an.
»Sie werden nicht einmal in die Nähe von Schmidt kommen. Begreifen Sie das doch endlich! Außerdem spielt es keine Rolle mehr. Er hat alles gesagt, was er weiß. Mike weiß alles. Seine Frau weiß alles. Alles wird ans Licht kommen, und in fünf Minuten wird er vielleicht schon Ihre Tür eintreten. Was haben Sie vor? Sie wollen ja wohl kaum die gesamte dänische Polizei liquidieren? Führen Sie sich nicht so psychotisch auf. Das steht Ihnen nicht.«
Sie hörte nicht zu.
»Alles kommt irgendwann ans Licht. Genau das waren Frank Lindens letzte Worte. Entbehrt nicht einer gewissen Komik, Sir, wenn ich genauer darüber nachdenke.«
»Er hatte recht«, sagte Blythe.
»Und Sie schicken William Dupont auf die Bühne, obwohl er nackt ist.«
Der Verbindungsoffizier zuckte mit den Schultern .
»Er ist ein kalkulierbares Risiko eingegangen, aber unterwegs zu gierig geworden. Das passiert fast immer bei diesem Schlag Mensch. Ich konnte ihn nie leiden.«
»Aber sein Geld haben Sie genommen.«
Sie stand an der Wohnungstür.
»Ich habe nie jemandem vorgegaukelt, ein Heiliger zu sein«, sagte Blythe.
Er streckte die Hand aus, aber sie ignorierte sie.
Sara hielt ihm die Tür auf, ohne ihn anzusehen. Und Blythe entschwand die mit Teppich belegte Marmortreppe hinunter.