Am nächsten Tag, Bella Center, Amager
Der größte Kongresssaal des Bella Center war mit riesigen Segeln im Ökogrün von Linden Pharma dekoriert, die die hässliche Betondecke mit ihren gigantischen Entlüftungsschächten und Ventilatoren verdeckten und dem Raum einen Hauch von Behaglichkeit verliehen. Vom Eingang bis zu der weitläufigen Bühne mit dem Rednerpult und dem Podium war ein marineblauer Teppich ausgerollt worden, damit die mehrere Hundert zählenden geladenen Gäste sich einigermaßen komfortabel durch den Raum bewegen konnten.
Trotz der außerordentlichen und kurzfristigen Einberufung der Hauptversammlung war der Kongresssaal brechend voll mit Aktionären und Presseleuten. Auf dem Podium saßen Direktoren, Vorstandsmitglieder und Anna Linden.
Um exakt 14 Uhr läutete der Aufsichtsratsvorsitzende mit einer antiken Schiffsglocke und erklärte die Versammlung für termingemäß angekündigt und rechtmäßig. Hinter dem Podium hatten Techniker eine Großleinwand vom Ausmaß eines Badmintonplatzes montiert, auf der jetzt das überlebensgroße Bild des energisch lächelnden und vitalen Frank Linden erschien. Das berühmte Lächeln. Passend zum Anlass war das Porträt schwarz eingerahmt. Darunter stand: 1947–2018.
Anna Linden erhob sich und ging langsamen Schrittes zum Rednerpult. Sie hieß alle Anwesenden willkommen und begann danach mit einer erstaunlich sterilen und unpersönlichen Zusammenfassung des Lebens und der Karriere ihres Gatten. Der Text stammte zweifellos aus der Tastatur eines Kommunikationsberaters, der sich hauptsächlich bei Google und Wikipedia bedient hatte.
Sie wurde von einem Zahlenjongleur der Firma abgelöst, der anhand von Grafiken und Diagrammen triumphierend den Rechnungsabschluss des letzten Jahres präsentierte, der weit besser ausgefallen war als erhofft. Wie üblich.
Der große, breitschultrige, braun gebrannte William Dupont beugte sich zur Seite und flüsterte Anna Linden etwas zu, ehe er sich unter lautem Beifall erhob.
Ob seine Worte irgendetwas bei ihr auslösten, war nicht zu erkennen.
Mit einem leichten, demütigen Lächeln nahm Dupont im feierlich dunklen, eng an seinem durchtrainierten Körper anliegenden Anzug das Rednerpult ein. An seinem linken Jackenrevers war eine dezente schwarze Seidenschleife befestigt.
Das Lächeln verlosch.
»Frank war wie ein Vater für mich …«
Mit angehaltenem Atem öffnete Michael das Schloss zum Technikraum im hinteren Teil des Saales und zog die Tür geräuschlos auf .
Lene, Bjarne und er schlüpften hinein. Sie trugen schwarze Skimasken. Die Augenlöcher von Bjarnes Maske waren halbwegs über seine Brillengläser gerutscht.
In dem Raum saß ein langhaariger Techniker hinter einem riesigen Mischpult mit Hunderten von Knöpfen, Hebeln und Instrumenten. Sein Kopf wippte monoton zur Musik aus seinen Kopfhörern.
Michael zog den linken Stöpsel aus seinem Ohr und ersetzte ihn durch die Mündung seiner Pistole. Der Techniker saß wie versteinert da. Die Augen fielen fast aus ihren Höhlen, als er versuchte, zu seinem Ohr zu schielen.
»Das harte Ding an Ihrem Ohr ist kein Hörgerät, sondern eine Pistolenmündung. Verstehen Sie, was ich sage?«
Der junge Mann nickte hektisch, worauf Lene eine blickdichte Mütze über seinen Kopf stülpte und ihn freundlich, aber bestimmt aufforderte, sich auf den Boden zu legen, um seine Hände mit den Diensthandschellen auf dem Rücken zu fesseln.
Bjarne setzte sich auf den Stuhl des Technikers und lockerte seine Finger wie ein Pianist vor Beethovens 5. Klavierkonzert. Er steckte einen USB-Stick in das Mischpult. Duponts maskuliner Bariton war deutlich in dem Hinterraum zu hören. Worte wie »schmerzlich vermisst«, »Integrität« und »einzigartig«.
Die Großleinwand hinter dem designierten CEO wurde schwarz.
Dupont redete weiter, während ein Raunen durch das Publikum ging. Auf dem Bildschirm war jetzt ein blasser und ausgemergelter, tadellos gekleideter Frank Linden am Ende eines langen, glänzenden Konferenztisches zu sehen. Er blickte direkt in die Kamera. Zu seiner Rechten saß ein jovial lächelnder und bebrillter Mann in den Fünfzigern, links von ihm ein schmaler, etwas jüngerer Mann mit sandfarbenem Haar. Beide strahlten Kompetenz und Autorität aus. Hinter dem Trio streckten sich Mahagonipaneele zu hohen Bogenfenstern. Michael sah Efeu vor den Fenstern und hohe Vitrinen mit golden eingebundenen Büchern. Es sah aus wie der Konferenzraum einer vornehmen Anwaltskanzlei.
Frank Lindens Stimme war schwach, aber klar zu verstehen.
»Freunde und Feinde. Werte Aktionäre …«
Frank Linden trank einen Schluck Wasser und lächelte schwach.
»Es ist natürlich unmöglich, das Folgende ohne eine gewisse Melodramatik zu sagen, denn wenn ihr mich jetzt hier seht, weile ich nicht mehr unter den Lebenden, da meine schlimmsten Ahnungen sich erfüllt haben.«
Die auf dem Podium Sitzenden drehten sich zu der Leinwand um. Einige standen auf.
William Dupont drehte sich als Letzter um. Sein Mund stand offen.
Frank Linden fuhr in seiner Rede fort.
»Darf ich vorstellen: Rechts von mir sitzt Doktor Stieg Andersson, früher Professor am Karolinska Institut in der Abteilung für Infektionsmedizin. Heute ist er Präsident des Zentrums für Tropenkrankheiten in der WHO.«
Der korpulente Mann lächelte höflich und nickte.
»Links von mir sitzt Dr. Lorenz Sperrschneider, Leiter der Division Endokrinologie bei Roche. «
Frank Linden räusperte sich und hustete hinter vorgehaltener Hand.
»Wir teilen ein gemeinsames Interesse oder eine Passion, wenn man so will: die Suche nach einer effektiven Behandlung von Bilharziose oder Schneckenfieber und von Diabetes mellitus. Das Mittel, das diese doppelte und kolossale Herausforderung erfüllen könnte, ist nach unserer Meinung der Stoff Rivaquantel. Wir haben unter strengster Geheimhaltung zwei Pilotstudien durchgeführt, in denen eine Gruppe Patienten mit Diabetes Typ 1 mit Rivaquantel behandelt wurde und eine andere Gruppe mit einem Placebo. Das Ergebnis ist sensationell, meine Damen und Herren. Die Antikörper, die die Insulin produzierenden Langerhansschen Zellen angreifen und zersetzen, werden selber unschädlich gemacht. Drei Tage nach Behandlungsbeginn normalisiert sich der Blutzuckerspiegel bei hundert Prozent der Patienten. Wir wissen nicht, wie der Stoff wirkt … noch nicht. Aber es wurden keine nennenswerten Nebenwirkungen von Rivaquantel festgestellt. Wir haben jetzt die Zulassung für eine weltweite Multicenter-Studie bekommen, die uns hoffentlich die letzten Antworten auf dieses medizinische Wunder bringt.«
Es wurde etwas unruhig im Saal.
Der Schwede und der Schweizer nickten zustimmend und schienen Frank Lindens Zusammenfassung nichts hinzuzufügen zu haben.
Michael studierte Duponts Gesicht durch sein Zeiss-Fernglas. Der Mann war sichtbar blasser als vorher.
Frank Linden oben auf der Leinwand lächelte sardonisch.
»Die Kosten für die Behandlung belaufen sich auf drei Kronen für die Tagesdosis. Darum an dieser Stelle mein Rat an alle Aktionäre: Stoßen Sie so schnell wie möglich Ihre Linden-Aktien ab und investieren Sie stattdessen in Roche-Aktien.«
Die geistesgegenwärtigsten Aktionäre waren bereits aufgesprungen und liefen aus dem Saal. Hinter ihnen legte Frank Linden das Gesicht in ernste Falten.
»Diesen vermeintlichen Durchbruch haben wir einem beharrlichen und engagierten Mann zu verdanken, der sich im hintersten und verlassensten Winkel Äthiopiens abgerackert hat: Dr. Thomas Schmidt, der die besten Eigenschaften des Samariters und Arztes in sich vereint. Er ist ein wahrer Held!«
Bjarne blendete das Foto von Thomas Schmidt bei der Konferenz in Kairo ein.
Abgesehen von der Handvoll besonders gieriger Aktionäre schienen nur wenige Zuhörer das Bedürfnis zu verspüren, den Saal zu verlassen. Sie alle spürten, dass in diesem Moment Geschichte geschrieben wurde.
Michael legte eine Hand auf Bjarnes Schulter, und der Zuschauersaal wurde von der gleißenden Wüstensonne Äthiopiens erleuchtet. Michael nippte an einer Flasche Mineralwasser, ohne Dupont aus den Augen zu lassen, der isoliert und verloren mitten auf der Bühne stand.
Die kristallklaren, unbearbeiteten Drohnenaufnahmen von dem Massaker in der Adigrat-Missionsstation liefen über den Schirm.
Die Leute erhoben sich von ihren blau-goldenen Stühlen.
Kobus Weismann und Danachew im roten Sand kniend, mit auf dem Rücken gefesselten Händen und blutverschmierten, geschwollenen Gesichtern. Betrunkene, grölende Rebellen im Blutrausch. Tote Nonnen in hellblauen und weißen Ordenstrachten, am Boden liegend, wo sie niedergemetzelt worden waren.
Ein Weißer in frisch gebügeltem Kaki-Anzug streckte die Arme über den Kopf, als bäte er um eine Minute Stille vor einem Fußballspiel.
Sein Gesicht war gut zu erkennen.
Zuerst schoss William Dupont dem knienden Danachew in den Nacken, danach dem alten Narkosearzt – mit ungefähr so viel Empathie, als träte er auf ein Insekt. Dann blies er verspielt den Rauch von seinem vernickelten Colt .45 und grinste breit.
Der allgemeine Trancezustand im Saal wurde von empörten Rufen aufgehoben, aus denen Abscheu und Betroffenheit klangen.
Anna Linden saß alleine auf dem Podium – weit weg und unerreichbar. Sie sah in Michaels Richtung, und obgleich ihr Gesicht aus der Entfernung unmöglich zu erkennen war, glaubte er ein anerkennendes Lächeln darübergleiten zu sehen.
Die Presseleute und Fotografen trampelten sich auf dem Weg nach draußen fast gegenseitig nieder. Die Hauptversammlung löste sich in einem Tumult auf.
Dupont verschwand durch eine Hintertür. Michael beobachtete es, ohne zu reagieren.