Eine Woche später
Der weiße Pudel tauchte seine Pfoten in das azurblaue Meer und drehte sich zu Pinkie Pixie um, die es sich in einer zwischen zwei Palmen gespannten Hängematte gemütlich gemacht hatte. Die lila Katze trank mit einem Strohhalm aus einer ausgehöhlten Kokosnuss, während die stumme Nixie einen Badeball aufpumpte. Abgesehen von den drei Avataren war der endlose, goldene Strand öde und verlassen.
PINKIE PIXIE: Dann heißt es wohl Abschied nehmen, Trixie?
TRIXIE: Ich fürchte, ja. Die Frau, du weißt.
Die lila Katze setzte die Kokosnuss ab. Der Badeball hüpfte ins Wasser, verfolgt von einer ekstatischen Nixie.
PINKIE PIXIE: Ach ja, die Frauen. Wie viel weiß sie?
TRIXIE: Keine Details.
PINKIE PIXIE: Ausgezeichnet.
TRIXIE: Danke für die Drohnenfilme. Die waren von unschätzbarem Wert.
PINKIE PIXIE: Gern geschehen. Das war unser Mount Everest, Trixie.
TRIXIE: Das kann ich mir kaum vorstellen .
Die kleine lila Katze ließ sich aus der Hängematte fallen und spazierte zu dem weißen Pudel.
PINKIE PIXIE: Du weißt, dass der Missbrauch von kleinen Kindern … Das hört nicht auf, wenn du verschwindest. Hast du eine Idee für einen Nachfolger?
Michael hatte mit der Frage gerechnet und in Erwägung gezogen, Vincent vorzuschlagen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein ehemaliger Verbindungsoffizier auch nur eine Sekunde die Kommunikation in der Talented Pet Beach Show tolerieren würde.
TRIXIE: Nein.
Die zwei Avatare standen breit lächelnd voreinander, was ein starker Kontrast zum Inhalt der Sprechblasen über ihren Köpfen war.
PINKIE PIXIE: Denk dran, das ist eine gefährliche Welt da draußen, Trixie.
TRIXIE: Gefährlicher denn je. Macht’s gut.
PINKIE PIXIE: Leb wohl.
Mit größter Genugtuung löschte Michael alle Spuren des verhassten Spiels von seinem Computer. Auf dem Boden stand schon ein neuer Laptop bereit, nachdem er den aktuellen in seiner Werkstatt mit einem Hammer zertrümmert hätte.
Er spulte zu einem bestimmten Abschnitt der Drohnenaufnahme von dem Massaker in Adigrat vor: zu dem kurzen, tief aufwühlenden Augenblick, in dem William Dupont breit grinsend zu den zwei gefesselten, im Staub knienden Männern geht und sein Begleiter, der professional white hunter bei Duponts abartiger Menschensafari, den Hut vom Kopf nimmt und zum Himmel schaut. Vermutlich war ihm klar, dass sich die Drohne in genau diesem Moment über ihren Köpfen befand, denn Michael konnte mit Sicherheit sagen, dass Männer dieses Typs – so ungeheuer selten sie waren – zu jeder Zeit genau wussten, was um sie herum passierte. Er selbst hatte bei seinen eigenen Missionen immer über diesen sechsten Sinn verfügt.
Es war sechs Jahre her, dass Michael den Söldner zum letzten Mal gesehen hatte. Obwohl »sehen« zu viel gesagt war. Der Schütze war einen knappen Kilometer von Lenes und Michaels Position am Steilufer des Porsangerfjords entfernt gewesen, eine undeutliche Silhouette vor dem grauen Himmel überm Fjell.
Er hatte sie nicht kommen hören, so sehr war er von dem ausdrucksstarken, nach oben gewandten Gesicht auf dem Bildschirm absorbiert. Die vergangenen sechs Jahre schienen spurlos an dem jungen Mann vorbeigegangen zu sein.
Michael fuhr erschrocken zusammen, als Lene eine kühle Hand in seinen Nacken legte.
»Was ist, Michael? Geister aus der Vergangenheit?«
»Ja.«
Er streckte die Hand nach der Maus aus, um das Bild wegzuklicken, aber sie hielt ihn davon ab.
»Wer ist das? Der sieht aus wie du als junger Mann.«
»Eh, sag das nicht, Lene. Der Mann da ist das männliche Pendant zu Sara. Es gibt nur zwei ihrer Art.«
»Aber wer ist er?«
Er sah sie über die Schulter an.
»Ich weiß, wer er ist, aber es würde dir absolut nicht guttun, es zu wissen, darum werde ich es dir nicht sagen. «
Sie nahm ihre Hand aus seinem Nacken, genau wie er es erwartet hatte.
»Solltest du die Entscheidung nicht besser mir überlassen, was gut für mich ist und was nicht?«
Lene hatte recht. Sein Versuch, sie vor Sara zu schützen, wäre um Haaresbreite in der totalen Katastrophe geendet, weil er ihr Informationen vorenthalten hatte.
Er öffnete die Schublade, in der die Flasche Ardbeg lag. Füllte zwei Gläser bis zum Rand.
Sie setzte sich auf die Ottomane und nahm ein Glas.
Sie tranken.
»Porsangerfjord 2012.«
Lene holte tief Luft und schaute dann zu Boden. Er konnte ihren Blick nicht deuten.
»Ja?«
»Zwei Männer haben deine Tochter Josefine zugrunde gerichtet.«
»Ja! Das haben sie, Michael. An dem Tag habe ich gedacht, mein eigenes Leben wäre zu Ende.«
»Und fast hätten sie auch uns beide am Steilufer des Fjords getötet. Wir waren absolut wehrlos … Aber dann geschah ein Wunder«, murmelte Michael. »Jemand mischte sich ein … ein fantastischer Scharfschütze.«
Lene sah ihn mit wachsender Erkenntnis in den grünen Augen an.
»Dieser Jemand hat uns gerettet?«
»Ja«, sagte Michael hart. »Und auch sich selbst. Fürs Erste. Der Schütze war der Bruder von einem der Männer, die Josefine umgebracht haben. Jakob.«
Lene sah ihn an. Dann das Gesicht auf dem Bildschirm .
»Das ist er tatsächlich, Michael!«
»Vincents Mann an der Front. Er hat das Massaker geplant und durchgeführt, während Dupont wie ein tollwütiger Schoßhund herumgerannt ist.«
Lenes Augen funkelten kämpferisch.
»Jakob.«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf, und ihr Kampfgeist verpuffte.
»Aber wieso hat er damals unser Leben gerettet, Michael?«
»Er hatte keine andere Wahl. Das war nicht etwa die gute Tat des Tages, Lene, nichts Persönliches. Jetzt ist er zum Massenmörder geworden, und ich muss ihn finden.«
Lene studierte jeden Zug in Michaels Gesicht, bis sie zu dem unerbittlichen Blick in seinen Augen kam. Vielleicht gäbe es trotz allem eine Chance, ihn davon abzuhalten. Die ultimative Trumpfkarte war Maria, aber ihr wurde bewusst, dass in diesem Fall nicht einmal ihre Tochter zählte.
Stattdessen fragte sie: »Wie?«
»Vincent hat ihn vermutlich irgendwann vor dem Massaker eingestellt. Darum muss ich Vince als Erstes aufspüren. Er hatte schon immer ein Faible für Französisch-Polynesien. Ich möchte wetten, dass er sich dort bereits eine Vanillefarm gekauft hat.«
»Dürfen wir mitkommen?«
»Na klar. Für den Anfang. Dann sehen wir weiter.«