Samstag; der Tag der Hochzeit
TAJO
Ein Geräusch weckte Tajo mitten aus dem Tiefschlaf, das er zunächst nicht genau einordnen konnte. Ein leises Klimpern und Klirren, das seltsamerweise aus seiner unmittelbaren Nähe, vom Fußende ihres Bettes zu kommen schien. Er grummelte verhalten, blinzelte und hob den Kopf. Den Bruchteil einer Sekunde lang war er verwirrt, weil er nicht in seinen eigenen Federn lag, bis ihm einfiel, dass sie hier auf der Burg übernachtet hatten. Die Matratze des monströsen Himmelbettes bewegte sich, da Marc sich neben ihm umdrehte und die Bettdecke fest um seinen Körper zog.
Im nächsten Augenblick tauchte jemand in seinem Blickfeld auf und er stöhnte ungehalten.
»Mom! Was zur Hölle …«, schimpfte er mit vom Schlaf rauer Stimme, doch seine Mutter unterbrach ihn abrupt.
»Guten Morgen, mein Großer«, flötete sie übertrieben freundlich. »Ich habe euch das Frühstück gebracht, um Zeit zu sparen.« Sie deutete auf einen Servierwagen, den sie ans Fußende geschoben hatte, und schaute auf ihre Armbanduhr. »Hopp, hopp, raus aus den Federn! Ihr habt genau zwanzig Minuten zum Frühstücken, danach zehn Minuten, um zu duschen und euch anzuziehen. Anschließend fährst du mit Jonathan nach Hause, während ich mich hier um Marc kümmere«, verkündete sie in strengem Tonfall, der dem eines Drill-Sergeant gleichkam.
Zu Tajos Seite drang gedämpft ein Stöhnen unter der Bettdecke hervor.
»Sag mir jetzt bitte, dass ich noch träume und dass das nicht wahr ist«, grummelte Marc und zog sich die Decke vollends über den Kopf.
»Marc, dir habe ich eine Kopfschmerztablette mitgebracht«, erklärte seine Mom liebevoll und lächelte dabei äußerst selbstgefällig. »Daniel hat mir verraten, dass ein Mensch so etwas nach einer langen Partynacht braucht. Wir haben wirklich an alles gedacht und euren heutigen Ehrentag perfekt organisiert. Bis ins kleinste Detail.«
»Das habe ich befürchtet«, erwiderte Marc sarkastisch, kam aber endlich unter der Decke hervor, setzte sich umständlich auf und rieb sich über die Augen.
Tajo dagegen seufzte abgrundtief und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Die Übernachtung auf der romantischen Märchenburg hatte er sich wirklich anders vorgestellt. Er hatte mit Marc nach dem Aufwachen ein bisschen kuscheln und vielleicht noch Sex haben wollen. Zum letzten Mal als unverheiratetes Paar, bevor sie in wenigen Stunden rechtmäßig vermählte Eheleute sein würden. Nach der Party waren sie erst im Morgengrauen todmüde in die Kissen gefallen und sofort eingeschlafen, daher hatten sie dieses wahnsinnig tolle Bett nicht einmal ausprobieren können. Jetzt war es zu spät. Bedauernd sah sich Tajo im Raum um. Verflucht, das Himmelbett hätte genau die richtige Höhe gehabt, damit er Marcs Hintern an die Bettkante ziehen und ihn dann im Stehen …
Er schnaubte. Fuck, das anregende Kopfkino bewirkte umgehend, dass sich sein bestes Stück unter der Bettdecke aufzurichten begann. Rasch zupfte er den Stoff zurecht, um seine Erektion möglichst zu verbergen. Himmel, seine Mom stand noch immer direkt vor ihm! Nun gut, diese Tatsache wirkte allerdings besser als jeder Kübel Eiswasser, der ihm schwungvoll über dem Kopf ausgegossen wurde.
»Danke«, bekam er höflicherweise heraus, obwohl ihm viele andere Sachen auf der Zunge lagen. Nicht ganz so nette Dinge, aber er wusste, dass er seine Mom erst dann wieder loswurde, wenn sie ihren Willen bekommen hatte. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
»Zwanzig Minuten«, erinnerte sie ihn dennoch, bevor sie sich umdrehte und ihr Zimmer verließ.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da verdrehte Marc neben ihm die Augen und gluckste amüsiert.
»Das ist nicht ihr Ernst, oder?«
»Oh doch. Leider ja.« Tajo schnaubte unglücklich, zog die Bettdecke zur Seite und warf einen Blick auf seine Morgenlatte. »Und was mach ich nun damit?«
»Da fällt mir bestimmt noch etwas ein«, raunte Marc, beugte sich über ihn und platzierte einen Kuss direkt auf seinem harten Schaft. »Die Zeit reicht locker. Ich brauche nicht mehr als drei Minuten fürs Frühstück.«
»Marc, Schätzchen, beeil dich! Ihr habt noch exakt neunzehn Minuten!«, rief plötzlich seine Mutter durch die geschlossene Zimmertür hindurch.
»Mom, verschwinde! Jetzt! Auf der Stelle!«, brüllte Tajo sofort aufgebracht zurück.
Marc grinste lediglich und kämpfte sich unter der Bettdecke hervor, um sich dann zwischen seine Beine zu knien.
»Entspann dich und mach die Augen zu«, flüsterte er und stützte sich mit beiden Händen rechts und links von ihm ab.
»Vergiss es«, gab Tajo ebenso leise zurück. »Ich will nicht eine Sekunde davon verpassen. Egal, was du vorhast.«
Er erwiderte Marcs Lächeln und sog angespannt die Luft ein, als sich dieser über ihn beugte und sanfte Küsse über seine Brust und seinen Bauch verteilte. Behutsam umfasste er Tajos steifen Schwanz, richtete ihn auf und leckte aufreizend am Schaft entlang bis hinauf zur Eichel, die sich ihm prall und feucht
entgegendrängte. Tajo keuchte unterdrückt und bog sich ihm instinktiv entgegen.
Oh Gott, ja!
Fester!
Schneller!
Verdammt, diese ruhige und besonnene Art, in der sich Marc seinem besten Stück widmete, stand im krassen Widerspruch zu dem Zeitdruck, den sie beide hatten.
Es ärgerte ihn selbst, dass er sich von dieser blöden Zeitvorgabe seiner Mutter überhaupt unter Druck setzen ließ, doch der Countdown tickte in seinem Hinterkopf und verhinderte, dass er sich vollends entspannen und auf Marc einlassen konnte.
Ungeduldig griff er nach unten zu seinem Schwanz, um ihn selbst härter zu reiben, aber Marc wehrte seine Hand ab, packte sie und presste diese neben seinem Körper in die weiche Matratze.
»Marc, Liebling …«, wollte er sich gerade widersetzen, doch in diesem Moment umschloss Marcs Mund seine Eichel und Tajo kniff die Lippen fest zusammen, um ein verräterisches Stöhnen zu unterdrücken.
Mit aller Macht zwang er sich, möglichst still zu halten und nicht unwillkürlich mit dem Becken nach oben zu zucken, um nicht unsanft in Marcs Kehle zu stoßen. Sein Liebster nahm ihn nun tiefer in seinen Mund auf, verstärkte den Druck seiner Lippen und glitt aufreizend langsam an seinem pulsierenden Schaft entlang, hoch und wieder hinunter. Gleichzeitig verflocht er die Finger der rechten Hand mit seinen und drückte sie, während er die Linke fest um seinen Schwanz legte und ihn genau im richtigen Tempo und mit der gewünschten Härte massierte.
Tajo stöhnte unbeherrscht auf. Binnen Sekunden brachte ihn Marc an die Grenze und obwohl er es nun doch noch lieber ein wenig hinausgezögert hätte, wurde er unerbittlich und gekonnt
darüber hinaus getrieben. Vor seinen geschlossenen Lidern tanzten bunte Pünktchen, weil er die Augen in dem Moment fest zusammenkniff, in dem er den Höhepunkt unaufhaltsam in sich aufsteigen spürte. Kaum eine Sekunde später kam er, zuckte unbeherrscht zusammen und verströmte sich in Marcs Mund. Am Rande nahm er wahr, wie sein Liebster innehielt, erregt stöhnte und mit der Hand jeden seiner Schübe begleitete.
Angestrengt japste Tajo nach Luft, da er unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Der Orgasmus hinterließ eine träge Mattigkeit, die sich in ihm ausbreiten wollte, doch er griff sofort zu Marcs Schultern, um ihn an sich zu ziehen.
Marc sank auf seinen verschwitzten Körper hinab. Sie atmeten beide schwer und Tajo kostete für einen Moment das Gefühl ihrer Nähe aus, bevor er seinen Liebsten sachte auf den Rücken drehte und sich über ihn lehnte.
»Was sagt die Uhr?«, fragte er atemlos und zwinkerte Marc vergnügt zu.
»Ticktack?«, brummte Marc ironisch und lachte leise.
»Nein, ich meine, wie viel Zeit wir noch haben?«, erklärte Tajo belustigt.
Ein paar Minuten blieben ihnen gewiss, in denen er sich gebührend bei Marc revanchieren konnte. Zu seiner Überraschung verschwand das Lächeln schlagartig aus Marcs Gesicht.
Er wurde ernst, zog die Augenbrauen zusammen und hob die Hand, um sie an Tajos Wange zu legen.
»Gemessen daran, wie sehr ich dich liebe, bleibt uns viel zu wenig Zeit«, flüsterte er.
»Da gebe ich dir recht – und auch wieder nicht«, erwiderte Tajo nachdenklich. »Jeder einzelne Augenblick, in dem ich mit dir zusammen bin, lässt für mich die Zeit stillstehen. Ich kann sie dann gar nicht mehr mit einer Uhr messen, weil sie nach ganz anderen Regeln verläuft. Die Minuten und Stunden werden
nicht zu Tagen und Wochen, sie gehen nur ineinander über und geben uns den Raum, den wir für unsere Liebe benötigen.« Er hielt inne und überlegte, wie er seine Gefühle besser ausdrücken könnte. »Diese Momente, wenn wir zusammen sind, fühlen sich so fantastisch an, weil sie uns gehören. Niemand kann sie uns nehmen. Das kannst du nicht in Minuten umrechnen und die vergangene Zeit dann rückblickend als zu kurz bewerten, weil jeder dieser Augenblicke für sich gesehen einzigartig war und in unserem Leben ein ganz anderes Gewicht hat.«
Marcs bedrückt aussehende Miene glättete sich, sein Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung zu einem sanften Lächeln.
»Ich liebe es, wenn du am frühen Morgen nach einer durchzechten Nacht den Poeten in dir hervorholst«, bemerkte er liebevoll, ohne jegliche Andeutung von Spott in der Stimme. »Vor allem, weil ich weiß, dass nur ich diese Seite an dir kenne und niemand sonst jemals so etwas aus deinem Mund zu hören bekommen wird.«
Tajo grinste, seltsamerweise fühlte er sich irgendwie ertappt. Zärtlich küsste er Marc auf die Nasenspitze.
»Stimmt. Den Poeten habe ich für dich reserviert. Genauso wie den Hengst in mir«, witzelte er und schob sich an Marcs Oberkörper entlang aufreizend nach unten.
Oh, er liebte diese kurzen Momente der ungestörten Zweisamkeit. Vielleicht, weil er in diesen so sein konnte, wie er tatsächlich war, ohne seiner Rolle als Rudelführer gerecht werden zu müssen. Sein Mann ging sofort auf seinen Stimmungsumschwung, auf die beabsichtigte, fröhliche Leichtigkeit ein und stöhnte gespielt entsetzt auf.
»Lass den Hengst stecken, wir haben nur noch fünf Minuten«, meinte Marc mit einem Blick auf die Wanduhr und versuchte ihn wieder nach oben zu ziehen. »Verschieben wir den Rest auf die Hochzeitsnacht, da haben wir mehr Zeit.«
»Quatsch nicht, die anderen sollen eben warten. Die Hochzeit kann schließlich nicht ohne uns stattfinden«, widersprach Tajo lässig, gab für einen kurzen Augenblick nach und lehnte sich wieder über Marc, um ihn zu küssen. »Und wenn du schon auf den Hengst verzichten willst – dann kann ich dir wenigstens zeigen, was ein Löwe zu bieten hat.«
Marc verzog schmunzelnd den Mund, verschränkte seine Hände in Tajos Nacken und sah erwartungsvoll zu ihm hinauf.
»Ich liebe einfach alles an dir, jede deiner Seiten – aber ganz besonders den Löwen«, flüsterte er.
Tajos Mundwinkel zuckten, weil sich umgehend ein strahlendes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreiten wollte, während zeitgleich ein besitzergreifendes Knurren in ihm hochstieg. Der Einfachheit halber er beließ es bei einem leisen Grollen. Fünf Minuten? Kein Problem. Das schaffte er auch in drei.
Zeit war doch sowieso nur relativ – und er hatte vor, jede einzelne Sekunde sinnvoll zu nutzen.
MARC
Marc betrachtete sein Spiegelbild und seufzte zufrieden.
Hey, er sah gar nicht so schlecht aus, trotzdem zupfte er ein weiteres Mal die Manschetten unter den Ärmeln seines Jacketts zurecht, bis sie wirklich akkurat saßen. Der Anzug war von einem bekannten Designer aus New York maßgeschneidert worden, den Tajo zu diesem Zweck extra hatte einfliegen lassen.
Der edle Stoff schimmerte bei jeder Bewegung in einem Farbton, der dem Nachthimmel Alaskas glich: Ein dunkles, tiefes Blau, das aus der Ferne betrachtet fast schwarz erschien, aber dennoch keines war.
Nicht übel.
Sein Anblick in dem riesigen Spiegel des Badezimmers
erinnerte ihn plötzlich daran, wie er vor ein paar Jahren auf der Herrentoilette seiner damaligen Firma, Witherspoon und Partner, gestanden und versucht hatte, sich seelisch und moralisch auf den wichtigen Termin mit dem Geschäftsführer der Bruns Limited Liability Company
vorzubereiten. Intuitiv hielt Marc die Luft an, weil sich schlagartig ein seltsames, sehr beklemmendes Gefühl in ihm ausbreitete. Die Umgebung, die geflieste Wand hinter seinem Rücken verschwand mit einem Mal aus seinem Sichtfeld und wurde durch die braune Holzvertäfelung des Waschraumes in der Frankfurter Firma ersetzt. Irritiert glotzte er sein Spiegelbild an.
Was wäre, wenn das alles ganz anders gelaufen war? Wenn er in der nächsten Minute aus einem verrückten Traum aufwachen würde und das alles nie geschehen wäre? Nein, das würde er nicht verkraften. Gegen seinen Willen stiegen Tränen in ihm hoch und er blinzelte sie rasch weg, ohne jedoch den Blick von seinem unnatürlich blassen Gesicht nehmen zu können, das ihm aus dem blank polierten Spiegel entgegenschaute.
In diesem Augenblick klopfte es sachte gegen die Badezimmertür.
»Marc, bist du fertig?«, erklang Keylas Stimme von draußen.
Oh, Gott sei Dank. Innerlich atmete er auf. Nein, das alles war kein Traum. In wenigen Minuten war es so weit. Dann würde er Tajo gegenüberstehen und ihn heiraten. Schlagartig verschwand die Vision der Holzvertäfelung und er stand wieder in dem hellen, freundlichen und dennoch prunkvoll ausstaffierten Badezimmer auf der Sababurg.
»Äh … ja, gleich«, erwiderte er mit reichlich Verzögerung und leider auch mit einer rauen Stimme, die ihm nicht so recht gehorchen wollte.
»Kann ich reinkommen?«, fragte Keyla zurückhaltend.
Marc zuckte die Schultern und stützte sich schwer atmend auf dem Waschbeckenrand ab.
»Ja klar«, erwiderte er und versuchte, sich zu sammeln.
Verflucht noch mal, er hatte geahnt, dass er diese Feier nicht so cool und lässig überstehen würde, wie er selbst das gerne hätte. Dazu war er viel zu emotional, gerade an einem solchen Tag.
Mensch, Marc, jetzt reiß dich gefälligst zusammen!
Normalerweise heulte er beim Anblick seines Spiegelbildes nicht gleich los. Warum also heute? Er atmete tief durch, im selben Moment öffnete sich die Tür und Keyla trat ein. Widerwillig hob er den Kopf, begegnete ihrem besorgten Blick im Spiegel – und erkannte sofort, dass sie halbwegs ahnte, was in ihm vorging.
»Geht’s dir gut?«, fragte Keyla aufmerksam.
Sie packte seinen Arm und drehte ihn zu sich herum. Unter ihrem prüfenden Blick fühlte sich Marc alles andere als wohl, aber er versuchte seine Verunsicherung mit einem Lächeln zu überspielen.
»Geht schon. Nur ein bisschen aufgeregt«, wiegelte er ab.
»Kann ich mir vorstellen.« Unvermittelt trat sie einen Schritt zurück und musterte ihn nochmals von Kopf bis Fuß. »Allerdings brauchst du dir wirklich keine Sorgen machen, du siehst echt klasse aus. Sehr chic.«
»Danke.«
Erst jetzt fiel Marc auf, das auch Keyla sich bereits fertig gemacht und umgezogen hatte. Sie trug ein weißes Sommerkleid, das ihr bis zu den Knien reichte und ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt umspielte. Sie war etwa einen halben Kopf größer als er, was ihm normalerweise kaum noch auffiel, weil sie meistens flache Sandalen, Chucks oder Turnschuhe trug. Doch heute hatte sie diese gegen ein Paar hochhackige Schuhe getauscht, zierliche Sandaletten mit goldfarbenen Riemchen, wodurch sie noch größer wirkte. Außerdem hatte sie entgegen ihrer Gewohnheit ein wenig Make-up aufgetragen, das die bernsteinfarbenen Augen hervorhob
und ihre edlen Gesichtszüge betonte.
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben«, fügte er wahrheitsgemäß an. »Du siehst toll aus.«
»Danke.«
Auf ihren Wangen erschien eine hauchzarte Röte, wie immer schien sie solche anerkennenden Äußerungen nicht für selbstverständlich zu nehmen.
»Wie sieht es aus? Bist du bereit?«
»Bin ich«, versicherte Marc ihr sofort.
Okay, jetzt wollte er die Sache hinter sich bringen. Ein Zurück gab es für ihn sowieso nicht, das kam nicht infrage. Tajo würde über seine total abgedrehten Was-wäre-gewesen-wenn-Gedanken definitiv den Kopf schütteln.
»Gut, wir sollten jetzt auch langsam losfahren. Deine Kutsche wartet unten im Burghof.«
»Eine Kutsche?«, wiederholte er ungläubig.
Herrje, ging es noch kitschiger? Hatten sie ihm etwa für den Rückweg zum Hofgut tatsächlich einen offenen Vierspänner mit weißen Pferden gemietet?
Er atmete jedoch auf, als er hinter Keyla den Burghof betrat und die perlmuttfarbene Stretchlimousine entdeckte, die dort auf ihn wartete. Das Fahrzeug hatte die Länge eines Kleinbusses, war auf Hochglanz poliert und dezent mit weißen Schleifen an den Außenspiegeln geschmückt. Klasse, das war genau nach seinem Geschmack und er war froh, dass man auch auf das hierzulande übliche Blumenbouquet auf der Motorhaube verzichtet hatte.
»Ach, so eine Kutsche meintest du«, murmelte er erleichtert.
Neben der noblen Karosse warteten bereits Daniel und Ric auf ihn, die mit dem Chauffeur in ein Gespräch vertieft waren. Sein bester Freund und Trauzeuge trug einen weißen Anzug mit einem hellblauen Hemd, während sein Mann Ric wie üblich komplett in Schwarz gekleidet war und ihren Hund Brutus an
der Leine führte. Sie hatten dem winzigen Chihuahua, der das Herz und den Mut eines Bären und jedes einzelne Mitglied ihres Rudels spielend um den kleinen Finger gewickelt hatte, eine große, blütenweiße Schleife um den Hals gebunden. Daniel wandte sich ihm mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht zu.
»Marc, ist das Teil nicht geil? In so einem wollte ich schon immer mal …«, rief er aufgeregt zu ihm hinüber, unterbrach sich jedoch mitten im Satz und riss die Augen auf. »Verdammte Scheiße, siehst du gut aus! Also, wenn Tajo nicht wäre, würde ich dich sofort schnappen und vor den Traualtar zerren, bevor es jemand anderes macht.«
»Hey!«, protestierte sein Mann vehement. »Hab ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden? Und hast du vergessen, dass du schon mit mir verheiratet bist?«
Daniel drehte sich mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht zu Ric um.
»Du hast letzte Nacht dafür gesorgt, dass ich das keine Sekunde des heutigen Tages vergessen werde«, haute er unbekümmert heraus und seufzte theatralisch. »Ich kann nur hoffen, dass die Stühle gut gepolstert sind.«
Marc grinste belustigt, weil Ric hörbar die Luft einsog und sein verunsichert wirkender Blick sofort zum Chauffeur hinüber glitt, der jedoch vollkommen professionell keine Miene verzog.
Daniels gute Laune wirkte allerdings richtiggehend ansteckend und schaffte es, dass Marc sich sofort entspannte. Mit ihm an seiner Seite hatte er schon so viel erlebt und auch einige schwierige Situationen gemeistert – warum also sollte er den schönsten Tag seines Lebens nicht einfach genießen? Schließlich würden sie bloß heiraten und eine tolle Feier haben. So chaotisch es bei den Löwen auch manchmal zugehen mochte, das Rudel war nichts anderes als eine große Familie und alle freuten sich, bei dem Ereignis dabei zu sein.
Ric sah nun demonstrativ auf seine Armbanduhr.
»Wir sollten jetzt wirklich aufbrechen«, mahnte er. »Die anderen warten bestimmt schon.«
»Und wir wollen doch Annas tollen Zeitplan nicht durcheinanderbringen«, brummte Marc ironisch.
Der Chauffeur öffnete ihnen galant die hintere Wagentür.
»Wenn ich bitten darf?«
Mit einer formvollendeten Geste deutete er ins Wageninnere und sie kamen seiner freundlichen Aufforderung auch gerne nach.
Marc kletterte zuerst hinein, ließ sich auf der breiten Rückbank nieder und sah sich erwartungsvoll um. Oh Mann, diese Limousine war echt fantastisch. Ein großes Panoramadach ermöglichte den Blick auf den Himmel, über den nur vereinzelt ein paar Wolken zogen. Schon jetzt war es angenehm warm.
Dem Wetterbericht nach, den sie alle seit Tagen gespannt verfolgt hatten, erwartete sie ein schöner, trockener Sommertag, der nicht zu heiß werden sollte, und es sah danach aus, als würde sich die Prognose ausnahmsweise bewahrheiten. Nach ihm stieg Keyla ein und setzte sich neben ihn. Daniel und Ric ließen sich auf der Bank ihnen gegenüber nieder.
»Krass, hier ist sogar eine Bar eingebaut«, stellte Daniel freudestrahlend fest und öffnete sofort neugierig sämtliche Klappen und Türen der Einbauten. »Will jemand was zu trinken?«, fragte er dann geschäftig in die Runde.
»Nein, lass mal«, wehrte Marc ab. »Die Fahrt dauert ja kaum eine halbe Stunde.«
»Seit wann ist das ein Grund oder gar ein Hindernis?«, bemerkte Daniel spöttisch, holte eines der gekühlten Gläser hervor, angelte nach einer Flasche Whisky und warf einen prüfenden Blick auf das Etikett. »Nicht übel. Es gibt doch nichts Schöneres, als das traditionelle Vorglühen mit einem hundert Jahre alten Scotch zu beginnen.« Schwungvoll goss er sich einen ordentlichen Schluck ein, während die Limousine leicht
vibrierte, weil der Fahrer den Motor angelassen hatte.
Marc öffnete den Mund und wollte seinen besten Freund warnen, doch genau in diesem Moment gab es erwartungsgemäß einen Ruck, der Wagen setzte sich in Bewegung – und Daniel, der gerade zum Trinken ansetzen wollte, kippte sich den Schnaps übers Hemd.
»Scheiße!«, fluchte dieser haltlos, stellte sofort das Glas weg und wischte hektisch über die nasse Stelle auf seiner Brust. »So eine Sauerei! Das gibt Flecken!«
»Mensch, Daniel! Das ist wieder so typisch! Kein anderer saut sich schon vor der Feier ein.« Ric stöhnte genervt. »Jetzt musst du dich noch mal umziehen.«
»Ich hab aber nichts anderes mitgenommen!«, jammerte Daniel. »Das ist das einzige Hemd, das ich dabeihab. Und verdammt, auf dem Anzug sind auch Flecken!«
Er zupfte das Revers seines Jacketts zur Seite, auf dem ebenfalls winzige Spritzer gelandet waren.
»Warum hast du auch ausgerechnet den weißen Anzug an?«, hielt Ric sofort dagegen. »Ich hab dir doch gesagt, dass das keine gute Idee ist. So was zieht doch Flecken automatisch an.«
»Warum es der weiße sein musste?« Daniel grummelte ungehalten. »Weil er geil aussieht, auch wenn man jedes kleinste Fleckchen sofort darauf sieht. Aber was soll’s. Leben am Limit.«
»Bestimmt hat jemand ein anderes Hemd für dich«, warf Keyla beruhigend ein und reichte Daniel ein Taschentuch, das sie schnell von irgendwoher herbeigezaubert hatte. »Luke hat doch ungefähr deine Größe. Oder ich schmeiße das Hemd noch schnell in die Maschine und anschließend in den Trockner. Bis zur Zeremonie wird es wieder trocken sein.«
»Geht denn der Fleck auch wieder raus?« Daniel nahm das Taschentuch mit hochrotem Kopf entgegen und tupfte über sein Hemd. »Zum Glück ist es kein Batida de Coco
oder ein anderer Sahnelikör. Das hätte dann so ausgesehen, als ob mich Ric während der Fahrt … nun ja. Wobei ich dagegen nichts einzuwenden hätte, in dieser coolen Stretchlimo rumzumachen.« Er zuckte lässig die Schultern und warf seinem Partner ein schiefes Grinsen zu. »Meinst du, wir können uns die Kiste später noch für eine kleine … ähm … Spritztour
ausborgen?«
Marc musste sich schwer zusammenreißen, um nicht zu lachen, weil Ric den Mund aufmachte, um spontan etwas zu erwidern, ihn dann aber mit einem Blick auf die sichtlich amüsiert grinsende Keyla wieder schloss und gespielt abwehrend den Atem ausstieß.
»Mal sehen«, brummte der Panther dann jedoch leise und schmunzelte ebenfalls.
Entspannt lehnte sich Marc zurück.
Es war immer wieder lustig, die beiden zusammen zu erleben. Daniel hatte es von Anfang an genossen, seinen Mann mit irgendwelchen Sprüchen zu reizen und aus der Reserve zu locken, doch in letzter Zeit hatte ihr Geplänkel eine ganz andere Qualität bekommen. Aus den üblichen Streitereien war eher ein liebevoller Schlagabtausch geworden und die beiden wirkten nicht länger wie Hund und Katze, sondern wie ein eingespieltes Team.
Er seufzte zufrieden.
Es war noch gar so lange her, dass er sich wirklich Sorgen um seinen besten Freund gemacht hatte, der jahrelang in seinem anstrengenden Job als Broker an der Börse aufgegangen war, oft total überarbeitet gewesen und durch alle Betten getobt war, ohne irgendjemandem die Chance zu geben, nahe an ihn heranzukommen. Genau so, wie Ric früher eher abweisend auf ihn gewirkt hatte. Es war den beiden bestimmt nicht klar, aber sie waren gar nicht so grundverschieden, wie sie alle anderen offenbar immer glauben lassen wollten. Im Gegenteil,
tatsächlich waren sie sich ziemlich ähnlich.
Egal wie – sie taten sich gegenseitig gut.
TAJO
Verärgert schlug Tajo Annas Hand weg, die erneut an seiner Mähne herumzupfen wollte.
»Lass das!«, herrschte er sie an, doch seine Schwester knurrte lediglich amüsiert und schob ihm eine Strähne seines Haars hinter das Ohr zurück.
»Hör auf, so nervös rumzuzappeln. Sie kommen ja gleich«, mahnte sie streng.
»Ich? Ich bin nicht nervös«, murrte er ungehalten und drehte sich zum Spiegel um.
Okay, er war fertig. Wo blieb Marc denn nur? Ungeduldig warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war schon nach elf Uhr! Die Limousine hätte vor exakt fünf Minuten hier ankommen sollen.
»Nein, du bist überhaupt nicht aufgeregt«, stellte Anna fest, wobei ihre Stimme vor Ironie nur so triefte. »Dein Liebster fährt übrigens soeben vor.«
Oh ja, jetzt hörte er es auch. Ein Wagen näherte sich dem Hofgut, stoppte und hielt vor dem Hoftor. Bevor er sich selbst bremsen konnte, entwischte ihm ein verräterisches Seufzen.
»Hast du befürchtet, dass Marc in der letzten Minute noch mit jemand anderem durchbrennt?«, scherzte Anna unverfroren und gab ihm einen Klaps in den Rücken. »Komm, du siehst gut aus, Brüderchen. Ich hab mir jedenfalls Mühe gegeben, deine Vorzüge hervorzuheben.«
Tajo knurrte drohend. »Warte ab, bis du eines Tages Deacon heiraten willst. Ich zahle dir das alles heim.«
Insgeheim musste er zugeben, dass Anna entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, überall Chaos zu stiften, tatsächlich
eine große Hilfe gewesen war, nicht nur bei den störrischen Haaren, sondern sogar beim Rasieren und mit den unzähligen, winzigen Knöpfen seines Hemdes.
Sie ignorierte seine nur halbwegs ernst gemeinte Warnung, rückte das Einstecktüchlein in der Brusttasche seines Jacketts zurecht und lächelte sichtlich stolz.
»Okay, wir können. Gott, ich bin echt froh, wenn es jetzt endlich losgeht. Darauf haben wir alle uns tierisch gefreut.«
Gemeinsam verließen sie sein Schlafzimmer und wollten gerade die Treppe ins Erdgeschoss hinuntergehen, als ein winzig kleiner Waschbär an der Wand des Flures entlang an ihnen vorbeihuschte. Direkt gefolgt von Tess.
»Susi, bleib hier!«, quietschte ihre siebenjährige Schwester aufgeregt. Sie erwischte den kleinen Ausreißer, hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich, ohne Rücksicht auf ihr weißes Kleidchen zu nehmen, das sie für die Feier bereits angezogen hatte.
Anna stöhnte entsetzt.
»Mensch, Tess, muss das sein? Warum sind die Babys nicht im Käfig?«
»Onkel Jim hat gesagt, sie brauchen alle zwei Stunden ihre Milch. Ich muss sie noch füttern«, rechtfertigte Tess sich pampig. »Und Susi mag den Käfig nicht.«
»Du bringst den Waschbären jetzt sofort zurück und sperrst ihn ein«, mahnte Anna streng. »Wir können später noch nach ihnen sehen.«
Brüskiert schnaubte Tess, ließ Anna links liegen und wandte sich ihm zu. Mit einem herzerweichenden Blick sah sie zu ihm auf.
»Bitte, Tajo, darf ich Susi mitnehmen? Sie ist auch gaaanz lieb«, bettelte sie.
Tajo musste sich zusammenreißen, um nicht amüsiert zu grinsen, sondern den strengen Rudelführer rauszukehren.
Typisch Tess. Wenn sie bei Anna ihren Willen nicht bekam, versuchte sie es bei einem anderen.
»Nein.« Entschieden schüttelte er den Kopf. »Die Kleinen verhungern nicht innerhalb der nächsten beiden Stunden und sind auch später noch da. Bring Susi zurück.«
»Och menno«, murrte Tess zwar ungehalten, fügte sich aber und trabte mit dem Waschbärenkind auf dem Arm zurück in ihr Zimmer.
Tajo setzte den Weg ins Erdgeschoss fort und wollte gerade die Haustür öffnen, als diese von außen einen Spalt aufgemacht wurde und Keyla hereinschlüpfte.
»Wir sind da. Marc ist in Position und Niko hat seine Kamera gezückt. Seid ihr so weit?«, raunte sie und grinste ihrer Zwillingsschwester verschwörerisch zu.
Genervt verdrehte Tajo die Augen. »Jetzt reicht es mir langsam«, knurrte er ungehalten. »Was soll der ganze Affenzirkus? Ich will jetzt zu Marc, sonst nichts.«
»Was heißt hier Zirkus?«, entgegnete Anna verschnupft. »Das ist ein ganz besonderer Moment, der muss einfach perfekt sein. Und wir haben unser Bestes getan, um den passenden Rahmen dafür zu zaubern.«
Keyla lächelte ihm dagegen aufmunternd zu. »Geh raus zu ihm. Er wartet in der Scheune auf dich. Genieß den Augenblick.«
»In der Scheune?«, wiederholte Tajo ungläubig. Er hatte erwartet, dass Marc auf der Veranda oder im Hof stehen würde. Aber in der staubigen, dunklen Scheune? Was Besseres war seinen Schwestern nicht eingefallen? Na toll.
Er schnaufte enttäuscht, öffnete die Tür und trat auf die überdachte Veranda hinaus. Im Hof war ein großer, länglicher Pavillon aufgestellt worden, dessen weiße Stoffbahnen sich im warmen Sommerwind leicht bewegten. Kein Mensch und kein Wandler waren weit und breit zu sehen, der Hof lag still und verlassen vor ihm. Ein schmaler, roter
Teppich führte tatsächlich vom Scheunentor bis hin zu dem blumengeschmückten Stehpult am anderen Ende des Pavillons, wo ihre Standesbeamtin bald die Traurede halten würde.
Frau Werner hatten sie schon letzte Woche kennengelernt und ein sehr nettes Vorgespräch mit ihr geführt. Rechts und links des roten Teppichs waren Stühle aufgestellt worden, die ebenfalls mit weißen Schleifen und einzelnen Blüten geschmückt waren. Neben dem Pavillon, direkt vor der Mauer des Westflügels, hatte eine lange Tischreihe Platz gefunden, auf der später das Buffet aufgebaut werden würde. Allein die Länge dieser Tafel ließ ihn vermuten, dass heute niemand hungrig bleiben würde. Derzeit stand dort, aus welchen Gründen auch immer, eine monströse, fünfstöckige, mit weißen Marzipanrosen verzierte Hochzeitstorte.
Vielleicht, weil Anna sie vorher noch mal fotografieren wollte. Er wusste es nicht, aber es war ihm auch egal.
Bei dem Anblick machte sich allerdings ein seltsames Gefühl in Tajo breit. Eine verwirrende Mischung aus Aufregung, Glück und Stolz ließ urplötzlich seinen Puls ansteigen und sein Herz schneller schlagen. Es war so weit. Endlich. In den vergangenen Tagen war er trotz des Trubels und der Vorfreude der Familie und ihrer Freunde gelassen geblieben, doch jetzt merkte er, dass genau in diesem Moment seine Handflächen feucht wurden und er zu schwitzen begann. Resolut mahnte er sich zur Ruhe, straffte die Schultern und setzte seinen Weg in die Scheune fort. Dorthin, wo Marc auf ihn wartete.
Das massive Holztor knarrte leise in seinen Angeln, als er es öffnete, hineinging und es hinter sich wieder sorgfältig schloss. In dem riesigen ehemaligen Heuschober war es still und genauso dunkel, wie er es erwartet hatte. Auf den ersten Blick stellte er fest, dass ihre Autos, die normalerweise hier parkten, nach draußen gefahren worden waren. Durch das einzige Oberlicht im Scheunendach fiel ein schmaler, scharf
abgegrenzter, rechteckiger Lichtstrahl, in dem jede Menge Staubpartikel zu sehen waren, die durch das Sonnenlicht schwebten und aussahen, als würden sie darin tanzen.
Tajo schnappte unwillkürlich nach Luft. Die Fläche rings um diesen beleuchteten Fleck auf dem Lehmboden war mit unzähligen Blütenblättern bedeckt, die einen angenehm süßen Duft verströmten.
Er spürte, dass Marc da war, doch selbst seine Augen brauchten ein paar Sekunden, bevor sie sich nach der Helligkeit des Hofes an das Dämmerlicht im Inneren der Scheune gewöhnt hatten.
Genau in diesem Moment trat Marc jedoch aus dem Halbdunkel, mitten hinein in den hellen, blütenbedeckten Bereich – und Tajo verschlug es vollends den Atem.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht, dass ihn Marcs Anblick, den er schließlich jeden Tag vor Augen hatte, so sehr berührte. Sein Herz schien jedoch einen Schlag auszulassen, nur um dann holpernd und stolpernd wieder einzusetzen und zu versuchen, das Versäumte nachzuholen.
Seine Kehle wurde eng und zog sich zusammen, als er in Marcs Augen blickte, die in dem dämmrigen Licht dunkler wirkten. Sein Mann sah ihm erwartungsvoll entgegen, doch es war der selbstbewusste, liebevolle und gleichzeitig stolze Ausdruck auf seinem Gesicht, der Tajo sofort gefangen nahm.
Wie von selbst setzten sich seine Füße in Bewegung und er ging die letzten Meter auf Marc zu, ohne irgendetwas anderes um sich herum wahrzunehmen.
Es war, als wären sie beide allein auf der Welt.
Der stille, weite und hallenartige Raum mit dem natürlichen, dennoch effektvollen Lichtstrahl, der wie der Spot eines Scheinwerfers wirkte und in dem Marc stand, verdeutlichte ihm in schmerzhafter Klarheit, wie sehr er ihn liebte.
Für ihn würde es immer nur Marc geben. Seinen Mann, seine
Liebe, sein großer Rückhalt und der einzige Mensch, der in ihn hineinsehen konnte, ihn verstand und ihn so liebte, wie er war. Mit all seinen guten und schlechten Eigenschaften, mit seinen großen und kleinen Macken und Eigenarten.
Tajo blieb direkt vor ihm stehen und sog geräuschvoll die Luft ein. In seinem Kopf bildeten sich unzählige angefangene Sätze, durchaus wichtige Dinge, die er Marc an dieser Stelle hatte sagen wollen, doch kein Ton wollte ihm über die Lippen kommen. Stattdessen hob er die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die einzelne weiße Blüte mit dem gefächerten Blatt, die an Marcs Revers befestigt war. Sorgsam rückte er das schmale Gebinde zurecht, obwohl es schon vorher perfekt gesessen hatte.
Auch Marc sagte nichts, er hob nur den Kopf und sah sichtlich ergriffen zu ihm auf. Für einen Augenblick hielt Tajo inne und genoss ihren stummen Austausch, der keiner Worte bedurfte.
Hier waren sie nun, bereit, sich dem Rest der Welt zu stellen.
Gemeinsam.
Nicht nur dieser Moment gehörte ihnen beiden allein, sondern die ganze verdammte Ewigkeit. In dieser Sekunde schwor er sich, dass er nicht einmal dem Tod die Macht darüber einräumen würde, sie voneinander zu trennen. Sie gehörten zusammen, jetzt und für alle Zeit. Er beugte sich zu Marc hinunter und küsste ihn hauchzart auf den Mund. Dabei hatte er seine Hand wieder sinken lassen und spürte nun, dass Marc nicht nur umgehend den angehaltenen Atem ausstieß, sondern gleichzeitig nach seinen Fingern griff und sie fest umklammerte, als brauche er einen Rettungsanker.
Okay, vielleicht war sein Bräutigam doch weitaus nervöser, als es zunächst den Anschein hatte.
»Bereit?«, brachte er flüsternd heraus.
Marc presste kurz die Lippen aufeinander, wie immer, wenn er sich sammeln musste. Dann nickte er zögerlich und drückte
dabei Tajos Hand eine Spur fester.
Erst in diesem Moment nahm Tajo bewusst wahr, dass sie nicht allein waren. Niko und Quentin kamen auf sie zu, die bislang Abstand gehalten hatten, um sie nicht zu stören. In Nikos Hand entdeckte er einen professionell aussehenden und offensichtlich teuren Fotoapparat, mit dem dieser anscheinend Bilder gemacht hatte.
»Prima, ich habe ein paar tolle Fotos im Kasten«, bemerkte der junge Polarfuchs nun auch zufrieden. »Das gibt ein schönes Hochzeitsalbum.«
»Die anderen warten draußen«, erinnerte Quentin sie nun zurückhaltend. »Seid ihr so weit?«
Tajo atmete tief durch, bevor er sich Marc zuwandte, der seinen Blick fest erwiderte.
»Ja«, antworteten sie beide gleichzeitig und wie aus einem Mund.
Niko schmunzelte unverhohlen.
»Habt ihr das einstudiert? Nur so als Tipp: Das Wörtchen Ja wird erst in wenigen Minuten eine tragende Rolle spielen. Vielleicht solltet ihr das bis dahin nicht so inflationär gebrauchen, sonst nutzt es sich noch ab.«
Sie lachten gemeinsam und Tajo merkte erleichtert, dass auch Marc sich wieder entspannte. Nun denn – dann konnte es jetzt wirklich losgehen.
Sie waren mehr als bereit.
MARC
Es fiel Marc verdammt schwer, die Scheune zu verlassen. Kurz bevor sie das Tor erreichten, hielt er mitten im Schritt inne und schaute über die Schulter zurück. Seltsam, der Ort war ihm vertraut, dennoch wirkte er nun vollkommen anders als zuvor. Woran lag das nur? Etwa daran, dass er von nun an neue
Erinnerungen mit diesem verbinden würde? Vielleicht.
Keine Frage, er hatte die Idee mit dem First Sight Shooting für absolut blöd und kitschig gehalten, aber jetzt war er heilfroh darüber, dass Niko den Augenblick in ein paar Bildern festgehalten hatte. Fotos waren manchmal mehr als eine Anhäufung von einigen Tausend Pixeln – sie waren visualisierte Erinnerungen. Immer dann, wenn man solch ein Foto hervorholte und betrachtete, wurde man flüchtig von denselben Gefühlen gestreift, die man in diesem Moment der Aufnahme verspürt hatte. Er seufzte glücklich. Jetzt war es an der Zeit, viele weitere solcher Andenken zu produzieren. Jeden Tag aufs Neue.
In diesem Moment beschloss er, noch andere Begebenheiten ihres Lebens auf einem Foto festzuhalten, mindestens einmal pro Woche. Einfach so, nur für sich selbst. Quasi als Pinnwand für seine Erinnerungen.
Quentin öffnete nun den hölzernen Torflügel und trat zur Seite. Im Hof wurden sie bereits erwartet, die versammelte Familie und ihre Freunde sahen ihnen gespannt entgegen.
Genau das war der Moment, vor dem Marc sich die ganze Zeit über gefürchtet hatte, weil alle Augen auf ihn gerichtet waren – doch jetzt merkte er, dass es ihm überhaupt nichts ausmachte. Erleichtert atmete er durch und straffte sich. Das waren bloß Anna und Keyla, Linda und Alexander, Jon mit Luke und alle anderen, die ihm am Herzen lagen. Er schmunzelte, als er Daniel entdeckte, der vorne am Rednerpult der Standesbeamtin stand und mittlerweile unter dem Jackett ein weißes T-Shirt trug. Also hatte Keylas Plan, das versaute Hemd noch schnell zu waschen und zu trocknen, nicht funktioniert. Trotzdem grinste Daniel ihm lässig entgegen, ihm schien das nichts auszumachen.
»Heißes Shirt«, raunte Marc ihm zu, sobald sie das Pult erreicht hatten und er sich neben ihm aufstellte. Es saß nicht nur relativ eng, es prangte darauf auch in riesigen, pinkfarbenen und glitzernden Lettern His Queen
, was er trotz des Jacketts lesen
konnte. »Seine Königin?«
Daniel lachte leise. »Ja, ich hatte nur dunkle Shirts eingepackt. Anna hat es mir geliehen – aber ich glaube, das bekommt sie nicht zurück. Ric gefällt es.«
Er zwinkerte Marc verschmitzt grinsend zu.
Die Standesbeamtin trat nun auf sie zu und begrüßte zuerst ihn, dann Tajo mit einem Handschlag und einem freundlichen Lächeln, während alle anderen sich hastig ihre Plätze suchten. An Tajos Seite stand Jon, der sich sichtlich in seiner Rolle als Trauzeuge gefiel und Marc entspannt zulächelte.
Frau Werner wartete geduldig ab, bis einigermaßen Ruhe eingekehrt war.
»Normalerweise beginne ich meine Ansprache mit den Worten Liebes Brautpaar
«, hob sie mit ihrer warmen Stimme an. »Doch dann habe ich schon an dieser Stelle gestockt, als ich meine Rede entworfen habe, schließlich haben wir hier keine Braut. Gibt es denn für diesen Begriff keinen anderen Ausdruck, wenn sich zwei Männer das Jawort geben wollen? Bei Ihnen, liebe Familie und Freunde von Tajo und Marc, hatte ich dagegen keine Probleme. Der Begriff der Familie ist geschlechtsneutral und unter Ihren Freunden ist keine einzige Frau, der ich auf die Füße treten könnte.«
Alle schmunzelten. Es stimmte, die wenigen Frauen unter ihnen gehörten ausnahmslos zur Familie.
»Also habe ich händeringend nach einer anderen Anrede für Sie beide gesucht«, gab sie dann unumwunden zu. »Es wird höchste Zeit, dass sich auch der Sprachgebrauch zumindest dort anpasst, wo es jemandem wirklich wichtig ist – also allem voran bei der eigenen Hochzeit. Ich meine, es ist egal, ob auf einem Straßenschild ein Mann abgebildet ist, der über einen Zebrastreifen läuft, oder ob im Fernsehen bei einer Reportage ein paar Fahrradfahrer erwähnt werden, obwohl es auf dieser Welt auch Fahrradfahrerinnen gibt. Vielleicht gewöhnt man es
sich auch eines Tages an, einfach von den Fahrradfahrenden zu berichten.«
Ein belustigtes Raunen ging durch die Menge, auch Marc grinste. Oh ja, diesem Problem begegnete man zwar, aber er hatte nie verstanden, warum man sich gleich darüber die Köpfe heißreden musste.
»Die Anrede Liebe Liebenden
habe ich ebenfalls verworfen. Zum einen, weil sie nach zwei Gläsern Champagner nicht mehr so deutlich rüberkommt und zum anderen, weil sie irgendwie doppelt gemoppelt klingt«, fuhr Frau Werner ironisch fort.
Marc warf einen raschen Seitenblick zu Tajo hinüber, der sich ebenfalls kaum noch das Lachen verkneifen konnte. Oh ja, mit Frau Werner hatten sie einen richtigen Glücksgriff gemacht. Die Beamtin hatte denselben Humor wie sie und zerstreute nun endgültig seine Befürchtung, dass diese Zeremonie ins Kitschige abdriften würde.
»Dann blieb noch Liebe Trauende
übrig, was auch nicht besser war«, ergänzte Frau Werner. »Das birgt nämlich die Gefahr, dass man wie immer mit Liebes Brautpaar
beginnen will und dann aus Versehen Liebe Brauende
daraus macht.«
Aus dem verhaltenen Kichern der Hochzeitsgäste wurde schlagartig ein grölendes Lachen.
Marc drehte sich zu den anderen um.
Oh ja, alle lagen vor Lachen fast unter den Stühlen. Sein zukünftiger Schwiegervater Alexander wischte sich die Lachtränen aus den Augen, selbst Onkel Jim grinste breit und schien sich königlich zu amüsieren.
Die Kinder verstanden sicher nicht, worum es hierbei ging, aber sie lachten unbekümmert mit und hopsten ausgelassen zwischen den Stuhlreihen umher.
Marc runzelte die Stirn, als sein Blick auf Tess fiel. Warum hatte ihr Kleid an ihrem Bauch so eine seltsame Ausbuchtung? Er hatte jedoch keine Gelegenheit, Anna oder Keyla darauf
aufmerksam zu machen, die in seiner Nähe in der vorderen Reihe saßen, weil Frau Werner ihre Rede fortsetzte und er sich wieder umdrehen musste.
»Letztendlich bin ich an der Suche nach einer halbwegs passenden Anrede gescheitert und habe ich mich dazu entschlossen, einfach hiermit zu beginnen: Lieber Tajo, lieber Marc …«
Sie musste kurz unterbrechen, weil jetzt das Gelächter angesichts der trockenen Art, wie sie dies vorgetragen hatte, noch lauter wurde und es ein paar Minuten dauerte, bis sie weitermachen konnte. Auch Marc lachte ungezwungen mit und freute sich, dass alle so viel Spaß hatten.
»Lieber Tajo, lieber Marc«, setzte sie dann erneut an. »Sie haben mir in unserem Gespräch einiges über sich erzählt. Wie Sie sich kennengelernt und ineinander verliebt haben, was Sie an dem anderen schätzen, worin Sie sehr gegensätzlich sind, aber auch, welche Gemeinsamkeiten Sie nach und nach entdeckt haben.«
Langsam kehrte wieder Ruhe unter den Gästen ein und Marc spürte, wie gebannt alle zuhörten.
Es war merkwürdig, wenn auf diese Weise von einem selbst gesprochen wurde. Natürlich konnte er sich noch an das lockere Gespräch vor ein paar Tagen erinnern, aber er war jetzt schon beeindruckt, wie gut Frau Werner ihm zugehört hatte.
»Ich habe dabei den Eindruck gewonnen, dass ich mir bei Ihnen keinerlei Sorgen machen muss, ob diese Ehe Bestand haben wird«, sagte Frau Werner und bedachte Marc mit einem derart mütterlichen, liebevollen Blick, dass er schlucken musste. »Für viele Leute ist die Liebe etwas, das kommt und geht. Sie lassen sie gehen und kämpfen nicht dafür, sie halten nicht daran fest, weil es irgendwo und irgendwann vielleicht wieder einen anderen Partner geben wird. Sie beide hingegen hatten von Anfang viel zu kämpfen, sie haben den unbequemen Weg
beschritten und mussten sich immer wieder behaupten. Vor der Meinung anderer, die eine gleichgeschlechtliche Liebe nicht gutheißen, oder auch gegenüber denen, die eine Liebe zwischen einem Menschen und einem Wandler nicht tolerieren.« Sie stockte und schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. »Diese Leute mag es leider geben, doch ich hoffe, dass sowohl das eine als auch das andere eines Tages genau als das angesehen wird, was es ist: eine Verbindung zwischen zwei Liebenden. Denn die Liebe ist das, was einen von einem Stück Holz unterscheidet. Und sie ist das, was uns alle zu einem besseren Menschen oder auch besseren Wandler macht.« Sie holte kurz Atem und schaute zuerst zu ihm, dann zu Tajo.
»Ich freue mich, dass Sie an diesem herrlichen Sommertag und im Kreis Ihrer Familie und Ihrer Freunde das Ehegelübde ablegen wollen und dass ich die Ehre habe, diese Trauung zu beurkunden. Ich brauche Ihnen keinen Vortrag halten, was Sie zukünftig in Ihrer Ehe zu beachten haben, das wissen Sie alles selbst. Aber Sie, Tajo, haben mich darum gebeten, Ihnen an dieser Stelle das Wort zu überlassen, bevor ich Ihnen die alles entscheidende Frage stelle.«
Sie nickte Tajo aufmunternd zu, der sich verhalten räusperte und Marc zuwandte.
»Marc, Liebster …«, begann er, griff nach seiner rechten Hand und nahm sie in beide Hände.
Marc konnte nicht verhindern, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg, obwohl er genau damit gerechnet hatte. Seine Knie wurden schlagartig weich und er ahnte, dass seine Hand gezittert hätte, wenn Tajo sie nicht festhalten würde.
Gerade als Tajo weitersprechen wollte, polterte es plötzlich laut. Verwirrt hielt dieser inne, runzelte brüskiert die Stirn und sah zu ihren Hochzeitsgästen hinüber. Ein Stuhl in der letzten Reihe war umgefallen, scheinbar hatte Tess ihn umgestoßen. Die Kleine krabbelte jedenfalls in diesem Moment wie ein geölter
Blitz zwischen zwei Stuhlreihen durch, Marc konnte gerade noch den Zipfel ihres Kleidchens sehen, der hinter den Beinen der sitzenden Gäste verschwand.
»Au, verdammt!« Mit einem Mal schnellte Siku von seinem Stuhl hoch, schaute sich irritiert um und rieb sich über die Wade. »Das Vieh hat mich gebissen!«
»Was denn für ein …«, wollte Devon erstaunt wissen, doch in diesem Moment sprang er ebenfalls wie von der Tarantel gestochen auf. »Aua! Scheiße, wer hat die Waschbären rausgelassen?«
»Ich fang sie, ich fang sie!«
Dissy jubelte begeistert und so schnell konnten weder Siku noch Devon reagieren, wie sich das kleine Mädchen von ihnen losriss, einem entlaufenen Waschbärbaby hinterherhetzte und sich dabei in ihre Bärengestalt wandelte.
Marc stöhnte entsetzt. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie Frau Werner erstaunt die Augen aufriss, dennoch wie erstarrt stehen blieb und ungläubig der Eisbärin nachschaute, die zwar die Größe eines Kleinwagens aufwies, aber trotzdem verdammt flink dem winzigen Waschbären nachsetzte. Ihr folgte die schlanke Gestalt eines Pumas, während sich zeitgleich zwei Löwenkinder aus ihren Kleidern schälten und ebenfalls die Verfolgung aufnahmen.
Auch die M&Ms quietschten begeistert und Linda, die Mylena auf dem Schoß sitzen hatte, schrie überrascht auf, als sich die Kleine wandelte und in ihrer Löwengestalt entwischte.
Binnen eines Wimpernschlags brach die Hölle los.
Siku hatte es offensichtlich aufgegeben, Dissy zurückrufen zu wollen. Der ehemalige Commander der Navy Seals zerrte sich fluchend Jackett und Hemd vom Leib und streifte die Schuhe ab, bevor er auch die Hose fallen ließ und sie achtlos zur Seite warf. In der nächsten Sekunde setzte er seiner kleinen Halbschwester nach und verwandelte sich im Laufen, um sie
wieder einzufangen.
Im ersten Moment war Marc wie vor den Kopf geschlagen und starrte ebenso wie Tajo ungläubig auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte.
Die Kinder hopsten in ihren Tiergestalten über den Hof und versuchten die Waschbärbabys zu erwischen, während die Erwachsenen aufgesprungen waren und ihrerseits alles daransetzten, die Kinder zu fassen zu bekommen.
»Ich habe es zwar geahnt, dass dies keine gewöhnliche Trauung wird, aber das habe ich jetzt wirklich nicht erwartet«, hörte Marc Frau Werner vor sich hin murmeln.
Daniel seufzte abgrundtief.
»Es wäre eher ein Wunder gewesen, wenn das hier normal abläuft«, stellte er sarkastisch fest, wandte sich dann aber an Tajo.
»Ich glaube, du wurdest eben unterbrochen. Was wolltest du gerade sagen?«, fragte er in aller Seelenruhe, obgleich rings um sie herum ein munteres Fangenspielen ablief, bei dem Marc momentan nicht feststellen konnte, wer die Nase vorn haben würde.
Jedenfalls war es den anderen bislang nicht gelungen, auch nur eines der Kinder zu erwischen.
TAJO
Tajo riss sich von dem Anblick des chaotischen und außer Rand und Band geratenen Haufens von Leuten los, den seine Familie und ihre Freunde gerade darstellten.
»Äh … was?«, fragte er verwirrt und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Daniel, der ihn abwartend ansah und soeben irgendetwas gesagt haben musste, von dem er aber nichts mitbekommen hatte.
»Ich hab dich gefragt, was du Marc eben sagen wolltest«,
wiederholte Daniel geduldig. »Mach ruhig weiter. Marc, Jon und ich sind jedenfalls ganz Ohr.«
»Genau.« Genüsslich verschränkte Jon die Arme vor der Brust und grinste breit. »Eure Trauzeugen stehen bereit, Frau Werner ist hier – also, worauf wartest du?«
Irritiert sah sich Tajo um, doch wie von selbst glitt sein Blick zurück zu Marc, dessen Hand er noch immer hielt und der erwartungsvoll zu ihm aufsah.
Um die Mundwinkel seines Bräutigams zuckte zwar ein amüsiertes Lächeln, aber in seinen Augen lag auch die stumme Bitte, keine einzige weitere Sekunde mehr zu vergeuden. So lange hatten sie beide schon darauf gewartet.
»Marc, Liebster«, wiederholte er, umfasste seine Hand eine Spur fester und atmete tief durch, um sich zu entspannen und einigermaßen Ruhe zu finden. »Ich gelobe, dich immer zu lieben, dich zu beschützen und immer für dich da zu sein. Es ist leicht, das zu versprechen, wenn es einem gut geht und man keine Sorgen hat. Doch ich will alles dafür geben, dass wir nie wieder getrennt sind oder du Angst um mich haben musst.«
Er schluckte und sammelte sich, bevor er die Hand von Marcs löste und sie mit der Fläche nach oben Jon entgegenstreckte, der ihm wie abgesprochen den Ring hineinlegte.
Im selben Moment krachte es irgendwo und ein massiger Schatten huschte durch sein Blickfeld, doch er schenkte dem keine weitere Beachtung. Sein Fokus lag allein auf Marc, der ihm aufmerksam zuhörte und seinen Blick ebenso fest erwiderte. Sanft zog er Marcs Hand an sich und schob ihm den Ring über den Finger.
»Mit diesem Ring nehme ich dich zu meinem Mann. Ich will und ich werde immer mit dir zusammen sein, an deiner Seite stehen, dir treu sein, dich achten und respektieren, mit dir lachen oder dich trösten, wenn dich etwas traurig macht. Ich liebe dich über alles, weil du meine Welt erhellst und ihr einen
Sinn gegeben hast.«
Seine Stimme mochte zwar fest gewesen sein, seine Knie dagegen waren verflucht weich geworden.
Ein winziger Funken Unsicherheit glomm in seinem Herzen auf, weil Marc ihn unendlich lange schweigend ansah, bevor er den Griff um seine Hand verstärkte und plötzlich von irgendwoher einen Ring hervorholte.
»Tajo, mein Herz«, begann er ruhig und gefasst. »Ich weiß nicht, wie viele Vorlagen ich aus dem Internet herausgesucht und alle wieder in den Papierkorb auf meinem Laptop verschoben habe. Das, was ich dir sagen möchte, stand dort nirgends geschrieben. Anschließend habe ich selbst nach Worten gesucht, um dann festzustellen, dass es keine gibt. Nichts kann annähernd beschreiben, was ich für dich fühle. Aber das Schöne ist: Ich weiß, dass ich das bei dir auch nicht aussprechen muss. Du hast schon immer meine Gedanken geteilt, meine Gefühle gefühlt, meine Tränen geweint, mein Lachen gelacht. Alles, was ich fühle, spürst du in deinem Herzen, egal, wie weit wir voneinander getrennt sind. Als ich über uns beide nachgedacht habe, hatte ich plötzlich den Eindruck, dass meine Liebe zu dir vielleicht schon vorhanden war, bevor wir uns überhaupt kennengelernt haben. Sie fühlt sich jedenfalls so an, als wäre sie schon immer ein Teil von mir gewesen.«
Er atmete hörbar erleichtert auf und schob ebenfalls den Ring über Tajos Finger. »Mit diesem Ring nehme ich dich zum Mann. Ich werde dich immer lieben, jetzt und für alle Zeit. Ich will dein Leben reicher, den Tag heller und die Nacht … nun ja, die Nächte machen wir uns gemeinsam schön.«
Sie lachten alle.
Vielleicht kam es Tajo nur so vor, aber er fühlte sich wie in einer Blase, als wären Marc, Daniel, Jon und er mit Frau Werner in einer anderen Sphäre gelandet.
Das Chaos um sie herum hatte er die ganze Zeit über nicht mehr wahrgenommen, erst jetzt drangen wie aus der Ferne vereinzelt Rufe und das Gebrüll der Kinder zu ihm vor.
»Hiermit erkläre ich Sie beide, kraft meines Amtes, zu Eheleuten«, schloss Frau Werner nun würdevoll ab. Sie seufzte zufrieden. »Und bevor ich Sie nacheinander mit den Trauzeugen um Ihre Unterschrift auf den Dokumenten bitte, dürfen Sie sich nun küssen.«
Das ließ sich Tajo nicht zweimal sagen.
Marcs Augen leuchteten glücklich, als er sich zu ihm beugte und ihn zuerst sanft, dann jedoch nachdrücklich küsste.
Absichtlich nahm er sich Zeit, kostete Marcs Lippen ausgiebig und knurrte wohlig.
Vielleicht war es dem Taumel des Glücksgefühls geschuldet, dass er leicht schwankte, sobald sie sich widerstrebend voneinander lösten – oder aber dem übermächtigen Verlangen, seine Gestalt zu wechseln und durch sein Löwengebrüll jeden innerhalb eines Umkreises von mindestens zehn Kilometern wissen zu lassen: Marc war nun endgültig SEIN.
Sein Mann.
Für immer.
MARC
Marc nippte an seinem Champagner und ließ seinen Blick über den Hof schweifen.
Die Dämmerung setzte gerade ein und überall hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die miteinander schwatzten und lachten. Die leckeren Köstlichkeiten des Buffets waren durch Keylas unermüdlichen Einsatz immer wieder aufgefüllt worden, sodass alle Gäste mittlerweile rundum satt und zufrieden waren.
Sogar die Löwen.
Die Stimmung könnte also nicht besser sein.
Auf den Stufen der Veranda saß Onkel Jim, direkt neben ihm Marcs Schwiegermutter. Linda und ihr älterer Bruder waren schon seit mehr als einer halben Stunde in ein angeregtes Gespräch vertieft und lachten miteinander.
Marc hatte darüber hinaus den Eindruck, dass sich Onkel Jim mittlerweile im Rudel gut aufgehoben fühlte und es genoss, den Kindern bei der Versorgung der kleinen Waschbären zu helfen.
Okay, ein komischer Kauz würde er trotzdem immer bleiben.
»Pfoten weg! Das gehört mir!«
Jons vehemente Drohung, die er gerade quer über den Hof gebrüllt hatte, lenkte die Aufmerksamkeit aller mühelos auf sich. Marc schmunzelte.
Aha, sein Schwager stritt sich wohl mit Siku um das letzte Stück Hochzeitstorte. Dabei schien es den beiden nichts auszumachen, dass es vom hinteren Teil der fünfstöckigen Torte stammte, der von den M&Ms bereits angeknabbert worden war, bevor Anna die Löwenzwillinge entdeckt und zumindest den Rest des Kuchens hatte retten können.
»Hey, das wollte ich mir gerade nehmen! Du hast schon drei Stück gefressen«, beschwerte sich Siku verschnupft und grapschte nach dem Teller in Jons Hand.
»Verpiss dich, Kunuk. Das habe ich mir geholt und angeleckt. Also ist es meins.« Jon knurrte ungehalten, wich einen Schritt zurück und zog blitzschnell den Teller aus der Reichweite des Ex-Seals.
Der Alkohol, der hier in Strömen floss und dem Jon reichlich zugesprochen hatte, mochte schuld daran sein, dass der Löwe dabei leicht schwankte und den Teller schief hielt. Das heiß begehrte Tortenstück rutschte herunter – und landete auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes.
»Oh.«
Verwirrt schaute Jon von seinem plötzlich leeren Geschirr auf den zermatschten Kuchen am Boden. Von links schlenderte
Dissy in ihrer Bärengestalt zu den beiden Männern, schnüffelte an der Buttercreme und verschlang das kleine Stück mit einem Happs, bevor sie zufrieden rülpste und weitertrottete, als wäre nichts geschehen.
Lässig zuckte Jon die Schultern und drückte dem verdutzten Siku den leeren Teller in die Hand.
»Nun gut, Commander, ich hab’s mir spontan anders überlegt. Du kannst den Teller haben, ich hol mir noch ein Stück von dem leckeren Fasan.«
Eine Sekunde lang sah es so aus, als würde der Eisbärenwandler seinem Freund das Porzellan an den Kopf werfen wollen, dann grinste er jedoch, legte einen Arm um Jons Schultern und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung, wo die Bar aufgebaut worden war.
»Kannst du machen, aber erst gehen wir beiden noch einen zusammen trinken. Habe ich dir schon die Geschichte erzählt, wie Devon versucht hat, Dissy ein Stück Aas abzunehmen, das sie gefunden hatte und fressen wollte? Das war lustig!«
Marc sah den beiden Freunden hinterher, die Arm in Arm zur Bar wankten und sich von Ric ein frisch gezapftes Pils geben ließen. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Die zwei könnten charakterlich kaum unterschiedlicher sein und stritten zwar häufig, dennoch hatte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, über die nicht nur er, sondern vor allem Devon mehr als glücklich war.
Von hinten schlangen sich plötzlich lange, starke Arme um ihn und zogen ihn gegen einen warmen, vertrauten Körper. Tajo legte das Kinn auf seine Schulter und seufzte zufrieden.
»Bist du glücklich?«, raunte er leise in Marcs Ohr.
»Mehr als das.« Marc lehnte sich entspannt gegen seinen Mann und genoss die feste Umarmung. »Es ist eine tolle Feier geworden, nicht wahr?«
»Oh ja.« Tajo brummte zustimmend. »Genau so, wie sie sein
sollte.«
»Chaotisch, hektisch und voller Zwischenfälle?«, fragte Marc ironisch, lachte dabei jedoch.
»Nein. Voller neuer, wunderschöner Erinnerungen«, korrigierte Tajo ihn leise.
Versonnen betrachtete Marc den matt schimmernden goldenen Ring an Tajos Hand.
»Erinnerungen sind ein wichtiger Teil unseres Lebens«, bemerkte er nachdenklich. »Obwohl es sich dabei immer um Momente dreht, die vergangen sind. Manchmal steckt ein bisschen Wehmut darin, weil sie so schnell vorübergegangen und unwiderruflich vorbei sind.«
»Hm.« Tajo zog ihn eine Spur fester an sich. »Das Gute daran ist, dass wir jeden Tag die Chance haben, den schönen Erinnerungen wieder neue hinzuzufügen. Genau das habe ich vor.« Er drehte Marc zu sich um und stieß mit seinem Champagnerkelch sachte gegen den in Marcs Hand. »Auf uns.«
»Auf unsere Zukunft, in der noch jede Menge schöner Erinnerungen auf uns warten«, stimmte Marc zu.
***ENDE***