Kapitel 3
BRON
Der kühle Fahrtwind trieb ihm Feuchtigkeit in die Augen, die sich in deren Winkeln sammelte, bis sich dort einzelne Tränen lösten, die in Richtung seiner Schläfen wanderten und feuchte Spuren auf seiner Haut hinterließen.
Trotzig fuhr sich Bron mit dem Handrücken über die Augen und wischte sie weg. Nein, das war bloß der Wind. Er heulte niemals. Schon gar nicht um seinen Bruder.
Es war schließlich Jahre her, dass sie aufeinandergetroffen waren. Wenn er sich recht erinnerte, war das letzte Treffen nicht mit einem freundlichen Gespräch verbunden gewesen. Im Gegenteil. Ben hatte ihn angebrüllt und anschließend verprügelt. Ihn als Mörder tituliert.
Derselbe Zorn, den er zu jener Zeit verspürt hatte, stieg erneut in ihm hoch. Als hätte allein der Gedanke an Ben diesen heraufbeschworen und wieder lebendig werden lassen.
Bron schnaubte wütend. Damals hatte er nicht nur notgedrungen seinem Elternhaus den Rücken gekehrt, sondern sich auch von allem losgesagt, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Sein Zuhause war danach nicht mehr sein Zuhause, seine Familie war nicht mehr seine Familie. Nicht einmal Nattys Briefe oder ihre Anrufe hatten etwas daran zu ändern vermocht.
Natty. Seine kleine Schwester. Es hatte ihn geschmerzt, sie zurücklassen zu müssen. In unregelmäßigen Abständen hatte er nach ihr gesehen, um sich aus der Ferne zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Ohne sich ihr zu zeigen, ohne an ihre Tür zu klopfen, damit er sie nicht unnötig in Gefahr brachte. Abgesehen von einer Handvoll kurzer Telefonate hatte er ihr lediglich die Schnullerkette mit dem Bären darauf über Umwege zukommen lassen, kurz nachdem Beaumont auf die Welt gekommen war. Genau jene, die der Navy-Typ ihm eben gezeigt hatte.
Bron unterdrückte einen Seufzer. Bernadette hatte er oft vermisst, aber sie war schon immer ein starker Charakter gewesen. Auch ohne seine Hilfe kam sie sehr gut allein zurecht.
Ben dagegen hatte er erfolgreich aus seinem Gedächtnis gestrichen. Für ihn hatte er einfach aufgehört zu existieren. Bis heute.
Sollte er angesichts der Todesnachricht irgendetwas fühlen?
Immerhin waren sie Zwillinge gewesen. Nein, selbst wenn er jetzt in sich hineinfühlte, waren da weder Trauer noch Bestürzung. Nur Wut. Die altbekannte Scheißwut und der brennende Wunsch, es Ben irgendwann beweisen zu können, dass ihn keine Schuld traf, dass er nicht getan hatte, was ihm vorgeworfen worden war.
Nun denn. Das war nun nicht mehr nötig. Manche Dinge erledigten sich von selbst.
C´est la vie.
Bye, bye und auf niemals Wiedersehen, Arschloch.
Bron bog hinter Tacoma vom Highway ab und nahm die State Route 16, die über eine lange Brücke zur gegenüberliegenden Halbinsel führte. Der Horizont wurde langsam heller, in einer knappen halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Genug Zeit, um auszuruhen und sich dann, gegen Abend, wieder auf den Weg zu machen. Mal sehen, ob er heute etwas Neues über die geplante Lieferung herausfinden konnte, obwohl es in den letzten Tagen im Kreis seiner Informanten eher ruhig geworden war. Zu ruhig für seinen Geschmack. Es fiel ihm immer schwer, sich in Geduld zu üben, bis irgendetwas Entscheidendes passierte, aber wenn er sich einmal in eine heiße Spur verbissen hatte, war er nicht mehr davon abzubringen.
Nahe dem Tacoma Narrows Airport, einem kleinen, öffentlichen Flughafen direkt an der Küste, bog er auf einen unscheinbaren Feldweg ab und folgte ihm entlang der Klippen, um dann erneut abzubiegen und über einen holprigen Pfad seinen Wohnwagen zu erreichen. Er hatte den heruntergekommen Trailer einem alten Farmer für wenig Geld abgeschwatzt und mühsam hierher verfrachtet. Nicht gerade eine luxuriöse Unterkunft, aber hier war es leicht, den Radar und den Funkverkehr des Towers anzuzapfen, um auf dem Laufenden zu sein, welche Maschinen gerade den kleinen Flugplatz ansteuerten.
Direkt neben dem Wohnwagen begann der mit Stacheldraht bewehrte Zaun, hinter dem die einzige Landebahn des Airports lag. Auf der anderen Seite, keine zehn Meter von seinem provisorischen Campingplatz entfernt, ging es gut neunzig Meter steil zum Meer hinunter. Die ankommenden und startenden Privatflugzeuge überflogen seinen Wohnwagen nur knapp, in etwa zwanzig Metern Höhe. Eine oftmals ohrenbetäubende Kulisse, aber von hier aus hatte er alles im Blick, ohne selbst aufzufallen. Die Mitarbeiter des Flughafens hielten ihn bestimmt lediglich für irgendeinen Penner, der sich spätestens im Herbst, wenn die Stürme übers Land gingen, wieder einen anderen, geschützteren Standplatz suchen würde.
Er stellte seine Harley hinter dem Trailer ab, ging hinein, machte sich eine Tasse Kaffee und nahm sie mit nach draußen. Genüsslich streckte er sich in seinem Liegestuhl aus und betrachtete den Sonnenaufgang über der Bucht, der sich zunächst mit blass-orangen Farben ankündigte, bis die ersten Zipfel der strahlend hellen Sonne am Horizont auftauchten und den Himmel in rot-goldenes Licht tauchten.
Gerade wollte er an seinem Kaffee nippen, als aus heiterem Himmel etwas auf seinen Bauch klatschte. Bron zuckte derart heftig zusammen, dass er sich den heißen Kaffee übers Hemd schüttete.
Scheiße! Was zur Hölle …
Blitzschnell sprang er auf, ließ dabei die Tasse fallen und wirbelte alarmiert herum. Keine fünf Meter von ihm entfernt stand dieser Navy-Typ von vorhin, die Arme vor der Brust verschränkt, und grinste spöttisch.
»Du hast da was vergessen«, sagte dieser nun und deutete auf den Boden vor ihm.
Ungewollt folgte Brons Blick der Geste. Zu seinen Füßen lag die Schnullerkette im Staub, mit der der Kerl ihn eben beworfen hatte.
»Wie kommst du hierher?«, stieß Bron aufgebracht hervor.
Verdammt, er hatte auf dem Rückweg wie immer genau aufgepasst, dass ihm niemand folgte. Seitdem er die State Route verlassen hatte, war meilenweit kein anderes Fahrzeug hinter ihm gewesen, da war er sich hundertprozentig sicher! Nicht einmal sein gutes Gehör hatte ihm verraten, dass sich jemand näherte!
»Sagen wir es mal so: Ich habe meine kleinen Tricks auf Lager«, erwiderte der fremde Bärenwandler selbstbewusst.
Bron schnaubte verärgert, ging geradewegs auf den Mann zu, packte ihn am Kragen seines karierten Hemdes und zog ihn daran ruckartig zu sich. Wütend starrte er ihm aus kürzester Distanz in die Augen.
»Ich frage dich das nur noch ein einziges Mal, bevor ich dich diese Klippe hinunterwerfe«, knurrte er drohend. »Wie hast du mich hier gefunden?«
In aller Seelenruhe hob der Kerl die Hand und pflückte etwas von Brons Lederjacke, das irgendwo im Bereich seines rechten Oberarms geklebt haben musste.
»Ein kleiner Peilsender, nichts Dramatisches«, erklärte der Bär, grinste unverschämt und hielt ihm den ausgestreckten Mittelfinger unter die Nase.
Fassungslos betrachtete Bron das winzige Gerät auf der Fingerkuppe, das kaum größer als eine Reißzwecke und nahezu so flach wie ein Konfetti-Teilchen war.
Verdammte Scheiße! Egal, auf welcher Frequenz das Ding sendete, es könnte ihn Kopf und Kragen kosten! Er würde auffliegen!
Bevor sein Gegenüber reagieren konnte, griff Bron blitzschnell nach dem Mini-Sender, warf ihn auf den Boden und zerstampfte ihn mit dem Absatz seines Stiefels.
»Hey!«, protestierte der Mann augenblicklich. »Das war Navy-Eigentum! Und die Dinger wachsen nicht gerade auf den Bäumen, sondern sind saumäßig teuer!«
»Fick dich!«, schrie Bron außer sich vor Wut. »Und jetzt verschwinde endlich von hier! Lass mich in Ruhe!«
Aufgebracht fuhr er herum und stapfte zurück zu seinem Trailer, um seinen bereitstehenden, wie immer fertig gepackten Rucksack zu holen. Hier war er nicht länger sicher. Vielleicht blieben ihm nur wenige Minuten, um sich aus der Gefahrenzone zu bringen.
Hastig zerrte er den Rucksack aus seinem Versteck, einem Geheimfach unter der Spüle, hervor. Am leichten Schaukeln des Wohnwagens erkannte er, dass der bescheuerte Navy Seal ihm gefolgt war und nun direkt hinter ihm stehen musste, doch er beachtete ihn nicht weiter.
»Ich gehe erst, wenn ich ausgerichtet habe, was Ben dir sagen wollte«, verkündete der Mann eigensinnig.
Bron seufzte unbeherrscht. Anscheinend war der Typ sturer als jeder Esel.
»Falls du es mit deinem verblödeten, beschränkten Soldaten-Hirn noch immer nicht verstanden hast: Ich will nichts davon hören!«, fuhr er ihn dennoch zornig an.
»Mag sein. Ist mir aber egal«, erklärte der fremde Bärenwandler unbeeindruckt. »Dein Bruder hat mir aufgetragen, dir etwas von ihm zu sagen. Er schrieb mir in einem letzten Brief, dass …«
Das nächste Wort des Mannes ging in einem ohrenbetäubenden Knall unter. Sämtliche Plastikfenster des Trailers wurden urplötzlich aus der Verankerung gerissen, flogen ihnen entgegen. Bron konnte sich gerade noch ducken, um nicht von einem getroffen zu werden. Eine Druckwelle fegte über ihn hinweg, gefolgt von einem Schwall glühend heißer Luft.
Bron röchelte, als er ungewollt den heißen Hauch der Detonation einatmete, die in unmittelbarer Nähe des Wohnwagens hochgegangen sein musste.
Instinktiv ließ er sich auf die Knie fallen und rang nach Atem. Er musste sofort hier raus! Das nächste Geschoss könnte besser gezielt sein und den Trailer treffen!
Noél
Seiner militärischen Ausbildung und den Erfahrungen aus zig Einsätzen war es zu verdanken, dass Noél reagierte, bevor sich sein Hirn überhaupt einschalten und die Gefahrensituation erkennen oder gar analysieren konnte.
Instinktiv warf er sich auf den Boden und schützte den Kopf mit beiden Händen. Trümmerteile des Wohnwagens regneten auf ihn und Bron herab, der ebenfalls Deckung suchte und in dem schmalen Gang zwischen Küchenzeile und Esstisch blitzschnell auf die Knie gegangen war.
Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, sah er, wie Bron hastig nach seinem Rucksack angelte, den er fallen gelassen hatte, und in den hinteren Bereich des Trailers krabbelte. Dort öffnete er eine in den Boden eingelassene Luke – und war einen Wimpernschlag später von der Bildfläche verschwunden.
Ein helles, durchdringendes Sirren in der Luft warnte Noél gerade noch rechtzeitig. Da kam ein weiteres Geschoss direkt auf sie zu!
Ohne nachzudenken, schnellte er in die Höhe, stürzte auf die Falltür zu, die Bron eben geöffnet hatte, und sprang kopfüber in das dunkle Loch hinein, das sich dort auftat. Im selben Moment, in dem er seinen Fall mit beiden Unterarmen abzufangen versuchte, erbebte die Erde unter einem heftigen Donnerschlag.
Hart schlug er auf dem Boden auf, Dreck und Sand rieselten auf seinen Kopf und am Rücken verspürte er die sengende Hitze, die mit dem Einschlag des Sprengkörpers mit einem lauten Donnergrollen über ihn hinwegfegte.
Erschrocken japste er nach Luft. Herr im Himmel, was war das? Wer hatte auf sie geschossen?
Um ihn herum war es stockdunkel, doch seine übrigen Sinne übernahmen sofort die Führung. Er hörte, wie Bron nicht weit von ihm entfernt über den Boden kroch und dabei seinen Rucksack hinter sich her schleifte. So schnell er konnte, robbte er ihm flach auf dem Bauch liegend hinterher.
Die unterirdische, stockfinstere Röhre, die Bron anscheinend als Fluchttunnel angelegt hatte, war gerade groß genug, dass er hindurchpasste. Noél biss die Zähne zusammen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der enge Gang trotz der Detonationen nicht einstürzen und die Erdmassen ihn nicht unter sich begraben würden.
Gleich darauf hörte er jedoch, wie Bron vor ihm an irgendetwas herumfummelte und mehrfach gegen einen hölzernen Gegenstand schlug, dessen hohler Klang unnatürlich gedämpft ertönte. Im nächsten Augenblick gab es jedoch ein knarzendes Geräusch und ein diffuses Dämmerlicht erschien vor ihnen.
Der Ausgang des Tunnels?
Vor seiner Nase zog sich Bron behände in die Höhe und verschwand aus seinem Sichtfeld. Sofort robbte Noél ebenfalls zu der Stelle, drehte sich, stemmte sich hoch und kletterte aus dem engen Gang heraus.
Erleichtert holte er Luft und sah sich um. Sie hockten beide in einem dichten Gebüsch, unweit der Stelle, wo eben noch der Wohnwagen gestanden hatte.
Von dem Trailer war nichts als ein unförmiger Haufen Schrott übrig, der in Vollbrand stand. Die Hitze war nahezu unerträglich, obwohl sie mehr als zwanzig Meter davon entfernt waren. Hellrote, zischende, lodernde Flammen verzehrten die Aufbauten, ringsherum lagen Trümmerteile und über dem gesamten Gebiet hing eine dichte, schwarze, stinkende Rauchwolke, die sich auch schnell in ihre Richtung ausbreitete.
Sofort begannen seine Augen zu tränen, er hustete unterdrückt und atmete flach, um den beißenden Qualm nicht einzuatmen.
»Verdammte Scheiße, meine Harley!«, fluchte Bron neben ihm.
Noél brauchte nicht hinzuschauen, um sich zu vergewissern, dass das Motorrad nun ebenfalls nur noch ein Klumpen geschmolzenen Metalls war.
»Mein Auto«, brachte er keuchend hervor. »Wir müssen zum Auto!«
»Wo steht es?«, fragte Bron mit eisiger Stimme.
»Das werde ich dir ganz bestimmt nicht verraten«, zischte Noél aufgebracht. Keine Frage, er traute dem Grizzly zu, dass er ihn irgendwie auszuschalten und allein zu entkommen versuchte, sobald er ihm verriet, wo der Wagen abgestellt war.
Der Mann verdrehte jedoch lediglich die Augen und stöhnte genervt.
»Wir müssen uns wandeln«, schlug Bron dann hastig vor. »Sie werden kaum zwei Bären verfolgen, die vor dem Feuer davonlaufen.«
Kurz zögerte Noél, doch dann tat er es ihm gleich, zerrte seine Stiefel von den Füßen und öffnete seinen Gürtel, bevor er sich in seine Bärengestalt wandelte.
Der Rest seiner Kleidung flog in Fetzen davon, die im Gebüsch hängen blieben, als er die größere Gestalt annahm, aber er schenkte dem Umstand keine Beachtung. Die Klamotten mitzunehmen war unnötig und kostete lediglich Zeit.
Bens Brief, den er in der Jackentasche aufbewahrte, lag sicher verwahrt mit dieser zusammen im Wagen, wo er sie zurückgelassen hatte. Rasch fischte er aus den Resten seiner Kleidung die Brieftasche, das Handy und die Autoschlüssel heraus, und stopfte sie in einen seiner Stiefel, um sie im Maul tragend mitzunehmen.
Seine empfindliche Bärennase litt ungleich heftiger als seine menschliche unter dem stinkenden Rauch, also beeilte er sich und schlüpfte aus dem Gebüsch, um sich dann, so schnell wie möglich, von den lodernden Überbleibseln des Wohnwagens zu entfernen. Wohlüberlegt rannte Noél zunächst westwärts, an den Klippen entlang, wo einige Büsche eine karge Deckung boten. Hinter seinem Rücken hörte er Bron keuchen. Der Grizzly war erwartungsgemäß nicht so schnell wie er, doch er hielt tapfer Anschluss. Auch Ben hatte nie mit seinem Tempo mithalten können, als Kodiakbär war Noél nun mal leichter und wesentlich beweglicher.
Sie hatten etwa fünfhundert Meter zwischen sich und die rauchenden Trümmer gebracht, als Noél anhielt, die Nase in die Luft hob und witterte. Nein, kein anderer Mensch war in ihrer Nähe. Von wo aus waren sie also beschossen worden? Wer waren die Angreifer?
Die Antwort auf diese Fragen wurde ihm umgehend geliefert. Zunächst war lediglich ein Dröhnen zu hören, das rasch zu einem lauten Getöse anschwoll, dann tauchte unterhalb des Klippenrands ein Hubschrauber auf. Ein Apache AH-64E mit voller Bewaffnung, das derzeit von der Air Force eingesetzte Modell. Schnell merkte sich Noél die am Heck angebrachte Kennung. NXO 354B.
Der Pilot zog die Maschine langsam über der Steilkante in die Höhe, dann kippte er den Hubschrauber nach links, entgegengesetzt ihrer Richtung, und flog einen Bogen. Offenbar suchte er das Areal ab, um sich zu vergewissern, dass das Ziel zerstört worden war.
Warum zum Geier wurden sie von ihrem eigenen Militär angegriffen?
Der Grizzly an seiner Seite, der seinen Rucksack im Maul trug, schenkte dem Hubschrauber kaum Beachtung und brummte ungeduldig.
Zögernd setzte sich Noél wieder in Bewegung und trabte zu der Stelle, wo er vorhin seinen Wagen zurückgelassen hatte. Dabei überschlugen sich seine Gedanken.
Was hatte Bron verbrochen, dass die U.S. Army versuchte ihn auszuschalten? War dies der Grund für seine übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen, aufgrund derer er überhaupt einem Treffen mit ihm zugestimmt hatte? Und sollte er sich gegenüber der Hubschraubermannschaft nicht eher als Navy-Angehöriger identifizieren, anstatt mit Bron zusammen das Weite zu suchen?
Sein Bauchgefühl verriet ihm jedoch, dass es besser wäre, sie beide aus der Schusslinie zu bekommen, bevor er diese Fragen klären konnte. Sicher war sicher.
Noél brummte aufgewühlt. Auf seinen Instinkt hatte er sich schon immer verlassen können – aber dem großen Grizzly, der hinter ihm hertrabte, traute er nicht weiter, als er ihn würde werfen können.
Nämlich gar nicht.
BRON
Unbehelligt erreichten sie den blauen Ford, der neben einem Feldweg zwischen den Bäumen parkte.
Bron atmete erleichtert auf. Das war irre knapp gewesen. Langsam wurde er mit seinen fünfunddreißig Jahren echt zu alt für diesen Scheiß. Er machte sich nichts vor, seine Tarnung war dank dieses idiotischen Kodiakbären aufgeflogen, er konnte es also vergessen, seine Mission zu Ende zu führen. Erst musste etwas Gras über die Sache wachsen, bevor er es erneut würde versuchen können.
Der Navy Seal verwandelte sich nun zurück in seine menschliche Gestalt, trat an den Kofferraum seines Fahrzeuges heran, wühlte darin herum und begann sich in aller Seelenruhe anzuziehen.
Neugierig trabte Bron an seine Seite und verwandelte sich ebenfalls zurück.
»Hast du auch ein paar Klamotten für mich?«, fragte er, erhielt aber lediglich ein abweisendes Brummen zur Antwort.
Der andere Bärenwandler knöpfte seine Jeans zu, schlüpfte in ein paar Turnschuhe und lehnte sich lässig gegen den Kofferraum, die Arme vor der blanken Brust verschränkt. Bron hielt seiner Musterung, ohne mit der Wimper zu zucken, stand, breitete die Arme aus und sah demonstrativ an seinem nackten Körper herab.
»Ich meine, du kannst mich auch so mitnehmen und in der nächsten Ortschaft absetzen, aber ich glaube, das erregt ziemlich viel Aufmerksamkeit.«
»Was ist mit deinem Rucksack?«, fragte der Mann und deutete mit einer knappen Kopfbewegung darauf.
»Da ist nichts zum Anziehen drin«, gab Bron wahrheitsgemäß zu.
»Was ist denn stattdessen darin?«, hakte der Kerl unverschämt hartnäckig nach.
»Nichts, was dich etwas angeht«, schnappte Bron auf der Stelle zurück.
Der Navy Seals schnaufte verärgert, stieß sich jedoch vom Wagen ab und suchte aus dem Kofferraum eine kurze Hose und ein rot kariertes Holzfällerhemd hervor, die er ihm zuwarf.
Geschickt fing Bron die beiden Kleidungsstücke auf.
»Trägst du immer die gleichen Hemden?«, frotzelte er gehässig.
Schließlich hatte der Kerl vorhin ein Hemd getragen, das mit diesem hier absolut identisch war. Er erhielt jedoch lediglich ein angefressen klingendes Knurren zur Antwort. Genau so eines, wie Ben es früher oft von sich gegeben hatte, wenn ihm keine passende Erwiderung eingefallen war.
Bron schüttelte amüsiert den Kopf, stieg in die Hose und zog das Hemd über. Oh Mann, im Gegensatz zu seiner eigenen Kleidung, die er seit Wochen nicht mehr hatte waschen können, duftete das weiche Holzfällerhemd angenehm nach einem natürlichen, organischen Waschmittel, das ohne Parfum auskam.
»Hast du auch ein paar Schuhe für mich?«, fragte er den Kodiak, der sich gerade ein olivgrünes T-Shirt überstreifte.
»Nein«, antwortete dieser einsilbig, hielt dann jedoch inne und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. »Obwohl, warte – ich habe doch noch welche eingepackt.«
Er holte aus dem Kofferraum ein paar dunkelblaue Badelatschen hervor und warf sie Bron genau vor die Füße.
»Die hier kannst du haben«, sagte er dann süffisant lächelnd.
Kurz zögerte Bron, aber er hatte nicht vor, sich vor dem Kerl eine Blöße zu geben. Also zuckte er gespielt nachlässig die Schultern, klopfte Staub und Dreck von seinen Fußsohlen und schlüpfte in die Badeschuhe. »Prima, die passen«, bemerkte er übertrieben freundlich. »Danke schön. Die bekommst du selbstverständlich zurück.«
»Vergiss es. Ist ein Geschenk«, erwiderte der Seal sarkastisch.
»Ich hab aber erst im nächsten März Geburtstag«, konterte Bron spontan.
Der Kodiakbär schnaubte. »Stell dir vor, das weiß ich«, knurrte er ungehalten. »Zufällig war dein Zwillingsbruder mein bester Freund.«
Härter als nötig warf er nun den Kofferraumdeckel zu, ging zur Fahrerseite des Wagens und stieg ein. Bron verkniff sich die nächste Bemerkung, die ihm auf der Zunge brannte, ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder und verstaute den Rucksack zwischen seinen Beinen.
So unauffällig wie möglich musterte er den Bären aus den Augenwinkeln, der den Motor anließ und den Wagen wendete, um zur State Route zurückzufahren.
»Wie heißt du eigentlich?«, entwischte es ihm, bevor er die Frage zurückhalten konnte. Eigentlich interessierte es ihn nicht.
»Solltest du eigentlich wissen. Schließlich hast du mich überprüfen lassen«, entgegnete der Navy Seal umgehend.
»Mein Kontakt hat mir lediglich eine verschlüsselte Nachricht zukommen lassen, dass es um eine Familiensache geht und das Treffen sicher wäre«, gab er ohne zu zögern zu.
Himmel, er hatte befürchtet, Natty oder den Kindern wäre irgendetwas passiert, ansonsten hätte er dem Treffen niemals zugestimmt. An seinen Bruder hatte er gar nicht mehr gedacht. Der Kodiakbär schnaufte ungläubig und warf ihm einen undefinierbaren Blick zu, bevor er antwortete.
»Lieutenant Noél Dubois, Navy Seals, Wild Forces«, schnarrte er herunter.
»Noél Dubois«, wiederholte Bron leise, bevor er sich räusperte und den Seal von der Seite her herausfordernd ansah. »Also, Lieutenant, du kannst mich wie gesagt in der nächsten Stadt irgendwo an einer Ecke rauslassen. Und danach vergisst du am besten wieder, dass wir uns je getroffen haben.«
Anstatt geradeaus zu fahren und das nahe gelegene Tacoma anzusteuern, bog der Seal jedoch auf den Highway ab und erhöhte die Geschwindigkeit.
»Hey! Du solltest mich doch dort absetzen!«, protestierte Bron sofort, aber der Mann neben ihm verzog keine Miene und starrte stur geradeaus.
Bron seufzte ungeduldig.
»Ist das jetzt eine Entführung oder was?«, brummte er ungehalten.
»Du kannst anschließend gerne zur nächsten Polizeistation gehen und mich anzeigen«, bot ihm der Lieutenant süffisant lächelnd an. »Irgendetwas sagt mir jedoch, dass du das nicht tun wirst, sondern dass ich dich eher den Behörden ausliefern sollte. Also, jetzt habe ich dich hier und wir können uns eine Weile prima unterhalten.« Er warf einen kurzen Blick auf das Armaturenbrett. »Der Sprit reicht noch für fünfhundert Meilen. Du hast also jede Menge Zeit, mir zu erklären, was da eben abgelaufen ist, bevor ich dich der Polizei übergebe. Alternativ kannst du auch aus dem fahrenden Wagen springen. Ist mir egal.«
Ein ungläubiges Schnauben entwischte Bron. Dieser Hurensohn hatte ihn einfach übertölpelt! Wäre er doch bloß nicht in das Auto gestiegen!
»Elendes Sackgesicht«, knurrte er angefressen, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute betont desinteressiert aus dem Seitenfenster auf die vorbeiziehende Landschaft.
Die Drohung mit der Auslieferung an die Polizei kümmerte ihn wenig, aber er hatte nicht vor, dem Navy Seal auf die Nase zu binden, an was er gerade arbeitete und weshalb die Air Force versucht hatte, ihn in die Luft zu pusten.
Da er nicht antwortete, griff Dubois zum Regler des Autoradios und schaltete es an. Aus den Lautsprechern ertönten ein Knacken und ein Rauschen, doch der Kodiakbär drückte auf einen Knopf und stellte den nächsten Sender ein, auf dem gerade die Nachrichten liefen.
»Eine Explosion in unmittelbarer Nähe des Tacoma Narrow Airfields hat am heutigen Morgen den dortigen Flugverkehr lahmgelegt«, verkündete der Sprecher gerade. »Die Polizei ermittelt noch, doch nach ersten Erkenntnissen geht man davon aus, dass ein Gasleck in einem nahe der Landebahn abgestellten Wohnwagen zu einer Verpuffung und anschließendem Brand geführt hat. Die Einsatzkräfte haben das Feuer mittlerweile unter Kontrolle und man ist sicher, dass der Flugverkehr in Kürze wieder aufgenommen werden kann, sobald die Rauchwolken abgezogen sind. In der Zwischenzeit werden ankommende Maschinen zum nächsten Flughafen in Seattle weitergeleitet.«
Bron schielte aus den Augenwinkeln zu Dubois hinüber, der die Stirn runzelte und die Lippen aufeinanderpresste.
»Ein Gasleck?«, wiederholte dieser nun ungläubig.
Nachlässig zuckte Bron die Schultern. Ihn überraschte es wenig, dass in der offiziellen Version des Zwischenfalls kein Wort von dem Kampfhubschrauber der Air Force auftauchte.
Erneut warf Dubois ihm einen scharfen Blick zu.
»In was bist du verwickelt?«, fragte er mit harter Stimme.
Bron zögerte. Die nächste Lüge lag ihm bereits auf der Zunge, ebenso wie ein lässiger Spruch, mit dem er Dubois ausweichen könnte. Gleichzeitig bildete sich jedoch ein mulmiges Gefühl im Magen, das ihn dazu drängte, bei der Wahrheit zu bleiben.
Verwirrt schüttelte er lediglich den Kopf.
Nein, es kam nicht infrage, ausgerechnet einem Angehörigen der Navy zu vertrauen. Das hatte ihn seine Erfahrung in ähnlich gelagerten Fällen gelehrt.
Solange seine Ermittlungen nicht abgeschlossen und die Beweisführung in trockenen Tüchern war, war es nicht ratsam, fremde Leute ins Vertrauen zu ziehen.
»Okay.« Der Lieutenant neben ihm schnaufte genervt, dann zog er sein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans hervor, tippte bei laufender Fahrt darauf herum und hielt es sich ans Ohr. »Hey, Mitch, hast du kurz Zeit?«, fragte er, gleich nachdem sich jemand dort meldete. »Überprüf bitte für mich die Flugdaten eines Hubschraubers der Air Force am heutigen Morgen um null-fünf-zwanzig. Die Kennung ist …«, setzte er gerade an, doch Bron richtetet sich abrupt in seinem Sitz auf und unterbrach ihn auf der Stelle.
»Bitte, nicht«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Verdammt, der Kerl hatte ihn an den Eiern! Wenn die Navy plötzlich Ermittlungen anstellte, würde erst recht alles auffliegen! Beweise würden vernichtet, Logbücher umgeschrieben und die nächste Lieferung an einen anderen Flughafen umgeleitet werden!
Die ganze Arbeit der letzten achtzehn Monate würde dadurch mit einem Schlag umsonst gewesen sein und er könnte von vorn anfangen!
Bei fahrendem Auto konnte er zudem schlecht dem Lieutenant das Handy aus der Hand schlagen, ohne einen Unfall zu riskieren, also blieb ihm nichts anderes übrig, als einzulenken.
Dubois stockte und sah ihn von der Seite her prüfend an. Dann wandte er seinen Blick wieder nach vorn.
»Okay, Mitch, ist nicht so wichtig. Vergiss einfach, dass ich angerufen habe«, sagte er dann und verabschiedete sich von seinem Gesprächsteilnehmer, behielt aber das Handy in der Hand.
»Also?«, fragte Dubois nun unnachgiebig. »Was hat das Ganze zu bedeuten?«
Bron atmete nochmals tief durch.
»Bevor ich dir das jetzt erkläre, musst du mir schwören, dass du niemandem etwas davon erzählst. Schon gar nicht deinen Kumpels bei der Navy«, begann er vorsichtig.
Dubois nickte. »Ich kann schweigen. Vorausgesetzt, du erzählst mir endlich die Wahrheit.«
Seltsamerweise spürte Bron bei diesen Worten, dass er sich auf den Lieutenant verlassen konnte. Warum auch immer.
Normalerweise vertraute er außer seinen direkten Vorgesetzten und ein paar wichtigen Kontaktmännern niemandem auf der Welt.
Mit einem Seufzen öffnete er die Verschnürung seines Rucksacks, wühlte darin herum und zog ein dünnes Ledermäppchen hervor, das er aufklappte und es Dubois reichte.
»Ich bin Special Agent beim NCIS. Abteilung interne Ermittlung. Du hast gerade meinen Undercover-Einsatz in die Luft fliegen lassen, an dem ich seit mehr als anderthalb Jahren arbeite«, erklärte er mit fester Stimme. —