Kapitel 4
Noél
Aufatmend streckte sich Noél auf dem schmalen Bett in dem Motel aus, in dem er für sie beide ein Zimmer gemietet hatte, lehnte sich gegen das Kopfteil und griff nach der Papiertüte. Nebenan im Bad rauschte das Wasser der Dusche bereits seit mindestens einer Viertelstunde. Jedenfalls, seit er Bron hier abgesetzt hatte und nochmals losgezogen war, um ihnen etwas Essbares zu besorgen. Irgendwie hatte er das unbestimmte Gefühl, dass Bron absichtlich das ganze warme Wasser verbrauchte, damit er selbst anschließend nur noch kalt duschen konnte.
Nun ja, auch egal. Eine kalte Dusche hatte ihm noch nie etwas ausgemacht. Er öffnete eine der mitgebrachten Papiertüten, holte einen Burger heraus und biss herzhaft hinein. Oh Mann, er war kurz vorm Verhungern. Da würden selbst die zwanzig Cheeseburger, die er auf die Schnelle bei der nahe gelegenen Fast-Food-Bude für jeden von ihnen organisiert hatte, kaum ausreichen, um ihn halbwegs satt zu bekommen.
Zwei Minuten später wurde das Wasser endlich abgestellt und Bron kam aus dem Bad, lediglich mit einem Handtuch bekleidet, das er sich um die Hüften gewickelt hatte. Einige Wassertropfen perlten aus seinem ungekämmten, langen Haar, fielen auf seine Schultern und rannen daran hinab. Der Grizzly schnupperte und stockte mitten im Schritt.
»Oh, du hast etwas zu essen besorgt?«, fragte er ungewohnt zurückhaltend.
Noél nickte mit vollem Mund und deutete lediglich auf die braune Papiertüte, die er auf dem benachbarten Bett abgelegt hatte.
Hungrig wickelte er seinen zweiten Burger aus dem Papier, während sich Bron bäuchlings aufs Bett warf und ebenfalls einen aus der für ihn mitgebrachten Tüte fischte.
»Danke«, sagte er leise und verputzte einen Cheeseburger mit zwei riesengroßen Bissen, bevor er sich gleich darauf den nächsten aus der Tüte angelte, obwohl er noch auf beiden Backen kaute.
Auch Bron schien längere Zeit nichts gegessen zu haben, das ließ jedenfalls die Geschwindigkeit vermuten, in der er das Fast Food in sich hineinschlang.
Unauffällig ließ Noél seinen Blick über dessen spärlich bekleidete Gestalt wandern. Die bunten Tattoos bedeckten nicht nur Hals und beide Arme, sondern auch die Handrücken, seine Brust und sogar eine seiner Waden. Seltsam.
Gerade sie als Gestaltwandler hielten eigentlich nicht viel von solchem Körperschmuck, der schließlich total unnatürlich war. Er kannte jedenfalls nur wenige Wandler, die sich ein Tattoo hatten stechen lassen, aber keinen mit so vielen, die über den ganzen Körper verteilt waren.
Aus der Nähe konnte er nun Totenköpfe, Ranken, Rosen und sonderbare Ornamente erkennen. Direkt über dem Brustbein prangte ein Dreieck mit einem Auge darin, seitlich am Hals hatte er sich einen knurrenden, geifernden Drachenkopf tätowieren lassen. Wie ein Special Agent des NCIS sah er damit nicht aus, aber seine Dienstmarke war echt. Kein Zweifel, Bens Bruder war nicht der, für den er ihn gehalten hatte, aber zumindest war er kein Krimineller.
Brons Körper war zudem für einen Bärenwandler derart mager, dass er ihm nahezu ausgezehrt vorkam. So, als würde er oft nicht ausreichend zu essen bekommen. Kein Gramm Fett schien sich an ihm festgesetzt zu haben, dafür wirkte seine Muskulatur, als wäre sie weniger auf Kraft, sondern eher auf Ausdauer spezialisiert.
Wenn Trudi, die Sekretärin des Admirals und inoffizielle Ersatzmutter ihrer Truppe, Bens Bruder zu Gesicht bekäme, würde sie ihn sicherlich erst einmal mit allerhand Leckereien aufzupäppeln versuchen, bis er wieder wie ein normaler Grizzly aussah.
Nachdem er auch den letzten Burger aus seiner Tüte aufgegessen hatte, spülte Noél mit einer halben Flasche Wasser nach und ließ sich gesättigt in die Kissen sinken. Er seufzte entspannt. Himmel, das hatte gutgetan. Jetzt war er pappsatt und müde, doch ein paar Dinge interessierten ihn noch, bevor er Bron wieder seines Weges ziehen lassen würde.
»Erzähl mir von deinem Einsatz«, bat er ihn daher. »Du ermittelst also gegen einige Air Force-Angehörige? Oder wie hängen die da mit drin?«
Bron rülpste dumpf, doch dann streckte er sich ebenfalls gemütlich aus und stopfte sich das Kissen unter den Kopf, bevor er sich ihm zuwandte.
»Okay, jetzt ist es sowieso egal«, brummte er. »Ich untersuche einen Fall illegalen Waffenhandels. Anscheinend werden seit einigen Jahren Maschinengewehre, Granaten, Munition und sonstiges Material, das eigentlich ausgemustert und verschrottet werden soll, systematisch entwendet und in andere Länder verkauft. Aus den Bestandslisten der Marines, der Navy und der Air Force verschwinden immer wieder welche.« Er schnaufte frustriert. »Wir beliefern unsere Feinde im Nahen Osten mit den eigenen Waffen. Sehr schlau, nicht wahr?«
Noél atmete tief durch und brummte zustimmend. Nein, das war nicht besonders klug, sondern eher ein Desaster.
»Wurde der Tacoma-Flughafen dafür genutzt?«, vermutete er, weil Bron sich dort aufgehalten hatte. Dieser nickte sofort.
»Von hier aus geht ein Teil der Waffenlieferungen zunächst nach Kanada, um dann per Schiff weitertransportiert zu werden. Die Army ist mittlerweile ein Sumpf, selbst einige hochrangige Militärs sind offenbar in die Sache verwickelt. Daher war ich extrem vorsichtig, was meine Tarnung anging.« Bron seufzte unterdrückt. »Einer meiner Kontaktmänner hat herausgefunden, dass diese Woche eine größere Lieferung erwartet wird, die größte, die jemals unser Land verlassen soll. Diese eine wollte ich noch abwarten, bevor ich den Laden hochgehen lasse.«
»Es tut mir ehrlich leid«, gab Noél zerknirscht zu. »Hätte ich das gewusst, hätte ich dich natürlich nicht verfolgt und damit deine Stellung verraten.«
Er hielt inne und dachte angestrengt nach. »Wenn der Peilsender, den ich dir verpasst habe, diese Gangster auf dich aufmerksam gemacht hat … dann würde normalerweise naheliegen, dass ich irgendwie in die Sache verwickelt bin, oder nicht? Warum vertraust du mir also das alles an?«
»Quatsch keinen Scheiß.« Bron lächelte und schloss müde die Augen. »Wenn das so wäre, hättest du mich bei unserem ersten Treffen aus dem Weg geräumt, und weder mit einer Schnullerkette beworfen noch abgewartet, bis die Air Force eine Rakete auf uns ballert.«
Noél brummte leise. Okay, das war korrekt und absolut nachvollziehbar. Er unterdrückte ein Gähnen, schloss die Augen und entspannte sich.
Jetzt hatte er zwar noch immer nicht Bens Nachricht an seinen Bruder loswerden können, aber wenigstens schien dieser ihn nicht weiter für eine Bedrohung zu halten. Über diesen letzten Gedanken gab er seiner Müdigkeit nach und döste ein.
BRON
Der Nachmittag ging gerade in den Abend über, als Bron aufwachte. Genüsslich streckte er sich, gähnte herzhaft und wischte sich den Schlaf aus den Augen.
Oh Mann, hatte das gutgetan! Wann hatte er zuletzt so tief geschlafen und das auch noch in einem weichen, frisch bezogenen Bett? Das musste eine kleine Ewigkeit her sein.
Noél schlummerte noch tief und fest, wie ihm dessen tiefe, ruhige Atemzüge verrieten. Der Kodiakbär hatte sich in voller Montur auf sein Bett gelegt und nicht einmal die Turnschuhe ausgezogen, als würde er damit rechnen, erneut angegriffen zu werden und binnen Sekunden wieder bereit sein zu müssen. Nein, das war sicherlich nicht notwendig. Seiner Einschätzung nach waren sie hier, in diesem kleinen Motel abseits des Highways, fürs Erste in Sicherheit.
Bron betrachtete den schlafenden Kodiakbären neugierig. Das war also Bens bester Freund gewesen. Eigentlich passte Noéls umgängliche, abgeklärte und besonnene Art nicht zu dem aufbrausenden und jähzornigen Bären, der sich sein Bruder geschimpft hatte.
Vielleicht aber waren sie genau wegen ihrer Gegensätze gute Freunde geworden.
So leise wie möglich stand Bron auf und stieg in die kurze Hose, die Noél ihm geliehen hatte. Mit allen zehn Fingern kämmte er sich durchs Haar und strich es nach hinten. Verdammt, er musste sich dringend mal wieder auf Vordermann bringen, die Haare und auch der Bart waren selbst für seine Verhältnisse viel zu lang.
Er seufzte und sah sich im Zimmer um. Vielleicht hatte Noél einen Langhaarschneider im Gepäck, mit dem er seinen gepflegten Vollbart trimmte. Bestimmt hätte er auch nichts dagegen, wenn er sich den mal kurz ausleihen würde. Seinen Rucksack hatte Noél im Kofferraum des Wagens zurückgelassen, also brauchte er zunächst die Schlüssel.
Auf leisen Sohlen schlich er zu der Jacke, die Noél über die Lehne eines Stuhls gehängt hatte, und durchsuchte deren Taschen.
Ah, da war er ja. Bron wollte den Schlüssel bereits herausziehen, als er in derselben Jackentasche etwas anderes bemerkte und stutzte. Ein Briefumschlag war dort verstaut worden, fein säuberlich in der Mitte zusammengefaltet. Neugierig nahm er ihn heraus und erstarrte, als er die Handschrift erkannte, in der Noéls Name darauf vermerkt worden war.
Der Brief stammte eindeutig von Ben.
Kurz zögerte er, doch dann öffnete er das Kuvert und holte einige handbeschriebene Seiten hervor. Eigentlich hatte er nur einen kurzen Blick darauf werfen wollen, aber bereits nach den ersten Zeilen war er derart gefesselt, dass er nicht aufhören konnte zu lesen. Im Geiste sah er Ben vor sich, wie er diesen Brief verfasste, doch das Geschriebene passte überhaupt nicht zu dem Bild, das er sich von seinem Bruder bewahrt hatte.
Erst seitdem ich Dich kenne, bin ich zu dem Mann geworden, der ich immer sein wollte. Durch Dich und vor allem wegen Dir. Du bist jemand, der immer an das Gute in den Menschen oder Wandlern glaubt und dabei Dinge in jemandem sieht, die anderen komplett entgehen.
Hatte die Navy einen komplett anderen Mann aus Ben gemacht? Oder war es tatsächlich Noéls Einfluss gewesen? So einfühlsam und emotional, wie das Geschriebene auf ihn wirkte, war Ben nie gewesen.
Oha. Sein Bruder schrieb anschließend sogar etwas über Gefühle, die Noél für ihn gehabt haben musste.
Der Kodiakbär war schwul? Interessant. Das hätte er jetzt nicht vermutet.
Überrascht hielt er den Atem an, als er zu einer Stelle kam, wo Ben seinen Freund bat, ihm eine Nachricht zu überbringen. Vollkommen perplex ließ er sich auf sein Bett fallen und las die Zeilen erneut.
Ben hatte sich Vorwürfe gemacht? Und nach ihm gesucht? Ihn sogar vermisst?
Was damals in der Nacht zum 7. April vorgefallen und weshalb er von zu Hause fortgelaufen ist – es war nicht seine Schuld …
Bron schnaubte ungläubig und schloss für einen Moment die Augen. Ein Brennen breitete sich in seinem Magen aus, das sein Herz umschloss und es qualvoll zusammendrückte. Er schluckte heftig, um den Kloß wieder loszuwerden, der sich in seinem Hals gebildet hatte und ihm die Luft abschnürte.
Genau das hatte er immer wieder beteuert, aber Ben hatte ihm überhaupt nicht zuhören wollen.
Die Geschehnisse dieser Nacht, in der er sein Elternhaus verlassen und seiner Familie den Rücken gekehrt hatte, standen ihm plötzlich wieder vor Augen, obwohl er die Erinnerungen daran seit mehr als fünfzehn Jahren erfolgreich verdrängt hatte. Der Schmerz, den er damals gefühlt hatte, bohrte sich abermals in ihn, das Gefühl der Hilflosigkeit lähmte ihn und drohte ihn erneut niederzudrücken.
Ich hab nichts getan! , hatte er geschrien und versucht sich gegen seinen viel stärkeren Zwillingsbruder zu wehren, der ihn vollkommen außer sich in eine Ecke gedrängt und ihn windelweich geschlagen hatte.
Bens Brief entglitt seinen kraftlosen Fingern. Er atmete geräuschvoll aus und vergrub das Gesicht in den Händen.
Immer wieder und wieder hatte er versucht seinem Bruder zu erklären, was genau geschehen war, doch es hatte Ben gar nicht interessiert, was er zu sagen hatte. Nein, er hatte ihm einfach nicht geglaubt, nicht einmal zugehört, was er zu seiner Verteidigung hatte vorbringen wollen.
Das Gefühl, vom eigenen Zwillingsbruder beschuldigt zu werden, den Tod des Vaters verursacht zu haben, hatte sich in seine Seele gefressen und dort ein tiefes, schwarzes Loch hinterlassen.
»Was ist damals passiert?«, fragte jemand plötzlich in seiner unmittelbaren Nähe.
Überrascht sah Bron auf. Noél war wach, er hatte sich unbemerkt aufgerichtet und saß ihm gegenüber auf der Kante des anderen Bettes.
Bron schnaubte abwehrend, doch dann zögerte er. Noél sah ihn aufmerksam an, sein gutmütiges Gesicht drückte nichts anderes als aufrichtige Anteilnahme und ehrliches Interesse aus. Es schien ihn nicht einmal zu stören, dass er sich ungefragt Bens Brief gegriffen hatte, der schließlich nicht an ihn, sondern an Noél adressiert war.
»Ist keine schöne Geschichte«, gab er bedrückt zu.
»Ich will sie trotzdem hören«, versicherte Noél ihm leise. »Vor allem deine Version.«
Nochmals atmete Bron durch, doch dann gab er sich einen Ruck.
»In der Kurzfassung? Ben hat mich beschuldigt, unseren Vater auf dem Gewissen zu haben.«
So, nun war es raus. Erwartungsgemäß fühlte er sich dadurch keinen Deut besser.
»Und? Hast du?«, hakte Noél nüchtern nach.
Sofort schüttelte Bron den Kopf, ließ diesen dann sinken und rieb sich gedankenverloren über den Nacken.
»Nein. Jedenfalls nicht direkt. Ich war zwar der Auslöser, aber es war ein Unfall. Ich hab unseren Dad geliebt. Nur konnte er, genau wie Ben, ab und zu ziemlich jähzornig sein. Vor allem, wenn er etwas getrunken hatte.« Bron stockte und kniff kurz die Augen zusammen, die unerwartet feucht wurden. »Ich hatte damals ein Praktikum auf dem Bau gemacht, um anschließend besser bei der Errichtung von Bear Creek Village helfen zu können. An dem Abend wollte mein Vater mich von der Baustelle des Einkaufscenters abholen, an der ich gerade eingesetzt war. Er erwischte mich dort … hm … nun ja, in einer etwas kompromittierenden Situation.«
»Mit einem Mädchen?«, vermutete Noél.
»Nein.« Bron seufzte traurig. »Mit einem anderen Mann.«
Merkwürdig, es fiel ihm leicht, sich Noél anzuvertrauen, vor allem, weil er wusste, dass dieser ihn für seine Homosexualität nicht verurteilen würde. Der Kodiakbär erwiderte auch nichts auf sein Bekenntnis, sondern wartete regungslos ab, bis er dazu bereit war, den Rest zu erzählen.
»Mein Vater ist natürlich ausgeflippt. Er hat mich nicht nur runtergeputzt, sondern ging sofort auf mich los und hat mich geschlagen. In diesem Moment wollte ich allerdings nicht wie sonst immer klein beigeben, sondern hab mich zum allerersten Mal in meinem Leben gewehrt. Ihn von mir gestoßen und …« Er stockte erneut und holte tief Luft. »An dem Abend goss es wie aus Eimern, es war dunkel und das Gelände der Baustelle war matschig. Außerdem hatte Dad getrunken, er war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Als er erneut auf mich zukommen wollte, rutschte er aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Baugrube. Mitten auf das Stahlgerüst des Fundaments, auf dem er sich das Genick brach. Er war sofort tot.« Bron hob beide Hände und betrachtete sie. Mit diesen Händen hatte er seinen Vater heftig von sich geschubst, was er sich niemals würde verzeihen können. »Ich hatte nicht mitbekommen, dass Ben ebenfalls in dem Wagen saß, mit dem mein Vater gekommen war. Es regnete, die Frontscheibe war nass und beschlagen, daher hatte Ben lediglich gesehen, wie ich Dad weggestoßen habe und dieser gleich darauf in die Grube neben uns stürzte.«
Er hielt inne, den Blick weiterhin auf seine Hände gerichtet.
Die lange, dünne Linie auf seinem rechten Handrücken würde ihn bis in alle Ewigkeit an diese Nacht erinnern. Die Haut war dort aufgeplatzt, weil er sich gegen die Schläge seines Vaters hatte schützen wollen. Es war nicht die einzige Narbe, die er in seinem Leben davongetragen hatte, aber wie auch die anderen hatte er sie von einem Tattoo bedecken und darunter verstecken lassen, sodass sie niemandem auffiel. Nur die auf seiner Seele ließ sich nicht auf diese Weise verbergen, doch die sah man schließlich nicht.
Urplötzlich griff Noél nach seinen Händen und umschloss sie mit seinen. Auf der Stelle zuckte Bron zusammen, doch er war zu perplex, um der Berührung auszuweichen.
Noéls Hände waren rau, warm und trocken, er konnte sogar die Schwielen auf dessen Handflächen fühlen.
»Ben hatte schon lange eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hatte«, sagte Noél eindringlich. »Nur konnte er es dir nicht mehr selbst sagen, aber ich bin froh, dass er mich an seiner Stelle geschickt hat. Bron, du hast keine Schuld an dem, was passiert ist. Es war ein Unfall. Und du solltest aufhören, dich dafür verantwortlich zu fühlen, bloß weil du in Notwehr gehandelt hast.«
Bron atmetet tief durch und entzog sich Noél nun doch. Es war lange her, dass ihm jemand sowohl körperlich als auch emotional so nahe gekommen war, und in seinem Inneren stritten gleich zwei heftige instinktive Reaktionen miteinander. Die eine wollte ihn dazu veranlassen, sofort aufzustehen und das Weite zu suchen, doch sie wurde überlagert von dem plötzlichen Wunsch, diese ungewohnte Nähe zu vertiefen. Letzteres erschreckte ihn mehr, als er es sich eingestehen wollte.
Hastig stand er auf, zog das geliehene Hemd über und griff nach seinem Rucksack.
»Gut, dann kann ich ja jetzt gehen. Du hast deinen Auftrag erfüllt und es mir ausgerichtet. Also – war schön, dich kennengelernt zu haben«, verabschiedete er sich, doch Noél stand sofort auf und verstellte ihm den Weg.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte der Kodiakbär und sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, den Bron nicht deuten konnte.
»Na, was schon«, brummte er genervt. »Ich verschwinde wieder von der Bildfläche und sehe zu, dass ich noch irgendetwas von dem Einsatz retten kann. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, dass man versucht hat, mich offen anzugreifen und auszuschalten. Einen Hubschrauber der Air Force dafür zu benutzen war eindeutig ein Fehler. Mit etwas Glück kann ich die Befehlskette nachvollziehen und ein paar weitere Hintermänner enttarnen.«
»Ich komme mit dir«, verkündete Noél sofort.
Seine Stimme klang derart fest entschlossen, dass Bron für einen kurzen Augenblick zögerte. Eigentlich war es verlockend, mit Noél jemanden an der Seite zu haben, der ihn unterstützen konnte.
Seine schnelle Reaktion bei dem Angriff auf den Wohnwagen hatte zudem gezeigt, wie kampferfahren und unerschrocken der Kodiakbär war.
»Ausgeschlossen«, wehrte er dennoch nach kurzer Überlegung ab. »Ich hab schon immer allein gearbeitet.«
»Vielleicht war das bislang dein Problem. Mit dir rechnen sie und halten überall die Augen offen, um dich auszuschalten, was deinen Aktionsradius einschränkt. Mich hat dagegen keiner auf dem Schirm.«
Noél grinste breit und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Komm schon«, lockte er verführerisch sanft. »Unsere Zusammenarbeit könnte dich wesentlich schneller voranbringen.«
Bron schnaubte ungläubig. Der Navy Seal wusste nicht, wovon er sprach oder worauf er sich einlassen wollte. Im Untergrund zu arbeiten und verdeckt zu ermitteln war kein Spaß, sondern brandgefährlich. Es erforderte jahrelange Erfahrung, die der Bär nun mal nicht besaß. Offenbar war nur ihm klar, dass Noél damit ihrer beider Leben aufs Spiel setzte.
»Nun gut«, hörte er sich jedoch vollkommen unerwartet zustimmen, bevor er überhaupt den Entschluss gefasst hatte, wider besseres Wissen einzulenken.
Frustriert und gleichzeitig erstaunt hob er die Schultern und sah Noél ernst an.
»Dann herzlich willkommen im nächsten Team Miller«, setzte er spontan hinzu.
Es dämmerte bereits, als er mit Noél das Motel wieder verließ. Der Navy Seal ging schnurstracks auf den geparkten Ford Sedan zu, doch Bron stockte mitten im Schritt. Verdammt, die Buchstabenkombination des Kennzeichens ließ nur einen Schluss zu, woher das Fahrzeug stammte. Warum war ihm das nicht eher aufgefallen?
»Ist das ein Wagen aus dem Fuhrpark der Army?«, fragte er alarmiert.
Der Kodiakbär blieb stehen und nickte knapp. »Ja, ich habe ihn auf dem Stützpunkt der Seals bei Seattle ausgeliehen. Warum? Ist das ein Problem?«
Bron brummte unzufrieden, ohne die Frage zu beantworten. Für jemanden bei der Army oder speziell bei den Seals, der eine Verbindung zwischen ihm und Noél herstellen konnte, wäre es ein Leichtes, ihren Standort über das Navi des Wagens anzupeilen.
»Gib mir bitte die Schlüssel«, verlangte er grimmig.
»Warum?« Noél runzelte die Stirn und sah ihn unverhohlen misstrauisch an.
»Ich glaub, der Keilriemen ist ausgeleiert, der hat vorhin komische Geräusche gemacht. Ich mach die Motorhaube auf und du schaust dir bitte mal an, ob wir ein Problem damit haben könnten«, flunkerte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
Noél zögerte sichtlich, doch dann knurrte er genervt und warf Bron die Autoschlüssel zu.
»Ich habe auf der gesamten Fahrt bis hierher kein unnormales Geräusch gehört«, murrte der Seal vernehmlich. »Allerdings haben mir da vom Einschlag der Rakete in den Trailer noch die Ohren geklingelt.«
»Das nächste Mal warne ich dich, bevor jemand auf uns schießt«, spöttelte Bron. »Dann kannst du dir schnell noch ein paar Ohrstöpsel reindrücken, um deine empfindlichen Lauscher zu schützen.«
»Beim nächsten Mal?« Noél warf ihm einen unergründlichen Blick zu. »Sag bloß, bei dir kommt das öfter vor?«
Bron zuckte nachlässig die Schultern. »Ich will nicht behaupten, dass mir das jeden Tag passiert, aber ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, in der Schusslinie zu sein.«
»Und dabei kannst du noch ruhig schlafen?«, hakte Noél nach.
»Nein.« Bron unterdrückte ein Seufzen.
Es musste eine halbe Ewigkeit her sein, dass er zuletzt tief und fest hatte schlafen können, ohne dabei permanent mit einem Ohr nach Gefahren zu lauschen. Im nächsten Augenblick wunderte er sich, warum er Noél derart aufrichtig geantwortet hatte. Es sah ihm nicht ähnlich, offen über persönliche Dinge zu plaudern, auch wenn es sich bloß um so etwas Banales wie seine Schlafgewohnheiten handelte. Nein, er musste aufpassen, was er gegenüber dem Navy Seal preisgab. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er niemandem trauen konnte, da mochte der Bärenwandler ihm noch so …
»Du bist deinem Bruder ähnlicher, als du wahrscheinlich denkst«, unterbrach Noél seine selbstkritischen Gedankengänge.
Überrascht merkte Bron auf und wollte sogleich gewohnheitsmäßig widersprechen, doch der Kodiakbär schien ihre Unterhaltung als beendet zu betrachten. Noél drehte sich nämlich abrupt um, ging die letzten Schritte auf den Ford zu, stellte sich vor den Wagen und schob die Fingerkuppen unter den vorderen Rand der Motorhaube.
»Los, mach mal auf«, forderte er dann unerwartet barsch, wohl, weil Bron nicht sofort reagierte.
Wortlos ging Bron zur Fahrerseite hinüber und schwang sich dort auf den Sitz. Mit einem Handgriff öffnete er die Verriegelung der Haube und wartete ab, bis Noél diese hochgeklappt hatte.
Prima, so war dem Lieutenant die Sicht auf ihn verdeckt.
»Ich lass ihn mal an!«, rief er Noél noch zu, dann startete er den Motor und stellte die Automatik in den Leerlauf.
Er verlor keine Sekunde an Zeit, sondern zog hastig das Navigationsgerät aus seiner Verankerung im Armaturenbrett und löste zwei Kabel, um dadurch die Stromzufuhr zum Gerät lahmzulegen. Sicherheitshalber pulte er auch den fingernagelgroßen Chip von der Platine, der das GPS-Signal sendete, und wollte ihn gerade aus dem Fahrzeug werfen, als er plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung an seiner rechten Seite wahrnahm. Er erstarrte.
Noél!
Der Bär öffnete die Beifahrertür, stützte sich jedoch lediglich lässig mit beiden Händen auf dem Autodach ab und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.
»Den Chip brauchst du nicht wegzuwerfen«, erklärte Noél nun in aller Seelenruhe, als wäre es völlig normal, dass Bron gerade das Navi zerlegt hatte. »Jetzt ist er ja deaktiviert. Wenn wir deinen Job erledigt haben, baue ich ihn wieder ein, bevor ich den Ford zurückbringe. Sonst kommen noch komische Fragen auf.«
Bron schluckte trocken und nickte. Niemals hätte er damit gerechnet, dass Noél es tolerieren würde, dass er das GPS-Signal des Wagens ausschaltete und zudem auch nicht sauer zu sein schien, obwohl er nicht aufrichtig zu ihm gewesen war.
Trotzdem fiel es ihm verdammt schwer, seine Mimik unter Kontrolle zu halten und nicht ertappt das Gesicht zu verziehen. Wortlos reichte er Noél den Chip und wollte aus dem Fahrzeug steigen, als der Navy Seal ihn mit einer knappen Handbewegung aufhielt.
»Bleib sitzen, du fährst. Ohne Navi bin ich hier schließlich aufgeschmissen.« Noél ging zur Front des Fahrzeuges zurück, warf die Motorhaube wieder zu und wuchtete sich dann auf den Beifahrersitz.
Noch vollkommen perplex schnallte sich Bron an und legte den Gang ein.
Nun denn – auf in den Kampf.
Die ausgiebige Dusche und der kurze Mittagsschlaf hatten ihn erfrischt, jetzt war er voller Tatendrang. Seine Mission hatte zwar durch seine Enttarnung und den Angriff auf den Trailer einen kleinen Rückschlag erlitten, aber sie war noch lange nicht als gescheitert einzustufen.
Erst wenn er alle Verantwortlichen dieses illegalen Waffenhandels aufgespürt hatte und die Beweissicherung in trockenen Tüchern war, würde er wieder ruhig schlafen können. Noéls Hilfsangebot stand er zwar noch immer skeptisch gegenüber, aber vielleicht war es von Vorteil, den kampferfahrenen Kodiakbären bei dem, was er vorhatte, als Rückendeckung zu haben.
Noél
Im Hafen von Seattle herrschte, wie auch bei seinem letzten Besuch, trotz der bereits hereingebrochenen Dunkelheit reger Betrieb.
Gespannt verfolgte Noél, wie Bron mit schlafwandlerischer Sicherheit in das verwirrende System aus schmalen Gassen eintauchte, zwischen meterhoch gestapelten Containern hindurchfuhr und so oft die Richtung wechselte, dass selbst sein geschulter Orientierungssinn nach einiger Zeit versagte. Vielleicht wollte Bron sichergehen, dass ihnen niemand folgte, aber Noél verkniff es sich, den Bärenwandler danach zu fragen.
An einer Mole, in der einige kleinere Fischkutter vertäut waren, parkte Bron den Wagen schließlich nahe einer Wellblechhalle, stellte den Motor ab und stieg aus.
Noél folgte ihm umgehend.
»Warte hier, ich muss bloß schnell was nachsehen«, bat Bron ihn, doch Noél winkte ab.
»Vergiss es, ich komme mit«, erwiderte er auf der Stelle.
Bron seufzte hörbar, blieb aber unschlüssig stehen und musterte ihn eindringlich.
»Na gut. Aber halt dich zurück und überlass mir das Reden«, lenkte er ein.
Noél nickte, doch Bron hatte sich bereits umgedreht und ging geradewegs auf den Eingang einer Halle zu, aus der die signifikanten Fahrgeräusche von Gabelstaplern zu ihnen drangen.
Sie waren noch etwa zehn Meter von der Halle entfernt, als ein kleiner, untersetzter Mann in einem grellorangen Overall heraustrat, den Schutzhelm abnahm und sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte. Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne. Seinen weit aufgerissenen Augen nach zu urteilen hatte er sie entdeckt und war ganz offensichtlich überrascht, Bron hier zu sehen. Dem offen stehenden Mund des Mannes entwich ein leises Ächzen, dann wirbelte er auf dem Absatz herum und verschwand schneller, als Noél es ihm zugetraut hätte, um die nächste Ecke des Gebäudes.
Bron lachte lediglich unterdrückt und sprintete ebenfalls los, dem Mann hinterher. Als Noél die beiden nach ein paar Sekunden wieder eingeholt hatte, hatte Bron eine Hand an der Kehle des kleinen Menschen und drückte ihn gegen die Außenwand der Halle.
»Hallo Freddy«, säuselte Bens Bruder betont liebenswürdig, aber mit einem lauernden Unterton in der Stimme. »Wie ich sehe, hast du heute Abend gar nicht mit meinem Erscheinen gerechnet, wie es verabredet war.«
»Ich dachte … aber die haben doch …«, stammelte der Mann, unterbrach sich jedoch abrupt.
Seine Augen traten aus den Höhlen, so angestrengt japste er nach Luft, die Bron ihm wohldosiert abdrückte.
»Was hast du gedacht? Dass ich mir die Blümchen von unten angucke?«, höhnte Bron und schnaubte verächtlich.
Der Mann, den er mit Freddy angesprochen hatte, schüttelte heftig den Kopf.
»Ich hab damit nichts zu tun!«, jammerte er. »Ich schwöre! Das musst du mir glauben!«
»So? Muss ich das?«, wiederholte Bron trügerisch sanft, drückte aber dennoch fester zu, was dem Mann ein entsetztes Röcheln entlockte.
Noél verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen Schritt zurück, um die Umgebung besser im Auge behalten zu können. Es verlangte ihm einiges ab, Bron wie versprochen gewähren zu lassen und sich nicht einzumischen – aber, gütiger Himmel, musste er gegenüber dem armen Mann derart rüde vorgehen und ihn fast erwürgen, nur um ein paar Fragen zu stellen? Das ging ihm ziemlich gegen den Strich, aber eine leise Ahnung sagte Noél, dass Bron wusste, wie er vorgehen musste.
Überall waren Geräusche zu hören, die vom geschäftigen Betrieb in diesem Teil des Hafens stammten. Sein sechster Sinn mahnte Noél, nicht unvorsichtig zu werden und besser schnell von hier zu verschwinden, bevor jemand anderes mitbekam, dass der Undercover-Agent des NCIS wider Erwarten noch lebte. Er brummte ungeduldig, worauf Bron ihn mit einem raschen Seitenblick bedachte und zu seiner Überraschung zustimmend nickte, als hätte er seine Gedanken gelesen und würde Noéls Einschätzung teilen.
»Also, Freddy«, setzte Bron erneut an. »Vergessen wir einfach, was heute Morgen am Flughafen passiert ist. Alles, was ich von dir wissen will, ist, ob die Lieferung planmäßig eingetroffen ist.«
»Du willst trotzdem weitermachen?«, fragte Freddy sichtlich erstaunt. »Die werden dich umbringen!«
»Falsch«, konterte Bron trocken. »Sie werden es versuchen.«
Er wartete zwei Sekunden ab, taxierte den Mann durchdringend und knurrte dunkel.
»Jetzt spuck es schon aus, Freddy. Ist die Lieferung erfolgt?«
Der Mann nickte, soweit ihm dies mit Brons Hand an seinem Hals überhaupt möglich war.
»Heute Mittag«, bestätigte er dann. »Ich hab sie am Flughafen entgegengenommen und umgeladen.«
»Frachtkennung?«, fragte Bron scharf.
Freddy hob jedoch bedauernd die Schultern.
»Woher soll ich die wissen?«, antwortete er, doch Bron drückte ihn noch fester gegen die Wand und baute sich drohend vor dem kleinen Menschen auf.
»Red keinen Scheiß, sonst mach ich dich einen Kopf kürzer, Fred. Du hast die Lieferung übernommen und zur Grennway Mold gebracht. Also, wenn du mich hier verarschen und deine Frau frühzeitig zur Witwe machen willst …«
»Nein, nein!«, unterbrach Freddy ihn und hob beide Hände. »Ich hab die Container zum Schiff transportiert, das stimmt. Aber sie haben die Frachtkennung noch mal geändert, sobald die Ladung an Bord war! Ich hab nur mitbekommen, dass der Lademeister die Anweisung dazu bekommen hat, aber keine neue Kennzeichnung!«
»Die Container?« Bron merkte sichtlich auf. »Es sind mehr als einer?«
Freddy nickte heftig. »Es sind drei. Zwei blaue und ein roter. —