*Eden Rock, nahe Miami, Florida, im Mai 1975*
»Oh Mann, hast du die Neue schon gesehen? Die ist echt nicht von schlechten Eltern.«
Alexander schaute von seinen Hausaufgaben auf und warf einen Blick über die Schulter zu Kijan, seinem besten Kumpel und Mitbewohner auf der Eden Rock Senior Highschool. Der blonde Quarterback ihres Footballteams, der in ihr Zimmer gestürmt war, hatte ein hochrotes Gesicht, er keuchte und strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. Anscheinend war er extra für die Überbringung dieser Neuigkeiten bis hierher gerannt. Na, das musste ja eine tolle Braut sein, wenn Kijan, dem die Mädchen reihenweise zu Füßen lagen, derart aus dem Häuschen war.
»Ach ja? Nein, ich hab sie noch nicht gesehen.«
Alexander zuckte desinteressiert die Schultern, klappte sein Geometrie-Buch zu und verstaute das Heft in seinem Rucksack. Diesen Teil der Hausaufgaben hatte er erledigt, an dem Referat für Biologie konnte er heute Abend noch arbeiten. Nur, weil er bereits ein Sport-Stipendium an der Stanford University in der Tasche hatte, da er seit über zwei Jahren die Defense ihres Footballteams, die Eden Rock Knights
, erfolgreich anführte, würde er seine schulischen Leistungen keinesfalls vernachlässigen.
»Lange blonde Haare. Tolle Beine. Total sportlich«, schwärmte Kijan und ließ sich rückwärts auf sein Bett plumpsen, das wie immer nicht gemacht war. »Sie heißt Linda und hat so einen irre komischen Nachnamen. Sari-swa-irgendwas. Den Rest hab ich vergessen.«
»Sari-Swahili?«, ergänzte Alexander erstaunt und merkte sofort auf.
Der bürgerliche Name der kenianischen Königsfamilie war ihm natürlich vertraut. Schließlich waren sie, wie er selbst,
Löwenwandler, auch wenn er in einem anderen Teil des Kontinents, in Südafrika, aufgewachsen war. Es war sogar nicht auszuschließen, dass sie über ein paar Ecken hinweg miteinander verwandt waren.
»Ja, genau, so heißt sie. Seltsamer Name.«
Kijan verschränkte die Hände hinter dem Nacken und starrte an die Decke. »Aber sie ist wirklich hübsch. Scheint auch ziemlich viel Selbstbewusstsein zu haben. Jedenfalls hat sie mitbekommen, wie alle sie anstarren, hat ihren Koffer abgestellt, einmal scharf gepfiffen und gebrüllt: Ja, ich bin die Neue. Um alle Fragen gleich zu Beginn zu klären: Ich heiße Linda Sari-Swahili, bin achtzehn Jahre alt, komme aus Kenia, und werde hier den Abschluss machen. Alles klar?
« Er schnaubte amüsiert. »Ich mag selbstbewusste Frauen.«
»Seit wann?«, stichelte Alexander umgehend. »Du machst dir doch bei jeder emanzipierten Frau in die Hose.«
Er lachte ausgelassen und wehrte spielerisch leicht das Kissen ab, das Kijan nach ihm geworfen hatte.
Nun denn. Eine Löwenwandlerin hier auf der Eden Rock?
Die musste er sich ansehen.
***
Genervt schlug Linda mit der Faust gegen ihren Spind.
Diese verkackten Mistdinger! Natürlich hatte sie die richtige Zahlenkombination am Türschloss eingestellt, aber irgendetwas klemmte. Wahrscheinlich musste man bei Dreiviertel-Mond nackt um den Brunnen vor dem Hauptgebäude tanzen und eine gelbgepunktete Rotbauchunke opfern, bevor sich dieses verschissene Teil öffnen ließ.
Sie zuckte unbeherrscht zusammen, als plötzlich eine große Hand über sie hinweg griff und die Spindtür mit leichtem Druck auf die obere linke Ecke dazu brachte, sich zu öffnen. Mehr über sich selbst verärgert, weil die Lösung ihres Problems scheinbar
dermaßen simpel gewesen war, knurrte sie unwillig und drehte sich langsam zu dem Kerl um, der lautlos hinter ihr aufgetaucht war.
Im selben Moment, in dem sie seinen Geruch einatmete und ihn überprüfte, traf es sie wie ein Keulenschlag. Ein Löwenwandler! Spontan stellten sich ihre Nackenhaare auf, ihr Pulsschlag verdoppelte sich und ihre Knie wurden seltsam weich.
Verdammt, damit hatte sie nicht gerechnet. Eden Rock war eine elitäre, aber von Menschen geführte Highschool, einen anderen Gestaltwandler hatte sie hier nicht vermutet. War sie nicht extra in die USA auf diese Schule gewechselt, um vor allem den Löwen aus dem Weg zu gehen?
»Verzieh dich, Kater«, blaffte sie den Kerl an, obwohl sie nicht umhinkam, ihn ausführlich zu mustern.
Der Löwe war zu ihrem Leidwesen ein echt heißer Typ.
Seine Gesichtszüge waren markant, das energische Kinn und die ausgeprägten Wangenknochen verrieten ihr, dass er wahrscheinlich wie sie afrikanischer Herkunft war. Seine Mähne war noch etwas kurz, also dürfte er ungefähr in ihrem Alter sein. Er trug eine dunkelrote Collegejacke mit den Abzeichen der Eden Rock, darunter ein hautenges, weißes Shirt und eine blaue Jeans.
Eine lässige, unauffällige Kombination, die jedoch zum Trend werden könnte – allein, weil er sie mit einer selbstbewussten, weltmännischen Gelassenheit zum Style erheben und ihm alle anderen nachzueifern versuchen würden.
»Bitte schön. Gern geschehen«, antwortete er nun, trotz ihrer rüden Aufforderung, übertrieben freundlich und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln, das seine strahlend weißen Zähne aufblitzen ließ. »Ich bin übrigens Alexander, aber die meisten sagen einfach Alex zu mir. Willkommen auf der Eden Rock.«
Misstrauisch musterte Linda ihn und versuchte gleichzeitig, seinen anregenden Duft auszublenden.
Himmel, bestimmt war er die männliche Schlampe an dieser Schule, um den sich die Mädchen reihenweise scharten.
Nein danke, auf solche Typen hatte sie erst recht keinen Bock. Löwenmänner hatten zwar körperlich unbestritten jede Menge zu bieten, aber charakterlich waren sie, gerade in ihrem Alter, regelrechte Arschlöcher, die nur auf eines aus waren: sie flachzulegen. Nochmals – nein danke.
»Steck dir dein Willkommen sonst wohin und verschwinde«, knurrte sie daher unfreundlich, verstaute ihre Bücher im Spind und verschloss diesen wieder.
Sie wandte sich um und ging mit entschlossenen Schritten den Flur in Richtung des Biologie-Raumes hinab, doch der Löwe war mit einem Satz an ihrer Seite und trabte neben ihr her.
»Aber, aber, Prinzessin, es gibt keinen Grund für eure Hoheit, gleich so bissig zu werden«, tadelte er sie süffisant.
Wie angewurzelt blieb Linda stehen.
Heilige Scheiße, der Löwe wusste also genau, wer sie war! So ein verdammter Mist!
»Hör mal«, setzte sie wohlüberlegt an, »ich wäre dir dankbar, wenn du niemandem etwas von meinem Titel oder meiner Familie erzählst.«
»Warum?«, hakte er sofort nach.
»Weil ich extra hierhergekommen bin, um ein einziges Mal in meinem Leben nicht die zu sein, für die mich alle halten«, rutschte es ihr unbedacht raus.
Scheiße, so viel hatte sie ausgerechnet ihm gegenüber nicht preisgeben wollen.
Der Löwe legte jedoch lediglich den Kopf schief und betrachtete sie schweigend. Sie wollte weitergehen, als er sie mit einem kurzen Ruf zurückhielt.
»Warte!«
Gegen ihren Willen blieb sie erneut stehen und drehte sich zu ihm um.
»Natürlich kann ich das für mich behalten. Aber gehst du dann morgen Abend mit mir aus?«, fragte Alex nun und schenkte ihr ein breites, überlegen wirkendes Lächeln. »Für dich fahr ich das volle Programm, Schätzchen. Abendessen bei Kerzenlicht, tanzen im Mondschein und ein romantischer Spaziergang am Meer. Nun, wie schaut’s aus?«
Linda runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Das selbstgefällige Grinsen des Katers ging ihr gewaltig gegen den Strich. Nicht nur seine überhebliche Art, sondern vor allem sein samtiger Tonfall mit dem ausgeprägten, südafrikanischen Akzent, der einem Schnurren glich und ihr eine Gänsehaut verursachte.
»Vergiss es, Howie.« Es gelang ihr, die Stimme angemessen zu dämpfen, dennoch wurde sie von einem leisen Grollen begleitet, das tief aus ihrer Brust kam. »Mit dir würde ich nicht einmal ausgehen, wenn du der letzte Mensch
auf Erden wärst.«
Damit drehte sie sich endgültig um und trat den Weg zum Biologiesaal an. Genetik bei Mr. Liman stand als Erstes auf ihrem Stundenplan.
Eigentlich war Biologie eines ihrer Lieblingsfächer, doch der monotone Vortrag des Lehrers vermochte sie nicht einmal ansatzweise fesseln. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dem Gespräch mit Alex ab, ohne dass sie es verhindern konnte.
Heilige Kojotenkacke, die Abfuhr, die sie dem Löwen erteilt hatte, war viel zu zahm und brav für ihre Verhältnisse gewesen. Normalerweise hätte sie ihm ganz andere Worte an den Kopf geworfen, um seine Einladung auszuschlagen, hätte imaginär ihre Krallen ausgefahren und ihn mit Karacho zum Teufel gewünscht.
Was war denn nur mit ihr los?
Die Mensa der Eden Rock glich der ihrer früheren Schule in Kenia – sie war überfüllt und roch durchdringend nach verschwitzten Sportlern, übertrieben parfümierten Mädchen und dem mit Glutamat verseuchten Essen.
Linda hatte sich eine pasteurisierte Milch und ein pappig aussehendes Sandwich mit Huhn und Käse geben lassen. An das Tagesgericht, ein Hacksteak mit Kartoffelpüree und Bohnen, traute sie sich nicht heran. Es sah nicht nur ungenießbar aus, es verströmte auch einen seltsamen, nicht gerade einladenden Geruch, als würde das Hack aus einem durch den Fleischwolf gedrehten Stachelschwein bestehen.
Vorsichtig jonglierte sie ihr Tablett zwischen den Tischreihen hindurch und hielt Ausschau nach einem geeigneten Platz, wo sie sich setzen und in Ruhe essen konnte.
Die Clique der garantiert angesagtesten Chicks, ein Haufen langhaariger, aufgedonnerter Mädchen, ließ sie dabei ebenso außer Acht wie die der coolen Typen, die allesamt die Jacken des Footballteams trugen und allein schon durch ihre Lautstärke auf sich aufmerksam machten.
Etwas abseits entdeckte sie einen Tisch, an dem nur ein einziges Mädchen saß. Sie sah ganz nett aus, hatte lange, braune Haare und war in ein Schulbuch vertieft. Die Brille mit dem breiten, schwarzen Rand passte überhaupt nicht zu ihrem schmalen Gesicht, und in ihrer Jeans und dem grauen Sweatshirt wirkte sie eher unscheinbar.
Kurzentschlossen ging Linda zu ihr hinüber.
»Darf ich mich setzen?«, fragte sie höflich.
Das Mädchen hob den Kopf und starrte sie hinter ihren Brillengläsern aus großen Augen an, erwiderte aber nichts.
»Oder ist hier reserviert und du wartest auf jemanden?«, fragte Linda nach einigen Sekunden des gegenseitigen Starrens, weil die Kleine noch immer nicht reagierte.
»Nein ... äh ... ich meine ... äh ... setz dich doch«, stammelte das
Mädchen. Plötzlich wurde sie hektisch, sie klappte das Buch und mehrere, über den Tisch verteilte Hefte zu und stopfte sie eilig in ihre Schultasche.
»Danke.« Linda setzte sich ihr gegenüber, pikste den Strohhalm in ihre Milch und lächelte freundlich. »Ich bin übrigens Linda, und du?«
»Ich weiß, wie du heißt«, platze das Mädchen heraus. »Jeder hier kennt seit heute Morgen deinen Namen. Aber warum setzt du dich ausgerechnet zu mir? Die anderen glotzen schon.«
Sie warf einen unsicher wirkenden, verschämten Blick über ihre Schulter und ihre blassen Wangen röteten sich. Linda konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Ihr war nicht entgangen, dass sich alle Augen im Saal auf sie gerichtet hatten, mal mehr, mal weniger direkt. An ihr prallte solch schamloses Starren einfach ab, das war sie gewohnt.
»Vergiss die anderen. Die interessieren mich nicht.« Linda wickelte das Sandwich aus der Folie und biss vorsichtig ab.
Okay, das war halbwegs essbar, wenn auch durch die viele Mayonnaise recht fettig.
»Also, wie heißt du?«, fragte sie mit vollem Mund nochmals nach.
»Destiny Kessler«, antwortete das Mädchen sichtbar eingeschüchtert.
»Sagen deine Freunde Destiny zu dir oder hast auch einen Spitznamen?«
»Welche Freunde? Ich glaube, die meisten wissen nicht einmal, wie ich heiße«, gestand die Kleine, lief dabei jedoch erneut rot an.
Linda schnaubte ungläubig, wischte sie sich die fettigen Finger an einer Serviette ab und streckte Destiny über den Tisch hinweg die Hand entgegen.
»Dann sind die anderen selbst schuld. Ich jedenfalls freue mich, dich kennenzulernen, Destiny.«
Zögernd schlug diese ein, zog allerdings ihre Hand sofort wieder zurück. Oh je, die kleine graue Maus war wirklich schüchtern, aber sie schien sehr nett zu sein. Allmählich entspannte sich Destiny, obwohl sie sich erneut verstohlen umsah.
Ungewollt folgte Linda ihrem Blick – und wurde wie magnetisch von einem Paar bernsteinfarbener Augen angezogen, die direkt auf sie gerichtet waren.
Linda schnaubte abfällig, kam aber nicht umhin, das durchdringende Starren des Löwenwandlers ebenso fest zu erwidern. Einer solchen Herausforderung konnte keine Großkatze widerstehen.
»Oh Gott, sogar Alexander schaut dich an«, murmelte Destiny vor sich hin und riss Linda aus dem provokanten Blickduell heraus.
Hastig überspielte sie die Schmach, als Erste weggeschaut zu haben, indem sie sich betont desinteressiert gab und in ihr Sandwich biss.
»Wäre mir nie aufgefallen«, spottete Linda zwischen zwei Bissen sarkastisch und verbot es sich, erneut zum Footballer-Tisch hinüberzusehen. »Der Typ ist mir vorhin schon auf den Sack gegangen. Der wollte mich doch allen Ernstes nach einem Gespräch von einer Minute zu einem Date einladen! Nee, bloß nicht. Never ever.«
»Alexander hat dich eingeladen?«, brach es fassungslos aus Destiny hervor. »Und du hast nein gesagt?«
»Natürlich hab ich das. Ich hab keinen Bock, mir dieses übertrieben männliche Getue einen ganzen Abend lang anzutun.«
»Hmpf.« Destiny starrte sie noch immer an, als wäre sie das achte Weltwunder.
»Was denn?« Linda zuckte gleichgültig die Schultern. »Der hat doch bestimmt eine Menge Groupies an jeder Hand, und ich
habe keine Lust, zu irgendeiner Nummer auf seiner ellenlangen Liste zu werden.«
»Ich glaube, jedes Mädchen hier auf der Eden Rock würde nur zu gerne eine seiner Nummern sein, sogar bloß für eine einzige Nacht«, erwiderte Destiny nachdenklich. »Er hat allerdings den Ruf, sehr wählerisch zu ...«
Sie unterbrach sich und hob erstaunt die Augenbrauen. »Oh Gott, er kommt genau auf uns zu!«
Linda verdrehte genervt die Augen Richtung Decke.
Verdammt, sie hatte es geahnt. Ihre Abfuhr von vorhin war tatsächlich nicht zu dem verblödeten Footballer-Hirn durchgedrungen.
»Darf ich?«, fragte dieser nun, wartete aber nicht einmal eine Antwort ab, sondern schob sich ihr gegenüber auf die Bank, womit er Destiny einfach zur Seite drängte, als wäre sie überhaupt nicht anwesend.
»Nein, du darfst nicht«, erwiderte Linda kalt.
Herrje, was fiel diesem Dumbatz-Löwen nur ein, sich an ihrem Tisch breitzumachen, als würde er ihm gehören?
»Komm, wir gehen.« Sie erhob sich und gab Destiny einen kurzen Wink. Sie wollte ihr Servierbrett nehmen, um es wegzuräumen, doch Alexander griff ebenfalls danach.
»Warte, ich mach das«, bot er ihr an.
Entschlossen zog sie am Tablett, doch der Löwe hielt es dermaßen fest, dass es sich keinen Millimeter in ihre Richtung bewegte.
»Nein, danke, das kann ich selbst«, fauchte sie ihn wütend an. »Nimm deine Griffel da weg!«
Normalerweise würde sie die Schultern zucken und den Typen gewähren lassen, aber hier ging es ums Prinzip. Wenn sie jetzt nachgab, würde sie den aufdringlichen Löwen gar nicht mehr von der Backe bekommen!
Nochmals zerrte sie mit aller Kraft am Tablett, um es ihm
aus den Fingern zu reißen, doch er hielt ohne jegliches Anzeichen von Anstrengung dagegen. Verärgert starrte sie in Alex’ Löwenaugen. Sein überraschend sanfter Blick ging ihr durch und durch, er berührte etwas in ihr, das sie in diesem Augenblick keinesfalls wahrhaben, geschweige denn dulden wollte.
Einer Eingebung folgend ließ sie das Tablett so plötzlich los, dass Alex nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte.
Er zog es in seine Richtung, es kippte, klatschte gegen seine breite Brust. Milch ergoss sich über sein Shirt, das angebissene Sandwich wurde in die Höhe katapultiert – und landete genau in seiner Mähne.
Ringsum wurde es schlagartig so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. In aller Seelenruhe pflückte sich Alexander die schmierigen Toastscheiben aus dem Haar und griff nach einer Serviette, um die Milch von seinem Shirt zu tupfen. Die Mayonnaise in seiner Mähne ignorierte er oder nahm sie gar nicht wahr. Ihre Mitschüler hatten binnen Sekunden den Schreck überwunden und lachten lauthals los. Selbst die Football-Typen schütteten sich aus vor Lachen und klopften sich auf die Schenkel.
Einen Moment lang war Linda wie erstarrt, doch dann fing sie sich wieder und lehnte sich Alex über den Tisch hinweg entgegen.
»Selbst schuld, Blödmann«, knallte sie ihm barsch an den Kopf. »Lass mich einfach in Ruhe!«
Damit machte sie sich hocherhobenen Hauptes auf den Weg zum Ausgang der Mensa. Destiny griff nach ihrer Collegemappe, presste sie wie ein Schutzschild gegen die Brust und dackelte hinter ihr her.
Hoffentlich war dies dem Löwen eine Lehre. Wer sich mit ihr anlegte, zog oft genug den Kürzeren.
***
Alexander trabte die Treppen hinauf, um sich in seinem Zimmer ein frisches Shirt überzuziehen. Dabei konnte er das Grinsen nicht unterdrücken, das sich in sein Gesicht geschlichen hatte, sobald Linda außer Sichtweite war.
Himmel, was für ein Mädchen!
»Hey, du Trantüte, da hat dich die Kleine aber eiskalt abblitzen lassen!«
Kijan war ihm gefolgt, machte die Tür ihres Domizils hinter sich zu und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen.
»Dass ich das nochmal erleben darf – es gibt tatsächlich ein weibliches Wesen, das nicht sofort auf deinen Charme hereinfällt und dir zu Füßen liegt!«
Alex konnte ein Seufzen nicht unterdrücken, wo auch immer dieses gerade herkam.
»Ist sie nicht fantastisch?« Er zog das eingesaute Shirt aus und versuchte, damit die Mayonnaise aus dem Haar zu entfernen.
»Fantastisch?« Kijan riss verwundert die Augen auf. »Die Neue hat dir das Zeug absichtlich übers Shirt gekippt, das ist dir schon klar, oder?«
»Ja, logisch.« Alex hielt inne und starrte auf das zerknüllte T-Shirt in seinen Händen. »Aber hast du gesehen, wie wunderschön sie war, als sie wütend wurde? Total ungekünstelt, voller Temperament und Charakter.«
Er drehte sich zu Kijan um, der ihn nach wie vor anstarrte, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Ich hab mich verliebt«, verkündete er dem Freund ernst. »Die werd ich heiraten.«
***
Am Abend zog sich Linda früh zurück, um zu Hause anzurufen. Im Internatstrakt der Eden Rock gab es keine Telefone auf
den Zimmern, doch im Flur hing eines an der Wand, das allen Schülern zur Verfügung stand. Verärgert stellte sie fest, dass damit offenbar nur R-Gespräche möglich waren, also meldete sie ein Telefonat nach Kenia an und wartete ungeduldig, bis die Kostenübernahme geklärt war und auf der anderen Seite abgenommen wurde.
»Hallo, Kind«, ertönte trotz der Entfernung überraschend klar und deutlich eine tiefe, männliche Stimme aus dem Hörer. »Bist du gut angekommen?«
Frustriert verdrehte Linda die Augen, tarnte aber das spontan aufkommende Schnauben mit einem Hüsteln. Ausgerechnet ihr Dad? Hätte nicht eines ihrer Geschwister oder wenigstens Mum am Apparat sein können?
»Hallo, Vater«, begrüßte sie ihn gewohnt förmlich. »Ja, danke, ich bin gut angekommen. Kann ich bitte mit Mutter sprechen?«
»Deine Mutter Mali ist momentan nicht abkömmlich, die Soirée für unsere chinesischen Gäste ist noch im vollen Gange«, erwiderte er, als hätte sie wissen müssen, welcher Empfang heute Abend am kenianischen Hofe abgehalten wurde.
»Würdest du ihr bitte meine Grüße ausrichten?«, fragte Linda und bemühte sich, den genervten Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.
»Das werde ich«, versprach seine Hoheit König William Kito Asante der Erste, huldvoll.
Linda hoffte zumindest, dass sich ihr Vater angesichts seiner fünf Ehefrauen und siebzehn Kindern daran erinnern würde, wem genau er diese Nachricht überbringen sollte. Sie wollte sich höflich von ihm verabschieden, doch ihr Vater setzte noch etwas hinterher, das sie wie ein Faustschlag traf und ihr die Füße unter den Beinen wegzuziehen drohte.
»Wir erwarten dich dann an Weihnachten zurück, damit die Verlobung vollzogen werden kann.«
Linda erstarrte augenblicklich. Verdammt, ihr war klar
gewesen, dass Vater an seinen Plänen, sie mit einem wildfremden Löwen zu verheiraten, festhalten würde. Weder ihr deutlicher Widerstand angesichts dieser total veralteten Tradition noch ihre Abreise nach Florida, die sie gegen seinen Willen durchgezogen hatte, vermochten daran etwas zu ändern.
»Vater, ich werde ihn nicht heiraten«, fuhr sie trotzig auf. »Du kannst doch nicht jede deiner Töchter jemandem versprechen! Wir leben nicht mehr im Mittelalter!«
»Linda, das entspricht nicht nur den Sitten und Gebräuchen deines Landes, sondern hat auch politische Hintergründe. Aber die verstehst du natürlich nicht, Kind«, teilte ihr Vater geringschätzig mit. »Du bist eine Prinzessin von Kenia, also wirst du dich auch so verhalten und das tun, was deinem Volk zugutekommt. An Weihnachten feiern wir deine Verlobung mit Samuel Bruns, die Hochzeit ist für den März vorgesehen. Ich verbitte mir jegliche Diskussion darüber.«
Schlagartig breitete sich ein stechender Schmerz hinter ihrer Stirn aus, gleichzeitig stieg Übelkeit in ihr hoch.
Nein, niemals!
Keinesfalls würde sie sich vom eigenen Vater für irgendwelche politischen Ziele missbrauchen und sich schon gar nicht wie ein Kamel auf dem Markt verschachern lassen!
Allerdings kannte sie sowohl ihren Dad als auch ihre Position am Hofe nur zu gut – Widerstand war nicht nur zwecklos, sondern unter Umständen sogar gefährlich.
»Ja, Vater«, gab sie mühsam durch ihre zusammengebissenen Zähne zurück und verabschiedete sich.
Vor ihren Augen verschwamm alles, weil sich dort Tränen sammelten. Für ihren Vater war sie nicht mehr als ein Trumpf, den er für irgendwelche Geschäfte in der Hinterhand hatte und er scheute sich nicht, diesen auch einzusetzen. Nicht einmal ihre Mum als erste Frau des Königs konnte daran etwas ändern.
Mutlos knallte sie den Hörer auf die Gabel und trottete mit
gesenktem Kopf zurück in ihr Zimmer, wo sie sich aufs Bett warf und den Tränen freien Lauf ließ.
Eine Prinzessin zu sein hörte sich für andere sicherlich toll an, aber in Wahrheit war es die Hölle auf Erden. Ihr ganzes Leben war seit ihrer Geburt vorherbestimmt – und sie hatte weder die Macht noch die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.
***
Nach nur wenigen Tagen hatte sich Linda im Internat eingelebt. Destiny war, nachdem sie ihre anfängliche Scheu abgelegt hatte, eine wundervolle Freundin geworden, mit der Linda nicht nur über alles Mögliche quatschen konnte, sondern auch eine Menge Spaß hatte. Wie immer war es traurig, dass Linda ihre wahre Natur verbergen musste und deshalb Destiny gegenüber nicht ganz ehrlich sein konnte.
Gottverdammte Scheiße, sie hasste es so sehr, sich nicht einmal der besten Freundin anvertrauen zu können, dass sie eine Löwenwandlerin war! Immer wieder musste sie sich mäßigen und zügeln, um nicht aufzufallen, immer wieder zerrte es an den Nerven, die Löwin in ihr zu unterdrücken und instinktgesteuerte Reaktionen in Schach zu halten.
Besonders schwer fiel ihr das, sobald Alex in ihrer Nähe war. Seine naturgegebene Dominanz und sein unerschütterliches Selbstbewusstsein gingen ihr gewaltig auf den Keks – aber, gütiger Himmel, irgendetwas hatte der Kater an sich, das sie mit aller Macht zu ihm zog. Ihre Taktik, ihn deutlich in die Schranken zu weisen und ihn sich mit angedeutetem Knurren und bösen Blicken vom Leib zu halten, ging angesichts seiner Hartnäckigkeit leider überhaupt nicht auf. Immer wieder kreuzten sich ihre Wege, daher vermutete Linda, dass er ihr absichtlich auflauerte.
So auch heute.
Sie hatte soeben zwei Stunden Schulsport erfolgreich hinter
sich gebracht, in denen sie Fußball gespielt und Linda es geschafft hatte, nicht jedem Ball hinterherzujagen und sich angemessen zu zügeln. Keinesfalls durfte den Lehrern oder ihren Mitschülern auffallen, dass sie nicht nur schneller als alle anderen war, sondern auch den härtesten Schuss hatte, mit dem sie jede Menge Tore hätte erzielen können.
Manchmal fiel es ihr schwer, sich zu bremsen, doch sie war es von Kindesbeinen an gewohnt, ihre Kraft und Ausdauer unter Verschluss zu halten, sobald sie sich in Gesellschaft von Menschen befand.
Gerade wollte Linda zu den Umkleidekabinen der Mädchen hinüber schlendern, als Alex zu ihr aufschloss und neben ihr her trabte.
»Hallo, meine Schöne!« Sein Lächeln war so breit, dass er seine stahlendweißen Zähne zeigte.
»Hau ab, du Arsch!«, blaffte sie ihn wütend an, doch wie vermutet schien das den Löwen nicht abzuschrecken.
Im Gegenteil, er überholte sie, stellte sich ihr in den Weg und brachte sie so dazu, abrupt anzuhalten.
»Aber, aber, Prinzessin«, tadelte er sie sanft. »Warum bist du ausgerechnet mir gegenüber so abweisend? Sollten wir uns nicht eher zusammentun? Schließlich sind wir von derselben Art!«
»Halt sofort die Klappe, Howie!«
Hektisch sah sie sich um.
Nein, ihre Mitschülerinnen hatten die Umkleidekabinen bereits erreicht, sie waren allein. Selbst zu Destiny hatte sie den Anschluss verloren.
Verdammt, das war nicht gut!
»Nenn mich nicht immer Prinzessin und hör um Himmels Willen auf, von derselben Art zu quatschen«, fuhr sie den Löwen an, wenn auch wesentlich leiser als zuvor. »Falls das jemand mitbekommt! Ich hab jedenfalls keine Lust, irgendwelche bescheuerten Fragen zu beantworten, was damit gemeint sein
könnte.«
»Ach, red keinen Mist, hier ist doch keiner. Aber sag mal, warum nennst du mich eigentlich immer Huey
?«, fragte Alex mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich hab ja schon viele Spitznamen bekommen. Thors großer Bruder, die Ein-Mann-Defense oder auch einfach nur Sexgott, um drei davon zu nennen. Aber ausgerechnet Huey? Seh ich für dich aus wie eine Ente?«
Linda musste unwillkürlich über Alexanders plötzliche Verwirrung schmunzeln. Im englischsprachigen Raum waren Donald Ducks Neffen als Huey, Dewey und Louie bekannt, während sie die Drillinge dank ihrer in der Schweiz aufgewachsenen Mutter als Tick, Trick und Track bezeichnete.
»Nicht Huey, sondern Howie
. Du hast denselben Akzent wie Howard Carpendale, der südafrikanische Sänger«, erklärte sie, wofür sie sich im nächsten Augenblick gepflegt in den Hintern hätte treten können.
War sie jetzt völlig bekloppt, ihm die Vorlage mit dem Schmusesänger auch noch frei Haus zu liefern?
»Oh, ehrlich?« Tatsächlich erschien ein breites, selbstgefälliges Grinsen auf Alex’ Gesicht. »Vielleicht sollte ich es damit versuchen und dir nachts, unter deinem Zimmerfenster, ein Ständchen bringen?« Er warf sich in die Brust. »Hello again«, sang er den neuesten Hit des Landsmannes mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme, »du, isch möschte disch heut noch sehn ...«
Linda stöhnte unbeherrscht und trat Alex hastig vors Schienbein, damit er die Klappe hielt. Zum Glück schien er den Wink mit der Holzhandlung verstanden zu haben, jedenfalls verstummte er schlagartig.
»Lass das!«, zischte sie dennoch hilflos und bemühte sich, den warmen, prickelnden Schauer zu ignorieren, den Alex’ Gesang in ihr ausgelöst hatte und der ihr den Rücken hinab rann. »Du
sollst gar nichts bei mir versuchen, sondern mich endlich in Ruhe lassen!«
Alexander schob trotzig die Unterlippe vor.
»Wenn ich es aber nicht lassen will? Nicht lassen kann?«, fragte er rau, was Linda eine Gänsehaut verursachte. »Du bist nicht nur das schönste Mädchen, das ich kenne, sondern auch die unglaublichste, großartigste und wundervollste Löwin, die ich je gesehen hab. Du bist etwas Besonderes, Linda, und dabei denke ich nicht an deine Herkunft. Die ist mir, ehrlich gesagt, total schnuppe. Aber, selbst wenn du deine Krallen ausfahren und mich unwiderruflich und für alle Zeit abweisen solltest, kannst du dir meiner tiefsten Bewunderung und Verehrung sicher sein.«
Unwillkürlich biss Linda die Zähne zusammen.
Shit, die Worte des Katers gingen runter wie Öl und nahmen ihr den Wind aus den Segeln. Mit einem Mal war sie sich der knisternden Anspannung bewusst, die sich zwischen ihnen auszubreiten begann. Jedenfalls durchflutete sie ein merkwürdiges Gefühl, das sie sofort in Alarmbereitschaft versetzte.
»Sag sowas nicht«, bat sie ihn und musste schlucken, weil es in ihrem Hals kratzte. »Du solltest nicht einmal daran denken, dass zwischen uns etwas laufen könnte. Das ist absolut unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich«, entgegnete Alexander fest. »Gib mir eine Chance. Ein einziges Date. Wenn du mich danach noch immer nicht willst, werde ich dich in Ruhe lassen. Versprochen.«
Linda blinzelte und musste ein Lächeln unterdrücken.
Der Löwe war offenbar so sehr von sich überzeugt, dass er die Möglichkeit, von ihr abgewiesen zu werden, nicht einmal in Betracht zu ziehen schien, sonst hätte er ihr dieses so einfach klingende Angebot sicherlich nicht unterbreitet.
Doch ganz so leicht würde sie es ihm nicht machen.
»Bevor ich überhaupt erwäge, mit dir auszugehen, musst du dich erst als würdig erweisen«, verkündete sie hoheitsvoll.
»Glaub mir, das bin ich«, entgegnete Alex ebenso selbstbewusst. »Egal, was du verlangst, ich tu es. Jedenfalls alles, außer mir die Haare abzuschneiden oder irgendeinen anderen Blödsinn in dieser Art.«
»Keine Sorge. Deine Löwenmähne ist vor mir sicher«, spottete sie gutmütig, zog dann aber die Augenbrauen zusammen und funkelte ihn herausfordernd an. »Ich möchte lediglich, dass du beim nächsten Footballspiel nicht dein Bestes gibst, sondern die schlechteste Leistung zeigst, die man je gesehen hat.«
Alex erstarrte. Sein Mund öffnete sich, als ob er etwas sagen wolle, doch dann klappte er ihn mit einem fassungslosen Brummen wieder zu.
»Hmpf.«
Linda lächelte zwar, doch innerlich feixte sie unverfroren über die total perplexe Miene des Löwen.
Ha, genau das würde Alex niemals tun. Soweit sie es mitbekommen hatte, war er nicht nur der beliebteste Junge der Schule und der Star des Footballteams, sondern auch unglaublich von sich und seinem Können eingenommen. Das Ansehen seiner Mitschüler war ihm garantiert wichtiger als alles andere.
»Aber das nächste Spiel ist das Finale am Samstag. Es geht um die Meisterschaft!«, wandte er auch nach kurzer Denkpause ein. »Da kann ich nicht schlecht spielen! Die anderen verlassen sich auf mich!«
»Umso besser, wenn es ein wichtiges Spiel ist«, erwiderte Linda hart. »Du musst dich entscheiden: Dein Stolz und dein guter Ruf – oder ein Abend mit mir, wobei du nicht einmal weißt, ob ich dich nicht hinterher zum Teufel schicke.«
Sie lächelte Alex süffisant an und setzte unbehelligt ihren Weg
zu den Umkleiden fort. In ihrem Nacken kribbelte es, was sie vermuten ließ, dass er ihr nicht nur nachsah, sondern sie bestimmt mit Blicken zu erdolchen versuchte.
Himmel, was für ein Spaß!
Das Gespräch war doch viel besser verlaufen, als anfangs vermutet. Mit einem Schlag hatte sie das Problem mit Alexander gelöst. Eine der herausstechenden Eigenschaften ihrer Spezies war es, dass vor allem die männlichen Exemplare sehr von sich eingenommen, manchmal ziemlich aufgeblasen und arrogant waren. Keine Frage, der Löwe würde eher diese blöde Idee mit dem Date vergessen und ihr künftig aus dem Weg gehen, als sich vor aller Augen eine Blöße zu geben. Da war sie sich hundertprozentig sicher.
***
In den nächsten Tagen bekam Linda Alex kaum noch zu Gesicht. Lediglich beim Mittagessen in der Mensa sah sie ihn mit seinen Freunden am Tisch sitzen, doch während die anderen gewohnt laut durcheinanderredeten und zusammen lachten, trug der Löwe eine Leidensmiene zur Schau, die ihresgleichen suchte. Eher lustlos stocherte Alex in seinem Essen herum, dann schob er den noch vollen Teller von sich und verließ frühzeitig den Mittagstisch.
»Der Alex ist heute aber echt komisch drauf«, bemerkte sogar Destiny, obwohl Linda vermutet hatte, dass die Freundin in ihr Mathematikbuch vertieft war.
»Hmm.« Sie brummte lediglich zustimmend, konnte sich aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
Oh ja, es war echt amüsant, wie sehr der Löwe mit sich zu ringen und aufgrund ihrer absurden Forderung zu leiden schien.
»Kann es sein, dass das irgendetwas mit dir zu tun hat?«, fragte Destiny wie nebenbei, obwohl sie in diesem Moment eine der Aufgaben aus dem Buch in ihr Heft übertrug.
Automatisch wollte Linda verneinen, zögerte dann jedoch. Ihre Freundschaft zu Destiny war ihr wichtig, daher wollte sie aufrichtig zu ihr sein, soweit es ihr möglich war.
»Ja, ich denke schon«, antwortete sie. »Ich hab einem Date mit ihm zugestimmt, aber nur unter der Voraussetzung, dass er morgen beim Spiel auf ganzer Linie versagt.«
Verblüfft ließ Destiny ihren Stift fallen, wandte sich ihr direkt zu und starrte sie fassungslos an.
»Du hast ... was?«, wiederholte sie ungläubig. »Er soll absichtlich gegen die Miami Pirats verlieren?«
»Nun ja. Ich hab ihn mir damit endgültig vom Hals geschafft. Das wird er doch sowieso nicht tun.«
Seltsamerweise lag ein Hauch von Bitterkeit in Lindas Stimme, den sie nicht aus unterdrücken konnte.
Verdammt, der Löwe tat ihr sogar ein bisschen leid. Hatte sie den Bogen etwa überspannt, als sie das von Alex forderte? Plötzlich war ihr nicht mehr ganz so wohl bei der Sache.
Warum hatte sie nicht einfach einem Date zugestimmt und ihm dabei in aller Ruhe klargemacht, dass sie niemals seine Freundin sein konnte? Oder sich vielleicht sogar ein wenig mit ihm amüsiert, bevor sie sich wieder trennte. So hätte Alex auf jeden Fall das Gesicht wahren können, ohne in seinem Stolz verletzt zu werden. Oh Gott, sie hatte echtes Mitgefühl mit ihm!
»Das ist voll heavy, was du von ihm verlangst«, sagte Destiny nun und sprach damit das aus, was Linda ebenfalls durch den Kopf ging. »Gehen wir zwei also morgen zum Spiel? Jetzt bin ich total neugierig, was Alexander tun wird.«
»Ja, wir schauen uns an, was passiert«, stimmte Linda bedrückt zu.
Eine Option wäre, nochmals mit Alex zu reden und ihn von dieser unsinnigen Bedingung zu entbinden – aber genau das ließ ihr eigener Stolz nicht zu.
Nein, es war ihr gutes Recht, dem Date nur dann zuzustimmen,
wenn sich der Löwe dafür richtig ins Zeug legte.
***
Am Samstag war Linda ein einziges Nervenbündel.
Die Anspannung und Vorfreude auf das Meisterschaftsendspiel waren überall in der Schule spürbar. Die Blaskapelle stimmte die Zuschauer mit einem mitreißenden Marsch darauf ein, im Gebäude hingen Fahnen, Wimpel und Banner mit motivierenden und siegessicheren Sprüchen. Die gesamte Schülerschaft war in dunkelrote Trikots oder zumindest T-Shirts in der Farbe ihres Teams gekleidet, auf dem Internatsgelände wurde der Saisonhöhepunkt, anstelle des Mittagessens, mit Hot Dogs, Hamburgern, Zuckerwatte und Cola gefeiert.
Abermals haderte sie mit sich, ob sie nicht vor dem Spiel mit Alex reden sollte, doch ausgerechnet jetzt war er nirgendwo zu sehen.
Mit eher gemischten Gefühlen ließ sich Linda auf der Tribüne des kleinen Stadions der Eden Rock auf einen der roten Plastiksitze fallen und atmete tief durch. Ihr war regelrecht schlecht vor Aufregung, in ihrem Hals steckte ein Kloß, den sie nicht einmal durch kräftiges Schlucken loswerden konnte.
Destiny hatte sich neben sie gesetzt, doch selbst die Anwesenheit der Freundin half Linda in diesem Moment nicht.
Himmel, war sie nervös!
Das Blasorchester marschierte mit Pauken und Trompeten ins Stadion ein, gefolgt von den Spielern beider Teams. Während ausgelost wurde, wer den Kick-off ausführen musste und wer als Erstes mit seiner Offense auf dem Platz war, zeigten die Cheerleader der Mannschaften ihr Können. Die Figuren, Würfe und Sprünge der beiden Gruppen waren wirklich sehenswert, doch Linda hatte nur Augen für Alexander, den sie aufgrund seiner Größe mühelos im Pulk der anderen Spieler ausfindig machen konnte.
Nein, sie war zu weit weg, um seinen Gesichtsausdruck sehen zu können, außerdem hatte er bereits seinen Helm auf, der ihr das nahezu unmöglich machte.
Allerdings hielt sie erschrocken die Luft an, als Alexander ihr den Rücken zuwandte und sie seinen Namenszug auf dem Trikot erkennen konnte.
BRUNS stand dort in großen Lettern. Verdammter Mist, sie hatte seinen Nachnamen bislang nicht mitbekommen, aber dass Alex ausgerechnet aus der Familie stammen könnte, aus der ihr zukünftiger Verlobter kommen sollte, fühlte sich an, als wollte ihr das Schicksal gepflegt eins reinwürgen.
Die Eden Rock Knights
gewannen die Auslosung, daher waren sie zunächst mit der Offense auf dem Feld. Dem laut umjubelten Kick-off der Miami Coral Reef Pirats
folgte eine sehenswerte Reihe von Spielzügen der Knights, die diesen Angriff mit einem Field Goal abschlossen und mit 3:0 in Führung gingen.
Die Stimmung auf der Tribüne konnte daher nicht besser sein, doch Linda war mittlerweile derart verkrampft, dass sie sich nicht einmal dazu bewegen konnte, Beifall zu klatschen. Nervös klemmte sie die Hände zwischen die Knie und zog die Schultern hoch.
Niemand hier außer Destiny wusste, was sie angestellt hatte. Falls Alex das wirklich durchzog, könnte dies der Mannschaft den Sieg kosten.
Dennoch wirkte es zunächst, als wäre alles in bester Ordnung.
Alex kam mit der Defense aufs Feld, um den Angriff der Pirats abzuwehren. Wie üblich nahm er seinen Platz in der Mitte ihrer Aufstellung ein, ging in die Hocke, stützte sich mit einer Faust auf den Boden. Geduldig wartete er ab, bis die Pirats den Snap ausführten und der Center den Football zu seinem Quarterback warf. Normalerweise fegte Alex in den folgenden Sekunden mindestens zwei oder drei Spieler der Offense weg und machte so seinen Mitspielern den Weg frei, damit diese den
Quarterback angreifen konnten, doch jetzt ...
Linda hielt die Luft an. Alex richtete sich nach dem Snap zwar auf, ließ sich aber von den Angreifern einfach umrennen. Eine seltsame Hitze explodierte in ihrem Magen, als sie mit anschauen musste, wie der Löwe unter den Körpern der Spieler begraben wurde. Es dauerte einige Zeit, bis die Schiedsrichter den Haufen an Männern auseinandergepflückt hatten und Alex darunter wieder zum Vorschein kam.
Er rappelte sich problemlos wieder auf, doch einen Zuruf des Trainers kommentierte er lediglich mit einem Schulterzucken, bevor er zu seiner Position zurückkehrte.
Spielzug um Spielzug der Pirats ging es in dieser Weise weiter.
Alex blieb passiv, mit stoischer Ruhe ließ er sich zu Boden werfen und wurde somit komplett aus dem Spiel genommen.
Zur Halbzeit führten die Gegner aufgrund zweier Touchdowns mit 14:3. Alex nahm den Helm ab, wischte sich Dreck und Schweiß aus dem Gesicht und trottete hinter seinen Mannschaftskameraden zurück zur Bank.
Dabei suchte sein Blick die Tribünen mit den Knights-Fans ab – und blieb genau an ihr hängen.
***
Alex kochte vor Zorn und musste mehrmals tief durchatmen, um sich zu beruhigen und seinen Helm nicht wutentbrannt in ihre Richtung zu feuern.
Da saß sie, seine Prinzessin, und schaute gnadenlos zu, wie er sich für sie zum Affen machte.
»Bruns raus, Bruns raus!«, forderten die Zuschauer im Chor.
Ihr Trainer sah nicht sehr glücklich aus, er rief Peter McGregor zu sich, der ebenfalls auf Alex’ Position spielen konnte.
»Hey, Bruns, was machst du für einen Scheiß?«, schrie Dwayne, der Runningback seines Teams, zu ihm herüber. »Wegen dir verlieren wir noch das Spiel!«
Das zustimmende Grummeln seiner Kameraden versetzte Alex einen Stich in der Brust. Fuck, es tat weh, von den anderen so schief angesehen zu werden. Kaum hatte er sich gesetzt, schob sich sein bester Freund neben ihm auf die Bank.
»Was stimmt denn heute nicht mit dir?«, raunte Kijan ihm zu. »Hast du dich verletzt?«
Alex schüttelte den Kopf, deutete aber gleich darauf ein Nicken an. Ja, er fühlte sich zutiefst in seinem Stolz verletzt, doch er würde das jetzt durchziehen. Koste es, was es wolle. Linda sollte sehen, dass er bereit war, für sie alles zu tun und alles zu opfern. Für sie hielt er, trotz der Demütigungen der Fans und der wütenden Blicke seiner Mitspieler, den Kopf erhoben und verzog keine Miene. Wie erwartet kam der Trainer nun auf sie zu und musterte ihn streng.
»Bruns, ich geb dir noch eine Chance. Beim Anpfiff der zweiten Halbzeit stehst du auf dem Feld, Aber Gnade dir Gott, wenn du nicht ab sofort deinen Arsch hochbekommst und dich endlich mal nach vorne bewegst, fliegst du runter. Ist das klar?«
»Ja, Coach«, knurrte Alex mit zusammengebissenen Zähnen.
In ihm brodelte es, er musste sich zusammenreißen, um seine Wut und seinen Frust nicht herauszubrüllen. Er wollte gerade für den Wiederanpfiff zurück aufs Spielfeld, als Kijan ihn am Unterarm packte und aufhielt.
»Alex, jetzt reiß dich zusammen«, beschwor ihn sein Freund. »Es ist noch nichts verloren, wir können noch immer gewinnen. Ich weiß nicht, was mit dir los ist – aber Brookman hat mir eben erzählt, dass ein Scout der Dolphins unter den Zuschauern sitzt! Das könnte deine große Chance sein, in die NFL zu wechseln!«
Gegen seinen Willen schnellte Alex’ Blick zur Tribüne, wanderte allerdings sofort zu Linda hinüber.
Die taffe Prinzessin hielt jedoch den Kopf gesenkt und hatte ihre Hände zwischen die Knie geklemmt, als würde sie sich ebenfalls nicht besonders wohl fühlen.
Alex schnaubte verächtlich. Vielleicht sah Linda bereits ihre Felle davonschwimmen und machte sich Gedanken, wie sie das versprochene Date absagen konnte. Eine Welle heiß glühenden Zorns stieg in ihm hoch, er ballte kurz die Fäuste und stülpte sich dann rasch den Helm über den Kopf.
Nee, Prinzessin, so hatten wir nicht gewettet!
»Ja, genau, diesen Gesichtsausdruck will ich bei dir sehen«, lobte Kijan, der natürlich nicht wissen konnte, was in ihm vorging, und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Geh jetzt da raus und hau sie alle um!«
Oh ja. Genau das würde er tun.
Wenn er schon vom Spielfeld flog, dann aber auf seine Art.
***
Erst Halbzeit.
Linda wagte es nicht einmal mehr, zum Spielfeld hinunterzuschauen. Die gnadenlosen Buh-Rufe der Knights-Fans, als Alex wieder aufs Feld ging, taten ihr in der Seele weh.
Mein Gott, was hatte sie ihm nur angetan! Wenn sie bloß wüsste, wie sie eingreifen und diese ganze Farce beenden könnte ...
Doch es war zu spät. Die Spieler hatten bereits an der Line of Scrimmage
Aufstellung genommen, der Center der Pirats übergab den Ball durch die Beine hindurch an seinen Quarterback – und in derselben Sekunde schnellte Alex nach vorn, mähte den Center um, räumte die nahestehenden Gegenspieler mittels Bodycheck oder Faustschlag aus dem Weg, und hielt genau auf den Quarterback der Pirats zu. Ungebremst walzte er ihn zu Boden, noch bevor der Mann eine Chance hatte, auszuweichen.
Das Publikum brüllte auf, die Leute schrien fassungslos durcheinander, während die Pfiffe der Schiedsrichter in Lindas empfindlichen Ohren gellten und aus allen Richtungen gelbe
Flaggen flogen, die ein Foul anzeigten.
Völlig perplex starrte Linda auf die Schneise, die Alex inmitten des gegnerischen Teams geschlagen hatte, als er wie ein Tornado über sie hinweggedonnert war. Nicht weniger als fünf Spieler der Pirats lagen auf dem Rasen, krümmten sich vor Schmerz oder bewegten sich überhaupt nicht mehr, als wären sie bewusstlos.
Der Hauptschiedsrichter besprach sich nur kurz mit seinen Kollegen, dann trat er einen Schritt nach vorn und griff an seine Seite, um sein Mikrofon zu aktivieren.
»Personal Foul, Targeting, Defense, Number 86, Alexander Bruns. Der Spieler ist out of match
«, verkündete er die Entscheidung. »Fünfzehn Yards Strafe, die Pirats haben das First Down an der 35 Yard Linie.«
Erschrocken schlug Linda die Hände vors Gesicht. Targeting
war ein übler Regelverstoß, der den umgehenden Ausschluss des Spielers nach sich zog. Alexander nahm auch sofort seinen Helm ab und trabte mit unbewegter Miene, begleitet von den Schmährufen und Pfiffen der Zuschauer, in Richtung der Umkleidekabinen des Stadions vom Feld.
Sobald er aus Lindas Sichtfeld verschwunden war, sprang sie auf.
»Ich muss zu ihm!«, rief sie Destiny noch zu und drängelte sich hastig zwischen den Sitzreihen hindurch, um zum Ausgang zu gelangen.
Hinter den Tribünen folgte sie dem schmalen Gang, der zuerst zu den Toiletten, danach aber zu den Umkleideräumen der Teams führte. In diesem Bereich des Stadions war kaum etwas zu hören, nur gedämpft und weit entfernt drang das Jubeln und Klatschen der Zuschauer hierher vor, die dem Spiel weiterhin folgten.
Vor der Tür mit dem Logo der Eden Rock Knights
hielt sie an. Von drinnen vernahm sie zunächst keinerlei Geräusche, doch
dann schepperte es gewaltig und ein saftiger Fluch ertönte.
»Verfickte Alligatorenscheiße!«, brüllte Alex so laut, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn die Tür in den Angeln beben würde.
Nochmals atmete Linda durch, doch dann nahm sie ihren Mut zusammen, straffte sich und schlüpfte in die Kabine.
Alexander stand mit dem Rücken zu ihr vor einem Spind, der eine deutliche Beule an der Tür aufwies. Offenbar hatte er soeben mit der Faust dagegen gedonnert.
Der Löwe wirbelte sofort zu ihr herum und knurrte drohend.
»Was willst du denn hier?«, blaffte er sie wütend an. »Hattest du nicht genug Spaß? Willst du mich jetzt auch noch ...«
»Verdammt noch mal, nein!«, hielt sie sofort dagegen und unterbrach ihn. »Ich will mich bei dir entschuldigen! Das habe ich nicht gewollt!«
Alex stockte zwar, starrte sie jedoch nach wie vor empört an.
»Du machst einen Rückzieher? Dann hab ich mich also umsonst zum Deppen der ganzen Schule gemacht? Na, bravo, Prinzessin. Ganz große Nummer. Das ist alles nur ein Spiel für dich gewesen, nicht wahr?«
Vor Wut verengten sich Alex’ Augen, trotzdem sah Linda, dass sich die bernsteinfarbene Iris veränderte und heller, goldener wurde, während sie sich ausbreitete und das Weiße in den Augäpfeln verdrängte. Lieber Himmel, der Löwe war kurz davor, auszurasten und vor Zorn zu platzen!
»Komm mit!«, forderte sie daher hektisch und griff nach seiner Hand.
Zu ihrer Überraschung ließ er sich von ihr mitziehen, aus der Umkleide und aus dem Stadion hinaus. Nur kurz überlegte Linda, dann schlug sie den Weg zum Bootshaus ein.
Nahe der Highschool gab es ein künstlich angelegtes Becken, in dem die Ruderer der Schule trainierten. Die schmalen Rennboote waren in einem Holzhaus untergebracht, das
direkten Zugang zum Wasser hatte und abseits der üblichen Pfade lag. Wie erwartet begegneten sie keinem Menschen, die gesamte Schülerschaft war offenbar im Stadion versammelt.
Plötzlich schob sich Alexander an ihr vorbei und knackte im Handumdrehen das Bügelschloss, indem er heftig dagegen trat und es aus seiner Verankerung riss. Besorgt schaute sich Linda um, doch keiner hatte den Einbruch beobachtet, jedenfalls war weit und breit niemand zu sehen. Rasch öffnete sie die Tür, schob Alex ins Bootshaus und folgte ihm.
Als sie die Tür hinter sich zuzog, hielt sie kurz inne, holte tief Luft und stützte sich mit beiden Händen auf ihren Oberschenkeln ab.
Herrje, sie war mit den Nerven am Ende. Ihr schnell sinkender Adrenalinspiegel brachte es allerdings mit sich, dass sie am ganzen Körper zitterte und gleichzeitig angestrengt nach Luft ringen musste.
Nur langsam beruhigte sich ihr Atem und sie sah sich neugierig um. Sie standen auf einem schmalen Steg, der längs der Hausseite entlang führte. Das Bootshaus war auf Stelzen gebaut, in der Mitte hatte es keinen Boden. Stattdessen schwappte dort das Wasser gegen die Stützpfeiler. Ein kleines Ruderboot war an einem davon vertäut und schaukelte sanft in den Wellen. An der gegenüber liegenden Wand hingen gleich vier Rennboote übereinander, in der Ecke lag ein vergammelter Rettungsring. In dem Schuppen war es dämmrig, doch ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Lichtverhältnisse.
»Geht’s wieder?«, fragte Alex plötzlich besorgt.
Linda grinste amüsiert. »Sollte ich das nicht besser dich fragen?«
Sie richtete sich auf und studierte aufmerksam seine Gesichtszüge. Nein, sein Zorn schien verflogen zu sein, er musterte sie eher abwartend.
Okay, sie wusste nur zu gut, dass sie jetzt am Zug war.
»Ich will mich bei dir entschuldigen«, beteuerte sie nochmals. »Das war gemein von mir, so etwas hätte ich dir niemals antun dürfen.«
Da er nichts erwiderte, ging sie einen Schritt auf ihn zu, griff nach seiner Rechten und umfing sie mit beiden Händen.
»Es tut mir wirklich, wirklich leid«, gab sie unumwunden zu. »Du hast allen Grund, auf mich sauer zu sein. Das hab ich nicht gewollt.«
Noch immer rührte sich Alex nicht vom Fleck, doch er senkte den Blick auf ihre Hände, bevor er sie wieder direkt anschaute. Der verletzte Ausdruck in seinen sonst so strahlenden Augen tat Linda weh, gleichzeitig spürte sie aber, wie ihr Körper auf die Nähe zu dem Löwenmann reagierte.
Ihre Haut kribbelte, Herzschlag und Puls wurden schneller und sie registrierte erstaunt, mit welcher Vehemenz alles in ihr auf Alexanders Geruch ansprang. Tief sog sie ihn ein.
Der Löwe roch himmlisch, nach einer Kombination aus süßer Mandelmilch und dem erdigen, würzigen Duft der Baobabs, der Affenbrotbäume in ihrer Heimat. Ohne nachzudenken, trat sie noch näher an ihn heran.
»Bitte, verzeih mir«, murmelte sie verlegen, hob den Kopf, stellte sich auf die Zehenspitzen – und küsste ihn sanft auf den Mund.
Ihr entging nicht, wie Alexander bei der ersten Berührung ihrer Lippen zusammenzuckte, doch dann schlang er die Arme um sie und erwiderte den Kuss.
Zuerst verhalten, dann immer stürmischer und leidenschaftlicher, bis sie entgegen der eigenen Gewohnheit nachgab und sich widerstandslos seiner Führung überließ.
Oh Gott ja, genau danach hatte sie sich insgeheim wohl gesehnt! Nach dieser vollkommenen Dominanz, die nur ein Löwe ausstrahlte, nach dem muskulösen Körper, der unter ihren Fingerspitzen vibrierte und ihr zeigte, wie sehr sich
Alex dennoch zügelte, um ihr nicht weh zu tun. Sie ließ sich gehen, wurde augenblicklich von seiner Intensität mitgerissen und wäre bestimmt ins Taumeln geraten, hätte Alex sie nicht festgehalten.
Die harte Platte des Brustpanzers, den er noch immer unter seinem Trikot trug, drückte jedoch unangenehm gegen ihre Brust, daher stöhnte sie ungeduldig und zupfte daran herum.
Urplötzlich ließ er sie los, trat einen Schritt zurück. Verlangend streckte sie die Hand nach ihm aus. Der jähe Abstand zwischen ihnen schmerzte regelrecht, doch Alex schüttelte lediglich den Kopf, als müsse er zur Vernunft kommen.
»Ich weiß nicht, ob du wieder nur mit mir spielst, Prinzessin«, sagte er mit rauer Stimme. »Nur eines weiß ich mit Sicherheit: Du bist fähig, mir das Herz zu brechen, wenn es dir nicht genauso ernst ist wie mir.«
Linda war noch ganz benommen von dem Kuss, trotzdem verursachten seine Worte umgehend ein wehmütiges Brennen in ihrer Brust, dem sie nichts entgegensetzen konnte.
»Keine Spielchen mehr«, erwiderte sie entschlossen. »Aber auch keine Prinzessin. Bitte, nenn mich nie wieder so. Vor allem bei dir will ich nichts anderes als die Löwin sein, die sich danach sehnt, um ihrer selbst willen geliebt zu werden.«
Er schaute sie zunächst nachdenklich an, doch dann zuckten seine Mundwinkel, bevor sich seine Lippen zu einem sanften Lächeln verzogen.
»Ich hab schon einmal gesagt, dass mir dein Titel und deine Herkunft nichts bedeuten. Es tut mir eher leid, dass du glaubst, ich würde deshalb nicht die stolze, eigenwillige und starke Löwin in dir erkennen, die mich jedes Mal, wenn sie ihre Zähne und Krallen zeigt, an meine Grenzen bringt. Die die Macht hat, mich zum Äußersten zu treiben. Sogar so weit, dass ich mich freiwillig vor der ganzen Schule blamiere.«
Er hielt inne, doch dann ging er auf sie zu und umfasste ihr
Gesicht mit beiden Händen.
»Linda, ich hab dich gesehen und mich sofort zu dir hingezogen gefühlt. Ich konnte nicht mehr schlafen, ohne dass du in meinen Träumen warst, kaum noch essen oder mich auf den Unterricht konzentrieren, weil ich ständig nur dich vor Augen hatte. Ich hab mich in dich verliebt, in deine goldenen Augen, die so wunderschön funkeln, wenn du wütend bist, und die dunkler werden, wenn ich dich küsse.«
Er zog sie an sich und küsste sie erneut, doch dieses Mal schob sie ihn vehement von sich.
»Okay, Katerchen«, knurrte sie vergnügt. »Nachdem wir das in Romeo und Julia
-Manier geklärt haben, die mir normalerweise nicht besonders liegt, habe ich nur noch eine Bitte an dich.«
Sie wartete ab, doch Alex reagierte sofort wie erwartet. Er hob die Augenbrauen und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
»Was soll ich denn jetzt noch tun?«, motzte er ungehalten. »Etwa meine Unterhose am Fahnenmast hissen? Sorry, Kätzchen, ich trage für gewöhnlich keine.«
»Nein.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf, trat an ihn heran und schlug ihm mit der flachen Hand gegen den Brustpanzer. »Ich möchte, dass du endlich das verdammte Ding mit den Schulterpolstern ausziehst! Echt jetzt, dieser Schildkrötenpanzer ist nicht gerade sexy.«
»Sag das doch gleich, dass ich für dich strippen soll.«
Ein Funkeln trat in Alex’ Augen, dann zog er sich das Trikot über den Kopf und entfernte die mit Gurten befestigten Polster.
Linda musste sich zusammenreißen, um ein Stöhnen zu unterdrücken.
Oh ja, sie hatte gewusst, dass der Löwe gut gebaut war – doch beim Anblick des nackten Oberkörpers blieb ihr tatsächlich fast die Spucke weg. Seine Haut war sanft gebräunt und hellblonde, feine Härchen, die sicherlich denen seines Brustfells glichen,
bedeckten hauchzart die Stelle zwischen seinen ausgeprägten Brustmuskeln. Der flache Bauch war ebenfalls sehenswert, doch ihr lief vor allem aufgrund der feinen Linie aus goldenen Haaren, die unterhalb seines Bauchnabels begann und wie eine Spur hinab zum Hosenbund führte, regelrecht das Wasser im Mund zusammen.
Linda schluckte hart, doch dann riss sie sich von dem sehenswerten Anblick los, glitt in seine bereits ausgebreiteten Arme und rieb sich mit einem Schnurren an seiner Brust.
Sofort drückte Alex sie sanft an sich und seufzte zufrieden. Im nächsten Augenblick fuhr er jedoch heftig zusammen, weil Linda an einer gewissen Stelle seines Körpers fest zupackte.
Sie kicherte leise. »Nein, kein Suspensorium. Hab ich auch nicht anders vermutet.«
***
Das kleine Ruderboot schaukelte sanft, als sich Alex in eine bequemere Position schob.
Er knurrte wohlig.
Es war himmlisch, den letzten Nachbeben ihrer Leidenschaft nachspüren zu können. Linda schnurrte, rieb ihre schweißnasse Stirn an seinem Oberarm und zog das Trikot, mit dem er sie behelfsmäßig zugedeckt hatte, enger um ihre Schultern.
Trotz des warmen Sommerwetters zitterte sie, wahrscheinlich, weil sie allmählich wieder abkühlten und vom See her ein laues Lüftchen über ihre nackte Haut strich. Automatisch nahm Alex sie fester in den Arm und sog Lindas berauschenden Duft ein.
Grundgütiger, das war mit Abstand der beste Sex seines Lebens gewesen. Seine Prinzessin ... sorry, sein Kätzchen, hatte ihm nicht nur alles abverlangt, sie hatte auch mühelos das Heft in die Hand genommen und ihn damit in ungeahnte Höhe katapultiert. Nie zuvor hatte er es zugelassen, von einem Mädchen derart angetrieben zu werden und sich gleichzeitig
zurückzunehmen, um ihr das größtmögliche Vergnügen zu schenken.
Oh ja, Linda war nicht nur temperamentvoll, sie verfügte genau wie er über ein gesundes Selbstbewusstsein und hatte ihm deutlich gezeigt, was sie mochte und wie er sie zu nehmen hatte.
Bei ihr musste er sich auch keine Sorgen machen, sie mit seiner überschäumenden Lust zu konfrontieren. Eine Löwin konnte damit umgehen, sie zog sich nicht erschreckt von ihm zurück. Im Gegenteil, sie trieb ihn immer weiter an, bis er das letzte Quäntchen der selbst auferlegten Zurückhaltung verlor und den Löwen von der Leine gelassen hatte.
Oh Mann, wäre er nicht schon vorher in Linda verliebt gewesen – spätestens jetzt hätte es ihn erwischt.
Seine Löwin kuschelte sich enger an ihn und küsste seine Schulter, trotzdem kam es Alex so vor, als würde sie über etwas grübeln. Jedenfalls war sie ungewohnt still.
»An was denkst du?«, flüsterte er daher und versuchte, sich so zu drehen, dass er sie anschauen konnte.
Tatsächlich hatte sie die Augen geschlossen und ihr Gesicht verzog sich, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.
»An die Zukunft«, gab sie dann wahrheitsgemäß zu und stöhnte seltsamerweise ungehalten.
»Was ist daran schlimm?«, fragte er entspannt.
Linda setzte sich auf und schaute zu ihm hinunter.
»Alex, ich muss dir etwas sagen«, begann sie ernst und deutete auf das Trikot, das ihr um die nackten Schultern hing. »Ich wusste bis vorhin nicht einmal, dass du mit Nachnamen Bruns heißt.«
Er nickte lediglich langsam, weil er ahnte, dass dies noch nicht alles gewesen war.
»Weißt du«, fuhr sie auch bedrückt fort, »am kenianischen Hof ist es üblich, dass die Prinzessinnen sich ihren Ehemann nicht selbst aussuchen, sondern jemandem versprochen werden.
Manchmal lange, bevor sie überhaupt erwachsen sind, und meistens jemandem, den sie nicht einmal kennen. Das ist die Politik meines Vaters, um Bündnisse zu schließen und seine Macht zu stärken.«
Alex spürte, wie ihm sämtliches Blut aus dem Gesicht wich und er blass wurde. Sein Verstand hatte kein Problem damit, ihrer Erklärung zu folgen, doch gefühlsmäßig war er plötzlich wie erstarrt.
»Wem bist du versprochen?«, fragte er mit rauer Stimme.
Vollkommen unerwartet traten Tränen in die Augen seiner taffen Löwin, doch sie schluckte und wich schnell seinem forschenden Blick aus.
Intuitiv setzte sich Alex ebenfalls auf, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und zwang sie, ihm wieder in die Augen zu schauen. Gleichzeitig musste er mit aller Macht ein frustriertes Brüllen unterdrücken, das in ihm aufstieg und mit dem er seinen vermeintlichen Anspruch kundtun wollte.
Nein, verdammt, das konnte nicht wahr sein!
Sie hatten sich gerade erst gefunden, und jetzt sollte er sie so schnell schon wieder verlieren?
Weil sie einen anderen heiraten sollte?
Großer Gott, alles, nur das nicht!
»Samuel Bruns«, antwortete sie nach kurzem Zögern.
Überrascht und völlig außer sich machte sich Alex von ihr los und sprang auf. Das kleine Boot schwankte bedenklich, doch er glich es umgehend aus, indem er sich breitbeinig vor Linda aufbaute.
»Mein Bruder?«, brüllte er fassungslos.
Nein, das konnte nicht wahr sein! Nicht Sam! Ausgerechnet ...
»Das kann nicht sein«, sprach er leise aus, was ihm durch den Kopf ging und sich fortwährend wiederholte.
Lindas schmerzverzerrtes Gesicht und ihre Tränen ließen jedoch keinen Zweifel zu. Ihr zuliebe fuhr er wieder ein wenig
herunter und strich sich durch die zerzausten Haare.
»Sam wurde von Dad verbannt, da war ich erst acht Jahre alt«, erklärte er dann. »Er ist irgendwohin abgehauen, ich hab ihn seitdem nicht mehr gesehen.«
»Das wird mir nichts nützen« Linda lachte spöttisch. »Wo er auch ist, die Chance wird er sich nicht entgehen lassen, falls er klar bei Verstand ist. Ich weiß nur, dass ich vor etlichen Jahren deinem Bruder Matthew versprochen wurde, aber der ist ...«
Sie unterbrach sich abrupt.
Alex seufzte.
»Matt ist tot«, ergänzte er. »Sam hat ihn umgebracht. Deshalb ist er damals von Zuhause abgehauen.« Seine Prinzessin sah ungläubig zu ihm auf, daher fügte er erklärend hinzu: »Matt wurde in einer unserer Kupferminen verschüttet und man sagte, dass mein anderer Bruder Sam den Erdrutsch absichtlich verursacht hätte. Man hat mir nie verraten, weshalb ausgerechnet Sam das getan haben soll. Ich war noch ein Kind, aber ich wusste immer, dass er uns alle liebte, auch unseren großen Bruder Matthew. Für mich war es klar, dass es nur ein Unfall gewesen sein konnte. Selbst wenn das etwas mit dir zu tun gehabt haben sollte, könnte ich nie glauben oder gar verstehen, dass Sam das absichtlich getan hat, um Matt aus den Weg zu räumen.«
Linda schnaubte unglücklich.
»Wie auch immer und mit wem ich auch verheiratet werde – ich werde niemals frei sein und über mich selbst bestimmen dürfen.«
»Herrgott, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!«, regte sich Alex auf.
Nein, verdammt, es musste eine Lösung geben! Kampflos würde er Linda nicht aufgeben. Niemals!
»Das sag ich ebenfalls immer. Ohne Erfolg.«
Mittlerweile liefen Linda die Tränen übers Gesicht, doch ihre
Stimme klang nüchtern und sie schluchzte auch nicht. Keine Frage, sie war eine starke Persönlichkeit, aber hatte sie nie in Erwägung gezogen, sich gegen ihren Vater aufzulehnen?
»Hör auf zu weinen.« Alex gab sich einen Ruck, kniete sich vorsichtig vor ihr hin, damit das Boot nicht kenterte, und umrahmte ihr tränennasses Gesicht mit den Händen. Mit den Daumen wischte er die feuchten Spuren auf ihren Wangen weg. »Ich kann das nicht zulassen. Wir werden einen Weg finden. Allerdings muss ich vorher etwas wissen.«
»Was denn?«, fragte Linda, weil er nicht weiterredete.
»Liebst du mich?« Alex sah sie hoffnungsvoll an. »Denn wenn du dich genauso in mich verliebt hast, wie ich mich in dich, dann kann uns nichts und niemand trennen. Dann werde ich Himmel und Hölle gleichzeitig bekämpfen, wenn es sein muss, um an deiner Seite sein zu können.«
Er stockte, weil sie ihn mit offen stehendem Mund musterte, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Linda, ich liebe dich«, bekräftigte er daher.
Sein Herz zog sich zuerst schmerzhaft zusammen, doch dann weitete es sich und quoll über vor Gefühlen, weil er ein Leuchten in ihren goldenen Augen und ein liebevolles, weiches Lächeln in ihren Mundwinkeln entdeckte.
»Ich kann nicht anders. Vom ersten Augenblick an hast du mich angezogen und spätestens, als du mir die Milch übers Shirt gekippt hast, war mir klar: Das ist meine Löwin. Mit ihr will ich durch alle Höhen und Tiefen gehen und ihr zur Seite stehen, nicht nur heute, sondern für alle Zeiten.«
Er verstummte und wartete mit klopfendem Herzen, ob sie seine Liebeserklärung annehmen oder ihn auf der Stelle zum Teufel wünschen würde. Rein realistisch betrachtet schätzte er seine Chancen auf 50 Prozent.
Linda straffte sich jedoch und legte ihrerseits die Hände auf seine Schultern.
»Alex, ich liebe dich auch«, erwiderte sie leise. »Glaub mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich meinen Vater umstimmen könnte, doch das wird nicht möglich sein. Er lässt niemals einen Plan sausen oder ändert seine Meinung.« Sie legte den Kopf schief und sah ihm fest in die Augen. »Die einzige Möglichkeit wäre, alles hinter sich zu lassen und von der Bildfläche zu verschwinden. Vielleicht nicht für immer, aber jedenfalls solange mein Vater noch lebt.«
Alex nickte zögerlich.
Das klang sehr abenteuerlich, doch ein anderer Ausweg fiel ihm ebenfalls nicht ein.
»Könntest du das überhaupt?«, schickte Linda nun hinterher. »Deine Familie verlassen, von hier fortgehen und deine Heimat endgültig und unwiderruflich aufgeben, nur, um mit mir zusammen sein zu können?«
Wohlüberlegt ließ Alex zwei Sekunden verstreichen, in denen er in sich ging und ihre Frage für sich beantwortete, obwohl ihm von vornherein klar war, wie er sich entscheiden würde.
»Natürlich kann ich das. Für dich würde ich alles tun«, erklärte er fest. »Das und noch viel mehr.«
Seine Löwin kniff die Augen zusammen, schlang die Arme um seinen Nacken und lehnte sich mit einem Stöhnen an ihn.
»Ich will nur nicht, dass du das eines Tages bereust.«
Lächelnd schüttelte er den Kopf und schloss die Arme fest um sie.
»Glaub mir, das wird nicht der Fall sein.«
»Sagte das Nilpferd und trat dem Krokodil auf den Schwanz«, fügte sie ironisch an.
»Das Krokodil wird es niemals wagen, das Nilpferd zu beißen, weil es sonst von ihm plattgewalzt wird«, entgegnete er lachend.
Seine Löwin grummelte zwar noch irgendetwas in sich hinein, aber für Alex war das Thema erledigt.
Ja, sie würden direkt nach ihrem Abschluss die Schule
verlassen und irgendwo untertauchen müssen, damit sie niemand aufspüren konnte. Vielleicht in Europa, mal sehen.
Er kannte diesen Kontinent noch nicht, aber er schien ihm weit genug von Kenia, Südafrika und all ihren Problemen entfernt zu sein.
Okay, es war schade, dass er auch seine eigenen Eltern so schnell nicht wiedersehen würde – doch die hatten seit Matts Tod eher mit sich selbst zu tun gehabt, als dass sie ihm je viel Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Vielmehr hatte Temja, seine Nanny, ihn großgezogen. Ihr würde er auf irgendeinem Weg eine Nachricht zukommen lassen und sein Verschwinden erklären – aber seine Eltern würden es vielleicht nicht einmal merken, wenn er sich nicht mehr meldete.
»Wir werden uns unsere eigene Zukunft aufbauen«, versprach er. Eher sich selbst als Linda.
Also, wenn er einmal Kinder haben sollte, dann würde er ihnen garantiert nicht vorschreiben, mit wem sie sich einlassen oder in wen sie sich eines Tages verlieben sollten.
Niemals.
***
Vier Monate später
»Verdammte Scheiße!«
Alex warf fluchend den winzigen Inbusschlüssel in die Ecke, der angeblich das einzige Werkzeug war, das man brauchte, um diese verflixte Furzkiste aufzubauen.
Eigentlich war er handwerklich nicht unbegabt, aber die vorgefertigten Holzteile weigerten sich, in irgendeiner Weise zusammenzufinden, die auch nur annähernd an ein ordentliches, stabiles Bett erinnerte.
»Was ist?« Linda trat zu ihm und betrachtete sein Werk kritisch. »Sieht doch schon ganz gut aus.«
»Ist es aber nicht«, knurrte Alex angefressen. »Ich habe keine Schrauben mehr, um das Kopfteil am Rahmen zu befestigen.«
»Hast du schon in die Anleitung nachgesehen?« Linda schaute sich suchend um und fischte die Bauanweisung aus dem Karton, die noch in Folie eingeschweißt war. Sie feixte schamlos. »Natürlich hast du das nicht.«
»Ich brauch keine Anleitung, um ein simples Bett aufzubauen«, knurrte er angefressen.
Lachend schlang Linda ihm die Arme um den Hals und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange.
»Dann schlafen wir eben auf dem Boden«, sagte sie locker.
In Alex’ Ohren hörte sich das zwar sehr verheißungsvoll an, doch das würde er nie und nimmer zulassen.
Seine Prinzessin verdiente nicht nur das gemütlichste Bett, sondern auch das schönste Zimmer in diesem abgewrackten Studentenwohnheim, das sie sich allerdings nur dann leisten konnten, wenn sie beide nebenher noch arbeiten gingen.
Ihr Flug nach Frankfurt war saumäßig teuer gewesen und hatte ein tiefes Loch in seine Ersparnisse gerissen.
Viel wichtiger aber war es, dass sie hier eine Möglichkeit gefunden hatten, auf der Basis ihrer bisherigen schulischen Bildung das deutsche Abitur abzulegen, um an der renommierten Universität in Mannheim ein Studium aufzunehmen. Alexander hatte sich für Wirtschaftswissenschaften entschieden, Linda dagegen für Politik.
Er runzelte die Stirn und schaute sich in dem winzigen Ein-Zimmer-Appartement um.
Nach einem Heim sah es noch nicht aus, aber er würde alles geben, damit Linda sich hier wohlfühlte. Zwar beklagte sie sich nicht, dass sie knapp bei Kasse waren, doch Alex ging es gewaltig gegen den Strich, dass er ihr das antun musste. Bestimmt hatte sie noch nie in einer derart erbärmlichen Behausung leben
müssen.
»Nein, ich bekomm das schon irgendwie hin«, brummte er verärgert und rutschte auf den Knien in die Zimmerecke, um den weggeworfenen Inbus zu suchen.
»Warte, ich helf dir«, bot Linda an.
Sie ging in die Hocke, um den bereits fertig zusammengebauten Bettrahmen zu betrachten.
»Hier stimmt etwas nicht. Du hast die Schrauben fürs Kopfteil verwendet, um die Rahmenteile aneinander zu fügen. Die sind aber viel zu lang, die stehen hier über.«
Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo der überlange Gewindestift mit der Spitze aus dem Brett hervorschaute.
»Kann sein. Ich mach die aber nicht wieder ab«, knurrte Alex aufgebracht.
»Müssen wir aber«, wandte Linda sofort ein.
»Nein, das müssen wir nicht! Das geht auch anders!«
»Ach ja? Wie denn, bitte schön? Außerdem würde die Matratze an der spitzen Schraube kaputt gehen, hast du da mal dran gedacht?«
Linda nahm ihm den Inbus ab und begann in aller Ruhe, die falschen Schrauben aus dem Brett herauszudrehen.
»Hey, lass die drin!«, fauchte er augenblicklich und griff nach ihrem Handgelenk, um sie davon abzuhalten.
Zwar ließ Linda den Inbusschlüssel sofort los, doch dann stürzte sie sich blitzschnell auf ihn und rang ihn zu Boden.
Alex knurrte entrüstet, setzte sich zur Wehr und schüttelte sie ab, aber seine Prinzessin war schneller. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, war sie erneut über ihm, warf ihn um und pinnte seine Handgelenke rechts und links von ihm auf den weichen Teppichboden. Sie fauchte angriffslustig und zeigte Alex dabei unerschrocken die Zähne, woraufhin ihm ein prickelnder Schauer über den Rücken lief.
Oh Mann, Linda war eine Wucht, wenn sie wütend wurde.
Manchmal konnte er es sich nicht verkneifen, sie absichtlich zu reizen und zu ärgern, damit sie ausrastete. Allein, um das wundervolle Funkeln in ihren Augen zu sehen, in ihnen zu versinken und dann alle Probleme und Sorgen auf einen Schlag zu vergessen. Außerdem war der Versöhnungssex danach der heißeste und leidenschaftlichste Sex, den er je gehabt hatte.
Vielleicht war das der Grund, weshalb sie so häufig miteinander stritten – aber sie schienen es beide zu genießen, den anderen in den Wahnsinn zu treiben oder in kleine Reibereien und Streitigkeiten zu verwickeln.
Für einen wilden Löwen war das völlig normal, wahrscheinlich fühlte es sich deshalb so gut an. Jedenfalls führten sie eine ziemlich unkonventionelle, dafür aber sehr glückliche, befriedigende und äußerst innige Beziehung.
Wenn es nach ihm ging, würde es zwischen ihnen nie anders sein.
***
Fünf Jahre später.
17. August 1980
»Kätzchen, bist du zu Hause?«, rief Alexander gut gelaunt, sobald er die Tür zu ihrem kleinen Häuschen nahe Heidelberg aufschloss.
Eigentlich war das eine blöde und eher rhetorisch gemeinte Frage, denn er konnte seine hochschwangere Frau nicht nur riechen, sondern auch ihre Anwesenheit spüren.
Geschickt jonglierte er die sperrige Kiste mit den Einkäufen um den Kinderwagen herum, der noch unbenutzt im Flur stand, und brachte sie in die Küche.
Seit er nach dem Studium den Job bei einer Immobilienfirma angetreten hatte, hatte sich einiges in ihrem Leben verändert.
Sie hatten sich nicht nur ihr erstes Haus kaufen können,
sondern waren inzwischen auch verheiratet. Ihm hatte nicht viel daran gelegen, ihre Beziehung mit dem Trauschein des Standesamtes zu krönen, doch Linda war es wichtig, dass ihr erstes Kind ehelich zur Welt kommen würde.
Seit Alex wusste, dass er Vater werden würde, galt Linda und ihrem ungeborenen Baby seine gesamte Aufmerksamkeit. Er trug seine Löwin auf Händen, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und ertrug ihre hormonell bedingten Ausraster und schnell wechselnden Launen, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Alex!«
Lindas gequält klingender Ruf alarmierte ihn auf der Stelle, er ließ alles stehen und liegen und stürmte ins Wohnzimmer. Seine Prinzessin hing in dem gemütlichen Ohrensessel und hielt sich mit beiden Händen den unteren Rücken.
»Die Wehen haben eingesetzt«, informierte sie ihn sachlich, allerdings mit gepresster Stimme.
»Wie sind die Abstände?«, fragte er knapp.
»Alle zwei Minuten«, brachte Linda hervor und stöhnte schmerzerfüllt. »Scheiße, das Kind ist zu groß! Das bekomm ich auf normalem Weg nie heraus!«
»Ist es nicht«, versuchte Alex sofort, sie zu beruhigen, und griff nach dem Telefon. »Für einen Löwen ist es mit neun Pfund völlig normal gewachsen. Und sei froh, dass es keine Zwillinge sind.«
»Danke, du Blödmann, das hilft mir jetzt auch nicht weiter!«, fauchte sie ihn völlig grundlos an und hechelte, um der nächsten Wehe standhalten zu können.
Hastig drückte er die Kurzwahltaste, auf der er bereits vor Wochen die Nummer seines guten Freundes Salvatore Bernasconi hinterlegt hatte.
Der junge Schweizer war ein europäischer Rotfuchs, der in Heidelberg Medizin studierte und ihm versprochen hatte, bei der Entbindung zu helfen. Das nächste Krankenhaus, das auf
Wandler eingerichtet war, befand sich in der Nähe von Salzburg und war damit viel zu weit entfernt.
»Es ist soweit«, informierte er den Freund grußlos, als sich dieser umgehend meldete.
»Abstände?«, fragte Salvatore lediglich.
»Alle zwei Minuten.« Alex drehte sich mit dem Hörer am Ohr zu Linda um, weil sie in diesem Moment ein merkwürdiges Geräusch von sich gab. Den Grund hierfür hatte er allerdings bereits riechen können. »Eben ist die Fruchtblase geplatzt!«
»Nicht bewegen, auf keinen Fall aufstehen«, stieß Salvatore hastig hervor, »ich bin in zehn Minuten bei euch.«
»Beeil dich!«, rief Alex gehetzt, dann warf er den Hörer auf die Gabel und eilte zu Linda, deren schmerzverzerrtes Gesicht rot angelaufen war.
Vorsichtig nahm er sie auf die Arme und trug sie hinauf in ihr Bett, damit sie es bequemer hatte.
Kaum hatte er sie darauf abgelegt, griff sie nach seiner Hand und umklammerte sie so kräftig, dass Alex meinte, seine Knochen knacken zu hören.
»Uuuuhaaaahhh«, brüllte sie und verkrampfte sich, als die nächste Wehe über sie hinweg rollte.
»Atmen, Schatz, atmen«, riet er ihr und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten.
»Was meinst du Knallkopf denn, was ich hier die ganze Zeit ... aaah, Scheiße!«, schnauzte Linda ihn an, wurde aber von der nächsten Wehe unterbrochen.
Hektisch machte sich Alexander von ihr los und spurtete ins Bad, um die bereitgelegten Handtücher und eine Schüssel Wasser zu holen.
In diesem Moment hörte er einen Wagen vorm Haus vorfahren und atmete erleichtert auf, als Salvatore ohne zu klingeln eintrat und mit seinem Arztkoffer in der Hand die Treppen zu ihnen hinauf hechtete.
»Okay, kann losgehen. Das Bußgeld wegen der überfahrenen roten Ampel und der Geschwindigkeitsüberschreitung bezahlst du aber«, brachte der junge Fuchs aufgeregt heraus, klopfte Alex im Vorbeigehen auf die Schulter und wandte sich sofort Linda zu, die ihn schweratmend und schweißgebadet erwartete.
»Alles wird gut«, versuchte Salvatore, sie zu beruhigen.
Mit geübten Handgriffen tastete er über ihren Bauch, hörte den Herzschlag des Babys und seiner Mutter ab und warf Linda ein schüchternes Lächeln zu.
»Dem Kind geht’s gut. Der kleine Racker will jetzt aber mit aller Macht auf die Welt kommen und sich so schnell wie möglich da durchboxen«, scherzte er.
»Glaub mir, so fühlt es sich auch an«, gab Linda matt zurück.
»Der Muttermund ist komplett offen, bei der nächste Wehe kannst du pressen«, erklärte Salvatore.
Alex fuhr erschrocken zusammen, dann ließ er sich auf dem Bettrand nieder und griff nach Lindas Hand.
Jetzt schon? Himmel, das ging alles so schnell!
Tatsächlich holte seine Löwin tief Luft, schloss die vor Anstrengung flatternden Lider und ...
Erst, als ein seltsames Geräusch und Lindas erleichtertes Stöhnen erklang, öffnete Alex seine Augen wieder und wunderte sich gleichzeitig, dass er sie überhaupt geschlossen hatte. Anscheinend hatte er es seiner Liebsten automatisch nachgemacht.
Salvatore hob gerade vorsichtig das Neugeborene hoch und legte es sanft auf Lindas Bauch ab. Zunächst stieß das Kleine ein winziges Meckern aus, dann holte es Luft und brüllte lautstark los, um wenige Sekunden später innezuhalten und mit dem Mund nach der Milchquelle zu suchen.
Ein typisches Löwenjunges.
Linda rang noch immer nach Luft, doch sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Hallo, mein Kleiner«, begrüßte sie ihren Sprössling liebevoll.
»Glückwunsch, ihr beiden. Es ist ein gesunder Junge«, verkündete nun der Rotfuchs stolz und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn.
»Ein Stammhalter«, flüsterte Linda ergriffen und strahlte Alex glückselig an.
»Ich hätte mich genauso über eine kleine Prinzessin gefreut«, versicherte er ihr sofort und beugte sich zum Baby hinunter, um es sanft auf den noch feuchten Kopf zu küssen. »Hallo, mein Sohn. Ich bin dein Daddy.«
Linda stieß ein prustendes Lachen aus, das allerdings ziemlich erschöpft klang.
»Denk an unsere Abmachung, Daddy«, flachste sie. »Ich suche den Rufnamen aus, du den Zweitnamen.«
Alex konnte sich ein klitzekleines Grummeln nicht verkneifen.
Ja, sie hatten ausgelost und er hatte verloren. Bei allen Kindern, die sie beide zusammen haben würden, hatte seine Löwin bei der Namensgebung den Vorrang.
»Nun sag schon: Wie soll er denn heißen?«, fragte er ungeduldig.
Linda hatte aus ihren Überlegungen ein großes Geheimnis gemacht, dagegen war ihm klar, dass sein erster Sohn seinen Namen tragen würde: Alexander.
So war es in ihrer Familie Brauch und daran würde sich auch nichts ändern.
»Tajo«, erwiderte seine Löwin und strich ihrem Sohn zärtlich über den Kopf.
»Bitte – wie?«, fragte Alex erstaunt.
»Tajo«, wiederholte Linda geduldig. »Das ist ein nigerianischer Vorname und bedeutet so viel wie geboren zum Glücklichsein
.«
»Willkommen in unserem Rudel, Tajo Alexander Bruns.« Alex grinste breit. »Der Name passt zu ihm.«
Er beugte sich nochmals zu seinem Sohn hinunter.
»Und dein alter Dad wird dafür sorgen, dass du alles hast, was du zum Glücklichsein brauchst. Wir werden auf alle Fälle viel Spaß zusammen haben«, versprach er Tajo feierlich. »Daddy wird dir alles zeigen, was man als Löwe wissen und können muss.«
»Und wenn es dein Daddy mal wieder übertreibt ... nun ja, du wirst dich schon zu wehren wissen«, setzte Linda amüsiert hinzu. »Das bringe ich dir bei.«
Das Neugeborene sah seinen Vater aus den dunkelblauen Babyaugen aufmerksam an und stieß ein leises, kehliges Geräusch aus.
Alex hob verblüfft die Augenbrauen, doch dann lachte er ausgelassen.
»Hast du das gehört? Er knurrt mich schon an!«
KEIN ENDE
Denn damit hat alles angefangen ...