Cardenia Wu-Patrick erwachte eine halbe Stunde vor dem eingestellten Wecksignal, weil Marce, ihr Geliebter, ein Schnarcher war. Normalerweise konnte Cardenia das ausfiltern, weil es ein Hintergrundrauschen war, von dem ihr Gehirn wusste, dass es ignoriert werden konnte. Doch während der letzten paar Tage hatte Marce mit einer Erkältung zu kämpfen, weshalb sein Schnarchen gleichzeitig lauter und unberechenbarer war. Als Cardenia davon geweckt wurde, klang Marce, als würden zwei Höhlenmenschen ein sehr eindringliches Gespräch über die Entdeckung des Feuers oder die Jagd auf einen wilden Eber führen oder etwas in dieser Art.
Cardenia machte das nichts aus. Sie fand es liebenswert. Ihre Beziehung war noch in einem frühen Stadium, so dass sie ihre Fehler eher als liebenswert betrachteten, statt sich darüber zu ärgern. Zumindest fand Cardenia Marces Fehler liebenswert, und Marce war entweder zu höflich oder zu besonnen, um irgendetwas über ihre zu sagen. Cardenia fragte sich müßig, ob sie jemals den Punkt erreichen würden, an dem Fehler nicht mehr liebenswert waren, und ob sie sein Schnarchen dann nicht mehr amüsiert dulden, sondern versuchen würde, ihn mit einem Kissen zu ersticken. Sie hatte noch nie eine Beziehung gehabt, die so lange angehalten hatte. Sie stellte sich vor, dass sie selbst dann, wenn sie ihren Geliebten erstickte, erfreut wäre, dass sie es geschafft hatten, überhaupt so weit zu kommen.
Einstweilen lag sie da, einen Arm um Marces Brustkorb drapiert, während das Gespräch zwischen den beiden Höhlenmenschen zu einem Abschluss kam und die Beteiligten abmarschierten, vielleicht um sich auf die Suche nach einem Mastodon zu begeben. Marce beruhigte sich, bis er wieder auf seinem üblichen leichten Schnarchpegel war. Cardenia strich ihm vorsichtig mit den Fingern über die Brust, nicht zu zart, um ihn nicht zu kitzeln, aber auch nicht zu fest, um ihn nicht zu wecken, und nicht zum ersten Mal staunte sie darüber, dass sie beide tatsächlich zusammengefunden hatten. Es war aus mehreren Gründen unwahrscheinlich gewesen. Und doch war es so.
Sie blieb noch für ein paar Minuten im Bett, ruhte im Grenzbereich zwischen Dösen und Wachen und genoss die Wärme, die von Marce auf sie ausstrahlte. Doch fünf Minuten, bevor das Signal sie beide wecken würde, seufzte sie, murrte leicht und glitt aus dem Bett, darauf bedacht, ihren Geliebten nicht zu stören. Die Pantoffeln und der Morgenmantel lagen dort, wo sie beides am Vorabend hingelegt hatte, und nun zog sie sich an und flüsterte der Uhr zu, auf das Wecksignal zu verzichten. Sie musste sich an die Arbeit machen, aber es gab keinen Grund, warum Marce nicht ausschlafen sollte. Vielleicht würden sich die Höhlenmenschen zu einer weiteren Besprechung zusammenfinden.
Cardenia duschte, trocknete sich ab, bändigte ihr Haar mit einer Bürste und zog in ihrem Ankleidezimmer Unterwäsche und einen Hausmantel an. An diesem Punkt hatte sie zwei Möglichkeiten. Die eine bestand darin, durch eine Tür unmittelbar links von ihr zu treten, hinter der ihre Garderobe, ihr Frisier- und Schminkpersonal sowie ihre Morgensekretärin Nera Chernin warteten. Chernin würde mit ihr den Tagesplan durchgehen, der sich von dem Moment, wo sie das Schminkzimmer verließ, bis zu einem noch unbestimmbaren Zeitpunkt ungefähr zwölf bis fünfzehn Stunden in der Zukunft oder möglicherweise noch später erstreckte.
Die zweite Möglichkeit war, durch eine ganz andere Tür zu treten und ein Gespräch mit den Personen zu führen, die sich dahinter befanden. Diese zweite Tür würde sie nicht davor bewahren, sich mit Chernin und all ihren sonstigen Lakaien auseinanderzusetzen, sondern das Unvermeidliche nur so lange hinauszögern, wie sie dort zu verweilen gedachte.
Auf jeden Fall würde es nichts an der Tatsache ändern, dass sie durch das Überschreiten einer Türschwelle aufhörte, Cardenia Wu-Patrick zu sein, und zu Grayland II. wurde, Imperatox des Heiligen Imperiums der Interdependenten Staaten und der Merkantilen Gilden, Königin von Nabe und der Assoziierten Nationen, Oberhaupt der Interdependenten Kirche, Nachfolgerin der Erde und Mutter von Allem, die achtundachtzigste Imperatox des Hauses Wu.
Cardenia blickte abwechselnd auf beide Türen, seufzte und ging dann zur zweiten, die sich ohne ihr Dazutun für sie öffnete. Grayland II. trat hindurch.
Der Raum, in dem sich Grayland nun befand, war groß und karg eingerichtet, so dass er fast leer wirkte. Nur eine lange Bank, die in die Wand eingearbeitet war, bot eine Abwechslung von den klaren und beinahe antiseptischen Linien des Raumes. Der Raum war vielleicht gar nicht dazu gedacht, länger darin zu verweilen. Dennoch setzte sich Grayland auf die Bank, machte es sich dort so bequem wie möglich und rief den Hauptbewohner des Raums auf.
»Jiyi«, sagte Grayland.
Verborgene Projektoren schalteten sich ein, und in der Mitte des Raumes erschien ein geschlechtsloses humanoides Wesen. Es sah Grayland an, ging zu ihr hinüber und nickte.
»Imperatox Grayland II.«, sagte Jiyi wie jedes Mal. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Grayland betrachtete die Gestalt, die vor ihr stand. Dieser Raum wurde als Gedächtnisraum bezeichnet. Darin befanden sich die Gedanken und Emotionen sämtlicher bisherigen Imperatoxe, bis zur allerersten, der Prophetin-Imperatox Rachela I., aufgezeichnet von einem neuralen Netzwerk, das jedem und jeder Imperatox, Grayland eingeschlossen, ins Gehirn eingepflanzt wurde. Jiyi war das Interface, das jeder lebende Imperatox benutzte, um seine Vorgänger aufzurufen. Dazu musste man nur darum bitten, jemanden zu sehen, worauf Jiyi diese Person hervorholte, jeweils nur eine oder mehrere, so viele, wie der oder die lebende Imperatox zu sprechen wünschte.
Alle bisherigen Imperatoxe bis auf eine hatten gedacht, dass sich Jiyis Aufgaben damit erschöpften – ein Interface für die anderen Imperatoxe, ausgestattet mit einer elementaren KI, um weitere allgemeine Informationen zu verarbeiten. Grayland hatte jedoch vor kurzem erfahren, dass Rachela I., die erste Imperatox, Jiyi mit noch einer ganz anderen Funktion ausgestattet hatte: die Suche nach verborgenen Informationen innerhalb der Interdependenz.
Diese Aufgabe erfüllte Jiyi weder schnell noch effizient – es konnte Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis bestimmte versteckte Informationen in Jiyis Datenbanken gelangten –, doch was Jiyi an Tempo und Geschick mangelte, machte das Wesen durch Beharrlichkeit wett. Früher oder später wurde Jiyi jedes verborgene Wissen offenbart.
Und nun auch Grayland, da sie davon wusste.
»Deran Wu ist jetzt seit zwölf Stunden tot«, sagte Grayland zu Jiyi. »Weißt du schon, wer es getan hat?«
»Nein«, sagte Jiyi.
»Hast du irgendetwas herausgefunden, das auf einen möglichen Täter hindeutet?«
»Nachdem der Mord an ihm bekannt wurde, kam es zu einem starken Anstieg der Kommunikation zwischen hochrangigen Mitgliedern bedeutender Adels- und Handelshäuser«, sagte Jiyi. »Diese Nachrichten waren allesamt verschlüsselt, wie es bei dieser Kommunikation allgemein üblich ist. Ich werde etwas Zeit benötigen, um sie entweder durch Entschlüsselung oder andere Mittel zugänglich zu machen.«
»Definiere, was ›andere Mittel‹ in diesem Zusammenhang bedeutet.«
»Falls ich brachiale Entschlüsselungsmethoden einsetzen muss, könnte es Jahrzehnte dauern. Das ist für gewöhnlich nicht notwendig, da es andere Wege gibt, um an die Informationen zu gelangen, zum Beispiel über Sicherheitskameras, die einen Bildschirm mit den betreffenden Informationen zeigen.«
»Du liest mit, indem du den Leuten über die Schulter schaust«, sinnierte Grayland.
»Ja«, bestätigte Jiyi. »Derzeit deutet keine der gesicherten Nachrichten, die ich gesehen habe, auf genauere Kenntnisse über das Vorgefallene hin, von der Kommunikation der Augenzeugen abgesehen.«
»Und niemand hat irgendetwas geschrieben, dass jetzt eine vertragliche Restzahlung erfolgt.«
»Nein.«
Grayland verzog das Gesicht. »Weil es nämlich mein Leben erheblich einfacher machen würde, wenn du all das heute herausfinden würdest.«
»Ich verstehe«, sagte Jiyi, und Grayland fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Jiyi es wirklich verstand. Jiyi war im Übrigen genauso eklatant ausdruckslos konstruiert wie der Gedächtnisraum.
»Hast du sonst irgendwelche neuen Informationen, von denen ich wissen sollte?«
»Bezüglich Deran Wus Ermordung oder in allgemeinerer Hinsicht?«
»Beides.«
»Keine weiteren Informationen über Deran Wu. Allgemein haben mehrere Adelshäuser im Geheimen begonnen, einen Teil ihres Vermögens nach Ende zu transferieren, und sie planen, wichtige Angehörige ihrer Häuser folgen zu lassen.«
Dazu nickte Grayland II. Sie brauchte keine jahrtausendealte künstliche Intelligenz, die Geheimnisse ausschnüffelte, um ihr zu sagen, dass es endlich in den Köpfen der Adelsfamilien und der von ihnen geleiteten Handelsgilden angekommen war, dass die Ströme tatsächlich kollabierten und sie vielleicht zumindest einen Teil ihrer Vermögenswerte retten und zum einzigen Ort in der Interdependenz schicken sollten, der theoretisch das Potenzial hatte, länger als bestenfalls einige Jahrzehnte zu überleben. Sie hatte genügend zuverlässige Sicherheits- und Finanzberichte gesehen, die genau das andeuteten und mit denen sie heute einige Stunden lang beschäftigt sein würde – und in den nächsten Tagen vermutlich zunehmend länger.
Darum kannst du dich später kümmern, dachte sie. Nun hielt sie sich wegen des Todes von Deran Wu und den damit verbundenen Konsequenzen im Gedächtnisraum auf. Jiyi war in vielen Dingen nützlich, aber nicht die Person, mit der sie sich jetzt darüber unterhalten musste. Sie brauchte jemanden, der tatsächliche gelebte Erfahrung mit der Interdependenz und den Adelshäusern hatte, insbesondere mit dem Haus Wu. Sie bat Jiyi um eine ganz bestimmte Person.
»An seinem Tee gestorben«, sagte Imperatox Attavio VI. oder, genauer gesagt, seine sehr überzeugend gerenderte Simulation. Er war nicht nur der vorherige Imperatox, sondern zufällig auch Graylands Vater.
Grayland nickte und zog dann eine Grimasse. »Nun ja. Wir wissen nicht, ob es Derans Tee war. Vielleicht war auch die Teetasse selbst vergiftet. Oder es könnten verschiedene Komponenten im Tee und in der Tasse gewesen sein, die in der Mischung zu einem Gift wurden. Die genauen Umstände werden noch untersucht.«
»Aber es war definitiv Gift«, sagte Attavio VI.
»O ja.«
»Es gab keine Bemühungen, die Vergiftung zu vertuschen, zum Beispiel als Herzinfarkt oder Schlaganfall.«
»Nein.«
»Es gibt keine offensichtlichen Verdächtigen.«
»Derans Privatassistentin Witka Chinlun hat ihm dem Tee serviert und wurde dazu befragt. Sie wurde in Untersuchungshaft genommen, aber soweit ich verstanden habe, hält es niemand für wahrscheinlich, dass sie von dem Gift wusste. Anscheinend steht sie unter Schock und ist uneingeschränkt kooperativ.«
»Sie tut dir leid?«
»Sie hat unbeabsichtigt ihren Chef vergiftet, Vater. Das ist krass.«
»Das ist es«, stimmte Attavio VI. ihr zu. »Du erzählst mir das alles aus einem bestimmten Grund. Aus welchem?«
»Ich möchte wissen, was du darüber denkst.«
»Ich denke nichts darüber. Eigentlich denke ich gar nicht.«
Grayland biss sich für einen Moment in die Wange und hielt einen Gedanken zurück, der mit Attavio VI., Jiyi und all den anderen Imperatoxen zu tun hatte. Doch als sie sich daran erinnerte, dass der Attavio VI., der vor ihr stand, tatsächlich eine Simulation war, sprach sie ihn trotzdem aus. »Ich glaube, das stimmt nicht.«
»Dass ich eigentlich gar nicht denke?«
»Ja. Wir machen das schon zu lange, und ich hatte schon zu viele Gespräche mit dir, in denen du Fragen gestellt und Ratschläge erteilt hast. Das hättest du nicht tun können, wenn du nicht denken würdest.«
»Das trifft nicht ganz zu«, sagte Attavio VI. »Zumindest nicht so, wie du dir Denken vorstellst. Diese Simulation ist sehr gut in heuristischer Approximation. Ich kann Vermutungen äußern, die auf meiner Lebenserfahrung und dem gespeicherten Modell basieren, wie ich gedacht habe, als ich noch lebte.«
Das ist ziemlich genau das, was Denken ist, sagte sich Grayland, verkniff es sich jedoch, diese Überlegung auszusprechen. Ihr war bewusst, dass sie ein weiteres Mal in das ontologische Gestrüpp im Zusammenhang mit der Tatsache hineingezogen wurde, dass sie ein Gespräch mit ihrem verstorbenen Vater oder einem Faksimile von ihm führen konnte, und das würde ihr nicht bei ihren aktuellen Problemen weiterhelfen.
Grayland seufzte. Unsere Zivilisation kollabiert, und dennoch wurde Deran Wu vergiftet, dachte sie. Bestenfalls illustrierte das eine Bereitschaft zur Ruchlosigkeit, der Grayland beinahe Respekt entgegenbringen könnte, wenn es nicht gleichzeitig ihr Leben komplizierter gemacht hätte.
Attavio VI. – beziehungsweise sein Faksimile – wartete geduldig ab, während seiner Tochter all diese Dinge durch den Kopf gingen. Nötigenfalls würde er jahrelang geduldig abwarten. Den reanimierten Toten war jede Ungeduld fremd.
»Lass es mich anders ausdrücken«, sagte Grayland zur Erscheinung ihres Vaters. »Was hättest du darüber gedacht, als du noch darüber hättest nachdenken können?«
»Derans Tod soll eine Botschaft übermitteln«, antwortete Attavio VI.
»Wie meinst du das?«
»Dein Cousin wurde in aller Öffentlichkeit ermordet. Mit seinem Lieblingstee vergiftet. Es wurde nicht versucht, die Tatsache zu verschleiern, dass er vergiftet wurde, was relativ einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre. Wer auch immer ihn ermordet hat, wollte, dass alle wissen, dass er ermordet wurde.«
»Terrorismus«, sagte Grayland.
»Möglicherweise«, räumte Attavio VI. ein. »Es könnte aber auch etwas anderes gewesen sein. Hat sich irgendeine Organisation zu der Tat bekannt?«
»Die üblichen Gruppen, die sich zu allen schrecklichen Ereignissen bekennen«, antwortete Grayland. »Meine Sicherheitsleute sagen, dass keine davon etwas damit zu tun hatte.«
»Also kein ernst zu nehmendes Geständnis.«
»Nein.«
»Dann wäre es denkbar, dass es kein Terrorismus ist«, sagte Attavio VI. »Oder falls doch, wird damit ein langfristiges Ziel verfolgt und kein unmittelbarer Vorteil.«
»Zum Beispiel was?«
»Dazu habe ich nicht genug Informationen. Wer könnte Deran Wus Tod wollen?«
Grayland musste schmunzeln. »Ungefähr die Hälfte der Adelshäuser, sehr viele Militäroffiziere und Parlamentsminister und vermutlich jedes einzelne Mitglied des ehemaligen Verwaltungsrats des Hauses Wu.«
»Und du«, sagte Attavio VI.
»Wie bitte?« Grayland blinzelte.
»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war Deran Wu Teil der Verschwörung gegen deine Herrschaft.«
Grayland lächelte kurz über diese Bemerkung und die unausgesprochene Bestätigung, dass die Simulation eines Verstorbenen etwas über ein Ereignis wissen konnte, das sich lange nach seinem Dahinscheiden zugetragen hatte. »Er wandte sich gegen die Verschwörung und gab sämtliche Beteiligten preis«, sagte sie.
»Vielleicht. Du wärst nicht die erste Imperatox, die von den Informationen eines Überläufers profitierte, um sich später wieder gegen ihn zu stellen.«
»Hast du so etwas getan?« Grayland musterte ihren Vater aus leicht zusammengekniffenen Augen. »Jemanden auf diese Weise abservieren lassen?«
»Nein.«
»Hast du jemals einen Mord begangen oder veranlasst?«
»Nicht offen«, sagte Attavio VI.
»›Nicht offen‹?«
»Attentate waren nie mein bevorzugtes Werkzeug. Davon abgesehen könnte es dazu gekommen sein, dass ich mir wünschte, jemand würde mir einen lästigen Priester vom Hals schaffen.«
»Du hast Priester töten lassen?« Grayland war nicht bekannt, dass ihr Vater irgendwelche Schwierigkeiten mit der Kirche der Interdependenz hatte, von der er das (nominelle) Oberhaupt gewesen war, genauso wie sie jetzt.
»Das ist eine Redensart«, sagte Attavio VI. »Du kannst sie nachschlagen. Ich will darauf hinaus, dass ich entschieden hatte, dass Attentate nicht zu meinem Führungsstil gehören. Aber du könntest deine Großmutter fragen, was sie darüber denkt. Sie würde dir voraussichtlich eine ganz andere Antwort geben.«
Grayland dachte an Zetian III., ihre Großmutter väterlicherseits, und erschauderte leicht. Zetian III. hatte kein gutes Bild in der Geschichtsschreibung hinterlassen, sofern sie überhaupt noch erwähnt wurde.
Attavio VI. bemerkte das Erschaudern. »Dem entnehme ich, dass du dich ebenfalls entschieden hast, auf Attentate zu verzichten.«
»Es ist auch nicht mein Stil.«
»Das ist vermutlich klug.«
»›Vermutlich‹?«
»Ein Attentat ist niemals sauber und hat immer Konsequenzen. Aber du herrschst in turbulenten Zeiten«, sagte Attavio VI. »Du hast zwei beinahe erfolgreiche Attentate überlebt und einen beinahe erfolgreichen Staatsstreich. Man würde nicht zu hart über dich urteilen, solltest du als Imperatox beschließen, die Gerechtigkeit zu beschleunigen, die deine Widersacher verdient haben.«
Grayland dachte an die Liste der Personen, die auf ihrer Liste stehen würden, wenn sie eine hätte. Sie wäre lang genug, um ihre Sicherheitskräfte zu beschäftigen, bis die Interdependenz definitiv zusammengebrochen war. »Wir haben andere und dringlichere Probleme«, sagte sie.
»Das ist vermutlich klug«, wiederholte Attavio VI. »Wenn du es nicht warst, die entschieden hat, das Leben deines Cousins zu beenden, solltest du am besten die Liste der Personen durchgehen, die es getan haben könnten, und schauen, wohin das führt.« Das bestätigte Grayland mit einem Nicken. »Jedoch nur unter der Voraussetzung, dass du an der Aufklärung dieses Attentats interessiert bist«, fügte er hinzu. »Abgesehen von den selbstverständlich stattfindenden Pro-forma-Ermittlungen.«
»Natürlich bin ich daran interessiert.«
»Ich wiederhole: Er war Teil einer Verschwörung gegen dich.«
»Ja, aber von allem anderen abgesehen ist sein Tod keineswegs gut für mich«, sagte Grayland. »Er sollte das Haus Wu unter Kontrolle halten. Jetzt ist er tot, und die Mitglieder des Verwaltungsrats kämpfen bereits um die Führung. Wenn Deran der einzige Wu-Cousin ist, der in den nächsten paar Monaten ermordet wird, können wir uns glücklich schätzen.«
»Streng genommen bist du das Oberhaupt des Hauses Wu«, gab Attavio VI. zu bedenken.
»Streng genommen hat seit Jahrhunderten kein Imperatox mehr versucht, das Haus Wu zu führen«, erwiderte Grayland. »Ich habe mich bereits bei meinen Cousins und Cousinen unbeliebt gemacht, als ich die Macht des Rats beschnitten und Deran an die Spitze gesetzt habe, und damit bin ich nur durchgekommen, weil sich Jasin Wu gegen mich gestellt hatte, weshalb ich eine Entschuldigung hatte, misstrauisch zu reagieren. Solange es keinen offensichtlichen Beweis gibt, dass jemand anderer aus dem Rat ihn ermordet hat, habe ich keinen politischen Vorwand, mich einzumischen. Wenn ich mich erneut ins Spiel bringe, wird der Widerstand enorm sein. Das kann ich mir nicht leisten. Nicht jetzt.«
Attavio VI. legte den Kopf schief. »Du hast vor kurzem eine Rebellion niedergeschlagen. Du müsstest genügend politisches Kapital haben, das du verbrennen kannst.«
Wieder lächelte Grayland, diesmal reumütig. »Das sollte man meinen, Vater. Aber wie du sagtest … es sind turbulente Zeiten.«
»Was dir vorher klar war. Wovor ich dich gewarnt habe, als du die Krone übernommen hast.«
»Das hast du«, bestätigte Grayland. »Du hast auch gesagt, du wärst der Meinung, ich wäre für das alles nicht bereit. Erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich«, sagte Attavio VI.
»Was denkst du jetzt?« Grayland hob eine Hand. »Ich meine, was würdest du jetzt denken, wenn du denken könntest?«
Attavio VI. hielt inne. Intellektuell war Grayland bewusst, dass diese Pause unnötig war und nur in Attavios Simulation eingebaut wurde, weil der Gedächtnisraum wusste, dass es in einem solchen Moment, wenn zwei Menschen ein Gespräch dieser Art führten, wahrscheinlich zu einer Pause kommen würde, während der angesprochene Mensch seine Gedanken sortierte, um eine sinnvolle Antwort geben zu können. Die Pause war dazu da, Grayland den Eindruck eines psychologisch authentischen Menschen zu vermitteln. Mehr nicht.
Das hielt Grayland nicht davon ab, innerhalb des Zeitraums, den diese kurze Pause beanspruchte, von einem heftigen Gefühl bestürmt zu werden. Das Gefühl, dass sie beurteilt und für mangelhaft befunden wurde und dass ihr Vater – beziehungsweise sein Faksimile – überlegte, wie er ihr sagen sollte, dass das alles eine Nummer zu groß für sie war, tut mir leid.
»Das ist eine Nummer zu groß für dich«, sagte Attavio VI. unverblümt. Und dann: »Aber für wen wäre es das nicht?«
Grayland atmete aus und wurde sich dabei bewusst, dass sie die Luft angehalten hatte. »Danke, dass du den letzten Teil hinzugefügt hast.«
»Ich habe es nicht aus Mitgefühl getan.«
»Ich weiß. Darauf bist du nicht programmiert. Trotzdem danke.«
»Gern geschehen«, sagte Attavio VI. »Bezüglich der Ermordung deines Cousins – was beabsichtigst du als Nächstes zu tun?«
»Nichts Direktes«, sagte Grayland. »Meine Sicherheitsleute und die anderen Ermittler arbeiten bereits daran. Wie gesagt, habe ich dringlichere Probleme.«
»Trotzdem bist du zu mir gekommen, um darüber zu reden.«
»Ich dachte mir, ein anderer Imperatox könnte etwas mehr über Attentate wissen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir irgendetwas gesagt habe, das du nicht längst weißt.«
»Das hast du nicht«, stimmte Grayland ihm zu. »Aber du existierst gar nicht. Also kannst du leidenschaftslos darauf reagieren. Und ich glaube, du hast recht. Es war als Botschaft gedacht. Wir müssen nur noch entschlüsseln, an wen.«
»Das würde davon abhängen, wer hinter dem Attentat steckt«, sagte Attavio VI. »Und wie du gesagt hast, gibt es keine offensichtlichen Verdächtigen.«
»Das ist richtig«, sagte Grayland. »Aber ich kann Mutmaßungen anstellen.«