32. Kapitel

Angela hatte sich körperlich noch nie so elend gefühlt. Nicht mal beim Kinderkriegen. Das war wenigstens nach zwölf Stunden vorbei gewesen.

Aber am dritten Tag des Ultra-Marathons waren ihre Füße am Ende. Heute Morgen, nach einer Nacht, in der sie dank ihrer Muskelschmerzen nicht viel geschlafen hatte, war sie mit den geschwollenen Füßen kaum in ihre Schuhe hineingekommen, die sie auf Anraten der Veranstalter ohnehin schon eine Größe größer als sonst gekauft hatte.

Nicht nur das, sondern seit sie vor einigen Kilometern einen kleinen Fluss hatten überqueren müssen, waren ihre Schuhe nass. Bei jedem Aufsetzen wurde kaltes Wasser zwischen ihren Zehen hindurchgedrückt.

Schmatz.

Schmatz.

Schmatz.

Außerdem war da die Sache mit dem Essen, das Angela normalerweise wieder in Schwung brachte. Aber sosehr sie sich auch bemühte, die Mahlzeiten zu genießen, die Marc ausgesucht hatte, hinterließen sie doch nur Hunger in ihrem Magen, weil sie das Zeug nicht hinunterwürgen konnte. Es schien keine Rolle zu spielen, dass sie die Gerichte vorher probiert hatten. Es war einfach anders, sie jetzt zu essen, wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte als einen Cheeseburger mit Pommes. Wenigstens hatte sie das Mittagessen aus Dörrfleisch und Trockenobst vor ein paar Stunden vertragen.

Schmatz.

Schmatz.

Schmatz.

Ja, es war ihr eindeutig schon besser gegangen. Und die Gefühle, die in ihr tobten, verursachten fast so heftige Stimmungsschwankungen wie damals die Schwangerschaftshormone. Wie lächerlich sie wirken musste, wenn sie sich über die winzigsten Kleinigkeiten aufregte und dann plötzlich völlig begeistert schien, obwohl nichts Besonderes passiert war.

Angela fuhr sich mit dem Handrücken über die klebrige Stirn und sah, dass ihre Arme gerötet waren. »Ich brauche mehr Sonnenmilch.«

Obwohl an diesem Tag ziemlich viel Wind geherrscht hatte, als sie über einen Bergkamm gelaufen waren, hatte die Sonne sie beinahe überall geplagt. Die einzige Verschnaufpause waren ein wenig Nebel und eine Wolkendecke auf dem Gipfel gewesen.

Im Moment wollte sie nur noch in ein Zelt kriechen, literweise Wasser trinken und eine Pizza verdrücken. Vielleicht auch zwei. Oh, und Schokoladenkuchen. Mit dickem Zuckerguss drauf.

Und ja, sie wusste, dass sie wie ein Jammerlappen klingen würde, also sagte sie all das nicht laut. Zähne zusammenbeißen und weitermachen. So war sie erzogen worden und das würde sie tun.

»Meiner Uhr nach müssten wir gleich an die vorletzte Station für heute kommen.« Marcs Sportuhr hatte ihnen geholfen, Zeit und Entfernung im Blick zu behalten.

»Dann warte ich noch so lange.«

Lauf, lauf, lauf, Angela. Du schaffst das. Du musst das schaffen. Du kannst jetzt nicht aufgeben. Lauf über den Schmerz hinaus. Mach es einfach. Mach. Es. Einfach.

Sie liefen weiter, während der Weg aufwärts über grüne Wiesen und gelbe Hügel führte. Angela war froh über die Stöcke, zu denen Marc ihnen geraten hatte, um die steilen Abschnitte leichter zu bewältigen. Sie halfen sehr dabei, durch das steinige Terrain zu laufen und das Gleichgewicht zu behalten.

Angela hörte ein Stöhnen und warf ihrer Schwägerin einen Blick zu. Obwohl Eva versuchte, es nicht zu zeigen, machte die Grimasse in ihrem Gesicht deutlich, dass ihr Knöchel ihr zu schaffen machte.

»Alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Ich kann nachsehen –«

»Ich hab gesagt, es ist in Ordnung«, gab Eva scharf zurück. Und dann, nach einer Pause: »Tut mir leid.«

Offensichtlich war Angela nicht die Einzige mit schlechter Laune. »Kein Problem.«

Sie liefen weiter.

Schmatz.

Schmatz.

Schmatz.

Würde es ab jetzt besser oder noch schlimmer werden? Den ersten Tag hatten sie alle wie einen Spaziergang empfunden. Nachdem sie die letzten zwei Kilometer ins Lager gejoggt war, hätte Angela Bäume ausreißen können. Die zweite Etappe war deutlich schwieriger gewesen – sie hatten sich zwischen etlichen Weingütern hindurchgeschlängelt, vorbei an der Goldmine in Bannockburn, hatten dann den Kawarau-Fluss überquert und waren anschließend qualvolle zwölf Kilometer bergauf gestiegen zum Pisa-Gebirgskamm, bevor sie in der Nähe von Snow Farm die Tagesetappe beenden würden. Angela und ihre brennenden Füße waren noch nie so froh gewesen, einen Kreis aus kleinen Zelten zu sehen.

Der einzige Hinweis darauf, dass Marc mit irgendetwas Mühe hatte, waren seine ständigen Blicke in Evas Richtung. Es sah aus, als hätte er etwas auf dem Herzen, wüsste aber nicht, wie er es sagen sollte.

In gewisser Weise konnte Angela das nachvollziehen – nur dass sie selbst gar nicht genau wusste, was sie ausdrücken wollte. Jeden Abend im Lager war es ein Kampf, wenn sie sich zwang, in ihr Zelt zu gehen, obwohl sie eigentlich Simon suchen und ihn küssen wollte, bis ihm Hören und Sehen verging.

Seit wann war sie so ein Trottel?

Sie war nur müde und schlecht gelaunt, das war alles. Ihr körperlicher Zustand raubte ihr die Fähigkeit, klar zu denken, und sie würde sich nicht durch dumme, emotionale Entscheidungen die Zukunft verbauen.

Das weiße Zelt der Station tauchte vor ihnen auf. »Endlich.«

Evas grimmige Miene verwandelte sich in ein Grinsen. »End-spurt – wer schneller ist.«

Wie die Frau für so etwas Energie hatte, vor allem mit einem lädierten Knöchel, war Angela schleierhaft. Aber der Gedanke an kaltes Wasser und eine Pause von ein paar Minuten, vielleicht sogar die Chance, die Schuhe auszuziehen und sie ein bisschen trocknen zu lassen, ließ sie alle Logik in den Wind schlagen. »Abgemacht.«

Sie drückten Marc ihre Wanderstöcke in die Hand und rannten los, während Marc »Na, vielen Dank!« hinter ihnen herrief und sie lachten, während sie liefen. Das Zelt kam näher, und als sie es erreicht hatten – Eva kurz vor Angela –, beugten sie sich vornüber, stützten die Hände auf die Knie und ließen den Schweiß über ihre Wangen rinnen.

Marc kam wenige Sekunden nach ihnen ins Ziel gejoggt und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Ihr Mädels seid echt der Hammer.«

»Ja, das sind sie.«

Angela richtete sich auf, als wäre der Blitz in ihr Hinterteil eingeschlagen. Ihre Augen suchten nach dem Urheber der Bemerkung. Simon saß auf einem Stuhl hinter dem Tisch, auf dem der große Wasserspender stand. Einige andere Helfer mit ihren orangefarbenen Shirts waren ebenfalls zu sehen. Simon stand auf und gab Marc die Hand.

»Was machst du denn hier?« Angelas Worte hatten nicht so scharf klingen sollen. Aber diese Station sollte ein kleiner Zufluchtsort von dem Weg sein, auf dem sie sich befand. Wieder einmal war sie nicht auf eine Begegnung mit ihm vorbereitet – vor allem, weil ihre Füße schmerzten, ihre Kehle sich wie ausgedörrt anfühlte und ihre Emotionen völlig durcheinandergeraten waren.

In Simons Augen blitzte ein verletzter Ausdruck auf und noch etwas – Trotz? »Ich dachte, ich könnte heute die letzten Kilometer mit euch zusammen gehen. Euch in Aktion sehen.«

»Sollen die Medienvertreter nicht in den Lagern bleiben?« Angela ging zu dem Wasserspender und holte sich etwas zu trinken, wobei sie dank ihre zitternden Hände etwas Wasser verschüttete.

»Wenn man einen Artikel für die Zeitschrift des Veranstalters schreibt, hat man ein bisschen mehr Einfluss.«

Angela sah Hilfe suchend zu Eva hinüber. Aber Eva war mit sich selbst beschäftigt und Angela entging nicht, dass ihre Schwägerin eine Grimasse zog, als sie eine Dehnübung machte, bei der ihr Knöchel mit im Spiel war.

Schließlich stöhnte Angela. »Na gut. Aber du darfst uns nicht mit deinen Fragen ablenken, okay?« Du liebe Güte. Sie klang wie eine genervte Kylee. Simon war ihr Freund und er hatte nichts verbrochen. Und dies war sein Job – es war ja nicht so, als hätte er sich hinterhältig hierhergeschlichen, um sie zu einer Beziehung zu nötigen. Es war für sie beide eine schwierige Situation.

Sie trat näher und senkte die Stimme. »Tut mir leid. Heute ist ein heftiger Tag.«

Seine Schultern entspannten sich. »Kann ich mir vorstellen. Aber ihr seid schon wie viel? Hundertfünfzehn Kilometer gelaufen?«

»Hundertzehn. Aber was sind schon fünf Kilometer?« Sie versuchte, ihrer Stimme etwas Leichtigkeit zu verleihen.

»Klar.« Simon zwinkerte und etwas regte sich in ihrem Magen.

Oh-oh.

Sie tranken ihr Wasser aus und setzten sich wieder in Bewegung, während Simon mit Marc über ihre bisherigen Erfahrungen plauderte. Da er nicht gut laufen und gleichzeitig schreiben konnte, benutzte er ein Diktiergerät, um die Unterhaltung aufzunehmen. Marc sprühte nur so vor Begeisterung für die Landschaft und die Gelegenheit, etwas zum Andenken für seine beiden Freunde zu tun. Manchmal vergaß Angela, dass Marc ja diesen Lauf ursprünglich mit Brent und Wes geplant hatte – und stattdessen jetzt Eva und sie am Hals hatte. Nicht, dass er etwas gegen Evas Anwesenheit hatte, obwohl Angela sich vorstellte, dass es ein komisches Gefühl sein musste, mit der Frau seines besten Freundes hier zu sein.

Angela entspannte sich beim Gehen ein wenig, während sie ihrem Herzschlag Anweisung gab, sich zu beruhigen, und ihren Füßen befahl, das Scheuern der nassen Socken zu ignorieren. Sollte der Schmerz als Motivation dienen! Als Erinnerung.

Dann gesellte Simon sich zu Eva, um mit ihr zu reden, und Angela spürte, wie das Adrenalin in ihren Adern zunahm und unaufhörlich durch ihren Körper kreiste. Während Eva plauderte, schien Angelas Herz seinen eigenen Rhythmus zu hämmern und ihre Gedanken waren ein Durcheinander von Überlegungen, warum sie hier war und was sie fühlte. Wie wäre es wohl, wenn sie ihre eigenen Emotionen verstände?

Warum war es nur so schwierig, das eigene Herz zu durchschauen? Angela hatte Fortschritte gemacht, das stand fest, aber würde sie jemals an den Punkt kommen, an dem sie emotional ein offenes Buch war – für sich selbst und die Welt?

»Du bist dran, Ang.« Simon ließ sich zurückfallen, um an ihrer Seite weiterzugehen.

Angela sah auf ihre Uhr. Sie hatten noch etwa einen Kilometer vor sich bis zu ihrem Nachtlager. Das bedeutete, dass sie heute nur noch fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten in Simons Nähe verbringen musste. »Okay.«

Der Weg folgte den Kurven eines Hügels und ihre Fußballen brannten beim Abstieg in den Schuhen. Aber plötzlich verlief der Pfad gerade und fiel steil vor ihnen ab, große Felsbrocken auf beiden Seiten. Der Anblick eines Sees füllte den gesamten Horizont. Von ihrem Standort aus konnte sie den Rest des Weges nicht sehen.

Simon schaltete erneut sein Aufnahmegerät ein. »Wie ist das Rennen bis jetzt für dich?«

Angela musterte das Gerät in seinen Händen und konzentrierte sich dann auf den Weg, damit sie nicht stolperte. »Sieh dich doch mal um. Es ist fantastisch.« Das war die Wahrheit, auch wenn ihr schmerzender Körper und der benommene Geist ihr nicht erlaubten, die Natur so richtig zu genießen.

»Was ist mit dem Lauf selbst? Welche Emotionen sind damit verbunden?«

»So ziemlich die komplette Bandbreite. Es ist echt eine Herausforderung.«

Schweigen. »Kannst du das etwas genauer erklären?«

Der Weg wurde steil und sie setzte einen Fuß vor den anderen. »Wer will das wissen? Simon, der Journalist, oder Simon, der Freund?« Komm schon, Angela. Er macht nur seine Arbeit. Mach es nicht noch schlimmer. »Es tut mir l–«

»Ich dachte, Simon, den Freund, gibt es nicht mehr.« Er schob das Diktiergerät in seine Tasche. »Oder du betrachtest ihn zumindest nicht mehr als solchen.«

Angela schrie auf, als ihr rechter Fuß ausrutschte. Zum Glück verlor sie nicht das Gleichgewicht. »Ich dachte, du hättest gesagt, dass du ganz professionell an die Sache rangehen willst.« Ihr Tonfall … Mann, wie gehässig.

Ihr leerer Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie musste dieser Situation ein Ende machen. Sofort. Aber sie konnte Simon nicht abhängen. Als gutes Teammitglied durfte sie sich maximal dreißig Meter von Eva und Marc entfernen.

Irgendwann wurde der Weg flacher und in der Ferne sah sie die dritte Übernachtungsstation und Hunderte kleiner Zelte dahinter.

»Stimmt, das habe ich.« Er seufzte und sein Tonfall war gereizt. Und wer konnte es ihm verdenken? Im Moment hatte er es mit Angela in ihrer schlimmsten Version zu tun. Aber er hätte es wissen müssen. »Aber verdammt, das kann ich einfach nicht, Angela. Nicht bei dir. Ich weiß, dass es nicht fair ist, dich jetzt, hier, damit zu belästigen, aber irgendwann müssen wir reden.«

Ein paar Meter vor ihnen drehte Eva sich zu Angela um. Wahrscheinlich konnte sie jedes Wort hören.

Das alles war so verwirrend – weil Angela die Antworten ja selbst nicht kannte. Sie wusste nicht, wie sie mit Simon befreundet sein sollte, wenn sie sich doch nur in seine Arme werfen wollte.

Ach, wen kümmerten schon die Regeln. »Nein, müssen wir nicht.« Mit diesen Worten lief Angela los. Sie musste weg. Weg von Simon, von dem Schmerz, in drei Tagen hundertzwanzig Kilometer zu laufen, von ihren erbärmlichen Ausreden.

Von Wes.

Überhaupt war das alles seine Schuld. Alles. Wenn er doch nur auf sie gehört hätte. Wenn er sich von Brents Abenteuern doch nicht hätte anstecken lassen! Wenn er nur gesehen hätte, was er hatte – seine Frau, seine Kinder –, und nicht durch die Weltgeschichte gezogen wäre.

Wenn er geblieben wäre, wäre Angela jetzt nicht hier und würde nicht rennen, als wäre ihr ein tollwütiger Hund auf den Fersen, während Marc und Eva brüllten, sie solle zurückkommen, und der Wind in ihren Augen brannte.

Sie wäre mit ihm zu Hause in New York, würde ihre Kinder unterrichten, in die Kirche gehen, mit Gott reden, mit ihren Freunden zusammen sein und mit dem Mann alt werden, für den sie alles aufgegeben hatte.

Angelas Lunge brannte, während sie an der Station vorbeirannte, direkt zu dem Zelt, das man ihr zugewiesen hatte. Sie verschwand darin, zog den Reißverschluss zu, setzte ihren Rucksack ab und ließ sich auf den dünnen Zeltboden fallen. Dann zog sie die Knie an ihre Brust und holte tief und zitternd Luft.

* * *

Was hatte Angela sich nur dabei gedacht?

Eva ignorierte die Krämpfe in ihrem Knöchel und stapfte an Zelt 98, 99 und 100 vorbei, bis sie vor Nr. 101 stand. Ihr Magen war noch immer in Aufruhr, nachdem sie zugesehen hatte, wie Angela vorausgerannt war und die Ziellinie der dritten Etappe überquert hatte – allein.

Beinahe hätte ihr Alleingang zu ihrer Disqualifizierung geführt, weil sie ohne ihre Mannschaftskollegen eingetroffen war. Genau genommen hatte es das auch, aber Marc und Simon hatten es irgendwie geschafft, die Wogen zu glätten.

Ein kurzer Blick in Zelt 101 zeigte, dass es leer war, abgesehen von Angelas Sachen. Wo war sie?

Auch wenn Eva und Angela sich nähergekommen waren, hatte sie immer noch keine Ahnung, was in ihrer Schwägerin vor sich ging. Hatte sie so ein Problem mit Simon, dass sie bereit war, diese Gelegenheit wegzuwerfen – für sie alle?

»Suchst du die Frau, die in dem Zelt war?«

Eva drehte sich um und sah eine Frau mit blonden Dreadlocks und Südstaatenakzent vor Zelt Nr. 102 sitzen und die Blasen an ihren Füßen verarzten. »Ja, genau. Weißt du, wo sie hin ist?«

»Da lang.« Sie zeigte um die Ecke in Richtung See. »Sie sah ziemlich aufgelöst auf. Ich habe sie gefragt, ob alles in Ordnung ist, und sie hat mir fast den Kopf abgerissen.«

Klar hatte sie das. Nicht nett, Eva. Hier stimmt offensichtlich was nicht. »Danke.«

Sie schlängelte sich zwischen den Einmannzelten hindurch, die alle niedrig und einfach gehalten waren. In jedem Lager gab es kleine runde Tische mit Hockern, an denen die Teilnehmer essen, Karten spielen oder sich unterhalten konnten. Im Lager herrschte bereits reges Treiben.

Eva ging den abfallenden Weg entlang, der von hohen Büschen gesäumt war. Sie hätte Angela an diesem Nachmittag nicht zu einem Wettrennen herausfordern sollen – seitdem pochte ihr Knöchel. Marc hatte bemerkt, dass sie etwas hinkte, aber sie hatte es als Blase abgetan. Er sollte sich keine Sorgen machen, außer über ihr Tempo und darüber, dass sie an jedem Tag ihr Ziel rechtzeitig erreichten. Natürlich hatte keiner von ihnen sich Gedanken darüber gemacht, dass Angela ausgerechnet gegen eine der wenigen Regeln verstoßen könnte, die zu ihrem Ausschluss führen konnten.

Eva ballte die Hände zu Fäusten. Aufgebracht oder nicht – Angela musste wissen, wie sehr sie ihre Mission heute gefährdet hatte.

Graue und rötliche Felsen erhoben sich um Eva herum, als sie zum silbrig blauen Wasser hinunterstieg. Sie bog um die Ecke und sah ihre Schwägerin, die an einen großen Felsen am Seeufer gelehnt saß. Angela rührte sich nicht, als Eva näher kam.

Eva wartete, die Arme verschränkt. Würde Angela sich entschuldigen? Aber war ihr überhaupt bewusst, was sie getan hatte? Wären sie rausgeworfen worden, hätten sie ihr Ziel von einer Million Dollar Spenden nicht erreicht. Sie hätten monatelang trainiert, nur um disqualifiziert zu werden. Sie hätten das Andenken von Brent und Wes nicht geehrt.

Das war inakzeptabel.

Hier draußen am See hörten sie die Geräusche des Zeltlagers nur im Hintergrund – das Klappern von Töpfen, das Rauschen der Gaskocher, mit denen das Wasser heiß gemacht wurde, den Lärm gut gelaunter Unterhaltungen nach einem langen Tag mit vielen gegangenen oder gelaufenen Kilometern. Das gleichmäßige Lecken der Wellen am Ufer und die Schreie einiger Möwen überlagerten alles.

Angela hob einen Kiesel vom Boden auf, betrachtete die Wassertropfen, die daran hingen und im schwindenden Sonnenschein tanzten. Ihr Daumen fuhr über den Stein, hin und her, hin und her. Dann holte sie aus und warf ihn weit von sich. Das Plopp durchbrach die stille Wasseroberfläche und zog Kreise, die fast bis ans Ufer reichten.

Endlich sprach ihre Schwägerin. »Haben sie uns rausgeschmissen?« Sie presste die Lippen grimmig zusammen.

Das war alles, was sie dazu zu sagen hatte? »Nein. Stattdessen haben sie uns für morgen eine halbe Stunde Startverzögerung aufgebrummt.«

»Gut.« Das Wort klang tonlos, sodass Eva Angelas emotionale Verfassung nicht daran ablesen konnte.

Als wenn das was Neues wäre.

»Warum bist du auf einmal weggerannt, Angela?«

»Ich musste weg.«

»Von Simon?«

»Von allem.« Noch ein Stein flog aus Angelas Hand ins Wasser. Kein Versuch, ihn über die Oberfläche springen zu lassen. Einfach nur mit Wucht hineingeworfen.

Eine Windböe huschte übers Wasser. Eva zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn. »Warum?« In diesem einen Wort lagen so viele Fragen, aber nur eine löste sich aus Evas Herzen. »Warum willst du unsere Männer nicht ehren, so wie ich es will?«

»Warum sollten wir sie ehren?« Plopp. »Sie haben uns ›für immer‹ versprochen und uns dann verlassen.«

Jetzt endlich sah Angela zu Eva auf. Ihr aufgewühlter Blick jagte Eva einen Schauer des Mitgefühls über den Rücken.

Eva ging in die Hocke, nahm einen Kiesel, richtete sich wieder auf und gab den Stein Angela, die ihn nahm und warf. Immer wieder suchte Eva Steine aus und gab sie Angela, die sie ins Wasser warf. Irgendwann klopfte sie den Sand von ihrer Hose und lehnte sich neben Angela an den Felsen.

»Brent und Wes sind nicht freiwillig gegangen.« Kein einziges Mal war sie auf Brent wütend gewesen wegen einer Sache, die eindeutig ein Unfall gewesen war. Aber wenn Tragödien geschahen, suchten die Menschen oft jemanden, dem sie die Schuld daran geben konnten.

»Wes ist gegangen, bevor er gestorben ist.«

Eva blickte überrascht auf. »Im Sinne von ausgezogen?«

Angela nahm den nächsten Kiesel und schüttelte den Kopf. »Emotional. Nachdem Roy gestorben war. Ich habe dir doch gesagt, dass er sich verändert hat. Und er hat mich zurückgelassen. Ich habe ihm gesagt, er würde sich irgendwann verletzen oder noch Schlimmeres, wenn er all das dämliche Zeug machte, das Brent tat. Aber er hat nicht auf mich gehört.«

Eva versuchte zu ignorieren, dass sie bei der Erwähnung von Brents »dämlichem Zeug« automatisch auf Verteidigung schaltete. Ihre Finger ballten sich zur Faust. »Vielleicht hatte er mehr Angst davor, nicht wirklich zu leben, als davor, zu sterben.«

Der Kopf ihrer Schwägerin fuhr herum und ihr Blick durchbohrte Eva wie der eines Habichts. »Du findest also, seine Frau und Kinder waren nicht genug Leben für ihn?«

»So meine ich das n–«

»Nein, im Ernst, Eva. Was ist denn der wirkliche Sinn des Lebens? Hm? Und warum durfte Wes das entscheiden? Und Brent?«

»Lass Brent aus der Sache raus.«

Angelas beißendes Lachen hallte an den Felsen wider. »Er steckt schon mitten drin. Er ist schließlich der Grund, warum du hier bist. Der einzige Grund, warum wir beide hier sind.« Dann fügte sie hinzu: »Weißt du, ich habe nie verstanden, warum du überhaupt so erpicht darauf warst, diesen Lauf mitzumachen.«

»Ich … ich wollte Brent ehren.«

»Das sagst du, aber du hast dein Leben doch schon seinem Vermächtnis gewidmet. Was ist denn mit dir, Eva? Willst du es nicht für dich selbst machen? Du kannst nicht den Rest deines Lebens von ihm bestimmen lassen … auch wenn es so war, als er noch gelebt hat.«

»Wie bitte? So war das nicht.«

»Nicht? Hat er nicht entschieden, welches Abenteuer du unternimmst? War nicht er es, der entschieden hat, noch keine Kinder zu bekommen, obwohl du welche wolltest? Er war nicht perfekt, Eva. Er war nur ein Mann, aber du hast ihn auf ein Podest gestellt wie eine Art Gott.«

Eva zuckte zusammen, als hätte Angela ihr den Stein, den sie in der Hand hielt, an den Kopf geworfen. »Wie kannst du es wagen, über meinen Mann zu sprechen, als hättest du ihn gut gekannt. Als wüsstest du irgendwas über unsere Beziehung.«

Ihre Schwägerin rollte den Stein ein paarmal zwischen den Fingern hin und her, bevor sie sprach. »Das kam viel schroffer raus als beabsichtigt. Es tut mir leid.« Sie stieß langsam die Luft aus. »Aber auch wenn es ungeschickt formuliert war, habe ich das Gefühl, du weißt, dass an dem, was ich sage, etwas dran ist. Es ist in Ordnung zuzugeben, dass ihr keine perfekte Ehe geführt habt. Dass Brent auch Fehler hatte. Und dass du dein Leben nicht zu einer Art Heiligenschrein für ihn machen musst.«

Eva hatte in ihrem ganzen Leben noch nie das Bedürfnis gehabt, jemanden zu schlagen – bis jetzt.

Aber nicht, weil Angela nicht richtig tickte. Und auch nicht, weil sie so gemein gewesen war.

Sondern weil sie – zumindest teilweise – die Wahrheit gesagt hatte, die Eva sich selbst nicht hatte eingestehen können.

Aber in einer Hinsicht irrte Angela sich. »Ich bin für Brent hierhergekommen, ja. Aber ich bin auch meinetwegen hier. Um herauszufinden, ob das Leben jemals wieder bunt sein kann.«

Ihre Schwägerin trat einen Schritt näher und legte ganz sanft einen Stein in Evas Hand. Dann schloss sie Evas Finger um den Kiesel. »Dann steh dazu und hör auf, so zu tun, als wäre Brent der einzige Grund, warum du hier bist.«

Eva spürte die kalte Festigkeit des Steins. »Du hast recht.« Ihre Brust hob sich, als ihre Hand den Kiesel in Richtung Wasser schleuderte.