5. Kapitel
Ihre Nichte war ein Genie.
»Du solltest es machen.« Kylees Worte vom vergangenen Abend ließen Eva nicht los, während sie in der Nähe der Herzstiftung aus der U-Bahn stieg und mit Hunderten anderer New Yorker die Straße überquerte, um den neuen Arbeitstag in Angriff zu nehmen.
Irgendwie fühlte der Tag sich neu an, die Luft war voller Möglichkeiten. Ein Hauch von Safran und Zimt kitzelte Eva in der Nase, als sie an einer Straßenecke bei einem indischen Imbiss, einer Bäckerei und einem angesagten kleinen Buchladen vorbeikam.
Kylee glaubte vielleicht nicht, dass Eva ihren Vorschlag ernst nehmen würde, aber etwas daran stieß in ihrem Inneren auf positiven Widerhall.
Denn es war eine Chance, sich Brent auf noch intensivere Weise nahe zu fühlen, als die ehrenamtliche Arbeit bei seiner bevorzugten Wohltätigkeitsorganisation es war. Sie konnte damit sein Andenken ehren. Und vielleicht die Farben des Lebens wiederentdecken, die mit seiner Abwesenheit verschwunden waren.
Wie Marc gesagt hatte: Brent war ein Visionär gewesen. Er hätte diese Aktion hundertprozentig unterstützt.
Auf dem Weg zum Büro suchte Eva eine Nummer in ihrem Handy und rief an.
»Eventagentur Abenteuer Laufen, Tina hier.«
»Hi Tina, hier ist Eva Jamison. Die Frau von Brent Jamison.«
»Oh, hallo. Ich habe immer noch nichts von Ihrem Mann gehört.«
»Nein.« Eva holte tief Luft, während sie sich auf dem überfüllten Gehweg zwischen anderen Fußgängern hindurchschob. Sie bog in eine ruhigere Straße ab. »Und das werden Sie auch nicht. Sie müssen wissen, dass er vor fünfzehn Monaten gestorben ist.«
Tina sog scharf die Luft ein. »Das tut mir schrecklich leid. Wenn ich gewusst hätte –«
»Sie brauchen sich deswegen nicht zu entschuldigen.«
Am anderen Ende der Leitung raschelte Papier. »Also, es ist eigentlich nicht üblich, aber ich kann versuchen, Ihnen die Anzahlung zu erstatten. Versprechen kann ich es nicht, aber –«
»Ich wollte Sie eigentlich um etwas anderes bitten.«
»Okay.«
Eva blieb zwei Häuserblocks von der Herzstiftung entfernt stehen. Vor ihr erhob sich ein großes schmiedeeisernes Tor mit einem handgeschnitzten Schild daran, auf dem East Side Garden stand. Sie holte zitternd Luft. »Ich wollte fragen, ob es möglich ist … dass ich an seiner Stelle teilnehme.«
»Ach, du liebe Güte. Also … normalerweise geht das nicht, das verstehen Sie sicher. Aber vielleicht …« Tina überlegte. »Können Sie in der Leitung warten, während ich mit meinem Vorgesetzten spreche?«
»Natürlich.«
Als die Musik der Warteschleife in der Leitung erklang, streckte Eva die Hand aus, um das Schild des Parks zu berühren. Sie spürte eine Gänsehaut auf ihrem Arm. Sie hatte den öffentlichen Garten mit Tausenden herrlicher Blumen im Herzen von Manhattan entdeckt, als sie hierhergezogen war. Damals war der Garten für sie ein Zufluchtsort vor dem Smog der Stadt und dem Lärm des Lebens gewesen, wann immer sie sich von der Arbeit wegstehlen konnte.
Hier hatte Brent ihr vor sechs Jahren den Heiratsantrag gemacht.
Und seit seinem Tod hatte Eva diesen Ort nicht mehr betreten.
Sie spähte durch das Tor und ihr Blick fiel auf die Steinbank, auf der Brent sie an jenem herrlichen Maitag mit einem Diamantring überrascht hatte, als die Primeln blühten und ihre Blütenblätter in Orange, Lila, Rosa, Blau und Rot der Sonne entgegenstreckten.
Sie hatte es für ein Zeichen gehalten, wenn man bedachte, welche Bedeutung den Primeln zugeschrieben wurde: »Ich kann ohne dich nicht leben.«
Jetzt lagen diese Primeln – ihre Primeln – brach.
Einige Primeln blühten zweimal im Jahr. Ob diese dazugehörten? Oder würden sie ihre Farben im Herbst und Winter vor den Blicken der Menschen verbergen?
Eva spürte ein Brennen in ihrer Brust, während sie zitternd Luft holte.
Was machte sie eigentlich hier? Sie musste doch zur Arbeit. Eilig wandte sie sich um und lief in Richtung Herzstiftung.
»Ms Jamison?« Tina Landrys Stimme unterbrach ihre Gedanken.
»Ja, ich bin hier.« Die Worte klangen verzweifelter, als Eva es beabsichtigt hatte.
»Sie können gerne anstelle Ihres Mannes mitlaufen.«
Ein Sonnenstrahl spiegelte sich in einem Fenster eines Hochhauses und blendete sie. »Oh, das ist wunderbar.«
»Natürlich nur, wenn die Mannschaftskollegen Ihres Mannes damit einverstanden sind.«
»Was? Ach so …« An dieses Detail hatte sie noch gar nicht gedacht. Und Ms Landry kannte nicht die ganzen Umstände. »Wissen Sie, mein Schwager Wes ist auf dieselbe Weise umgekommen wie mein Mann.«
»Ach, du liebe Güte. Das tut mir sehr leid.« Tina schnalzte mit der Zunge. »Aber ich wüsste nicht, warum wir in dem Fall nicht auch für einen nahen Angehörigen eine Ausnahme machen können.«
Kylee hatte gesagt, sie wollte für ihren Dad einen Wettkampf laufen, aber zweihundertfünfzig Kilometer waren zu viel für einen Teenager.
Aber was war mit Angela? Sie war früher auch gelaufen. Ihre Schwägerin zeigte vielleicht ihre Gefühle nicht offen, aber gestern Abend hatte Eva in Angelas Augen dieselbe Hoffnungslosigkeit gesehen, die sie in ihrem eigenen Spiegelbild so oft entdeckte. Vielleicht wäre es für sie beide gut, wenn sie diesen Lauf mitmachten.
»Ich muss fragen. Wenn ich niemanden finde, kann ich dann trotzdem mitmachen?«
»Ich wünschte, ich könnte dafür eine Ausnahme machen, aber wir haben sehr strenge Regeln, was den Wechsel von Teilnehmern von einer Mannschaft zu einem Einzellauf betrifft, und ein Team muss aus mindestens drei Personen bestehen. Wenn Sie als Team anfangen und einer mittendrin abbrechen muss, dann ist das etwas anderes. Aber wir haben nur eine bestimmte Anzahl Einzelteilnehmer und Mannschaftsplätze – und die sind alle belegt.«
Eva umklammerte ihr Handy. »Gut. Ich danke Ihnen sehr für diese Möglichkeit. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«
»Bitte denken Sie daran, dass der letzte Termin für die Restzahlung diesen Samstag ist. Danach müssen wir den Platz Ihrer Mannschaft an die nächsten Bewerber auf der Warteliste geben.«
»Das verstehe ich. Und danke noch mal.«
Als Eva bei der Herzstiftung eintraf, ließ sie den Blick die weißen Betonmauern hinaufwandern, hoch, höher, bis zu dem wolkenlosen Himmel. Sollte sie einfach hineingehen und die ganze Sache vergessen? Schließlich würde ein solcher Lauf nicht leicht sein. Eva powerte sich gerne beim Spinning aus, aber sie war noch nie lange Strecken gelaufen. Fünf, sechs Kilometer höchstens.
Herrliche Bilder von Neuseeland erschienen in ihrem Kopf: die schneebedeckten Gipfel, die blauen Seen, die grünen Hügel, die orangefarbene Sonne, die aller Flora und Fauna Leben gab.
Eine wilde Landschaft voller Möglichkeiten. Voll von Wachstum und Neuem.
Farbe.
Ein Ort, den sie zusammen mit Brent hatte erleben wollen. Vielleicht konnte sie ihn dort endlich wieder spüren.
Eva rief Angela an.
Als ihre Schwägerin dranging, erklärte Eva schnell, was sie mit Tina besprochen hatte. Dann schwieg sie. Und wartete. Aber am anderen Ende der Leitung herrschte nur Schweigen.
»Angela? Bist du noch da?«
Endlich ertönte ein Lachen in der Leitung, das bitter klang und ungläubig. »Du willst also, dass wir einen Ultra-Marathon laufen. Zweihundertfünfzig Kilometer. Auf der anderen Seite der Erdkugel. In sechs Monaten. Du bist verrückt.«
Ihre Worte versetzten Evas Herz einen Stich. »Ich finde es gar nicht so verrückt. Und ja, du, ich und Marc.« Sie hatte Marc noch nicht einmal gefragt, aber sie wusste, dass er mitmachen würde. Schließlich war es für Brent.
»Ich bin seit Jahren nicht mehr gelaufen, Eva. Das ist selbst für jemanden, der topfit und im Training ist, ziemlich heftig.«
»Vielleicht wirst du ja staunen, wie leicht du wieder reinfindest. Und wir müssen auch nicht unbedingt laufen. Nur etwa dreißig Kilometer am Tag gehen. Das schaffst du. Du läufst doch jetzt auch auf dem Laufband, oder? Dann machen wir zusätzlich noch ein bisschen Cross-Training, joggen ein bisschen, was auch immer. Wir trainieren zusammen. Es spielt keine Rolle, wie schnell wir sind. Es würde uns bei dem Lauf ja nicht ums Gewinnen gehen. Außerdem wären Marc und ich da, um dir zu helfen. Wir wären ein Team.«
Eva, du plapperst. Sie presste die Lippen aufeinander.
»Hör mal, das ist eine schöne Idee für dich, wenn du das willst, aber mich brauchst du dafür nicht. Ich arbeite mehr als vierzig Stunden die Woche. Ich kann weder meine Arbeit noch meine Kinder zwei Wochen lang allein lassen. Und Sherry muss sowieso schon zu oft Babysitter spielen. Und was ist mit dem Geld? Es kostet doch sicher Tausende, dorthin zu fliegen und die ersten Nächte irgendwo zu übernachten. Und was ist mit dem Startgeld?«
»Das Geld ist kein Problem. Ich komme für die Kosten auf.« Eva machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wie schön, wenn man das kann.« Angelas Worte klangen bitter. »Tut mir leid, Eva. Das war nicht nett von mir. Es ist ein sehr großzügiges Angebot, aber ich kann das im Moment nicht. Aber ich wünsche dir natürlich viel Erfolg.«
»Du sagst, ich brauche dich nicht, aber das stimmt nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Die Männer sind als Mannschaft angemeldet. Ein Team muss aus mindestens drei Personen bestehen und die Organisatoren genehmigen es nur, wenn ein Familienmitglied als Ersatz teilnimmt.«
Ein Stöhnen drang durch die Leitung. »Tut mir leid, Eva. Das … das kann ich nicht.«