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S
iehst du, Tante Lisa«, sagte Dodo ganz aufgeregt. »Messerschmitt baut die M 20 trotzdem weiter. Sie haben das Leitwerk entscheidend verbessert, steht hier.«
Elisabeth Winkler saß auf dem Sofa, hatte die kleine Charlotte auf dem Schoß und fütterte sie mit Grießbrei. Die Kleine riss gierig den Mund auf und wedelte bei jedem neuen Löffel aufgeregt mit den drallen Ärmchen. Marie hatte ihre Schwägerin schon mehrfach gewarnt, sie würde ihre Tochter zu oft füttern. Besonders den süßen Nachtisch liebte sie, und Lisa hatte nicht das Herz, ihrer einzigen Tochter das Essen zu verweigern.
»Hast du mir zugehört, Tante Lisa?«, beharrte Dodo. »Die M 20, das ist ein Verkehrsflugzeug, es wird hier in Augsburg in den Bayerischen Flugzeugwerken gebaut. Und es kann zehn Passagiere aufnehmen. Ganz toll, findest du nicht?«
»Ist das nicht irgendwann mal abgestürzt?«, fragte Lisa zerstreut. Sie musste aufpassen, dass Charlotte, die seit einigen Tagen beschlossen hatte, alleine zu essen, ihr nicht den Löffel aus der Hand schlug.
»Ja, das war auf dem Erstflug vor zwei Jahren. Da ist das Leitwerk gebrochen«, gab Dodo zu. »Doch das kann nicht wieder passieren, und deshalb will die Deutsche Lufthansa drei Flugzeuge kaufen. Stell dir vor, man kann bald als Passagier mit einem Flugzeug fliegen. Wenn ich erst Pilotin bin, fliege ich euch alle nach Amerika, Tante Lisa.
«
Während sie davon redete, war sie dabei, einen Artikel aus den
Augsburger Neuesten Nachrichten
auszuschneiden. Der sollte in das Heft, in das sie alles hineinklebte, was mit der Fliegerei zu tun hatte, kommen.
»Warte, Dodo«, rief die Tante. »Sebastian hat die Zeitung noch nicht gelesen, du kannst es heute Abend ausschneiden.«
Ihre Nichte ließ die Schere sinken und seufzte. »Onkel Sebastian hat bestimmt nichts dagegen.«
»Das kommt darauf an, was auf der Rückseite steht.«
Stirnrunzelnd wendete Dodo das Zeitungsblatt. »Da sind bloß die Todesanzeigen, die liest Onkel Sebastian bestimmt nicht.«
»Also meinetwegen, schneid das Foto halt aus.«
Lisa kratzte den Rest Brei vom Teller, gab ihn der Kleinen und wischte ihr anschließend mit dem Lätzchen den verschmierten Mund ab. Dann stellte sie ihre Tochter auf die Füße, und Charlottchen wackelte durchs Wohnzimmer. In ihrem weißen Kleidchen mit dem Volant schaute sie aus wie ein draller, goldlockiger Engel.
Dodo war im Februar vierzehn Jahre alt geworden, sie war groß für ihr Alter, aber ihr schlanker Körper zeigte einstweilen noch keinerlei weibliche Formen, worüber Dodo – wie sie stets betonte – sehr froh war. Das wellige hellblonde Haar war zu einem Bubikopf geschnitten, der ihr hervorragend stand und gut zu ihrem jungenhaften Wesen passte.
Gerade hatte sie das kostbare Foto aus der Zeitung ausgeschnitten, da trat Hanna ins Wohnzimmer. »Dodo, du sollst bitte zu deiner Großmama kommen. Sie möchte einen kleinen Spaziergang in den Park unternehmen und benötigt eine Begleitung.«
Dodo verzog das Gesicht. Spaziergänge mit der
Großmama gehörten nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, sie waren langweilig, weil man furchtbar langsam gehen musste, und über Flugzeuge konnte man mit ihr überhaupt nicht reden. Im Gegenteil, wenn Dodo davon anfing, bekam sie zu hören, dass ein junges Mädchen sich für hübsche Kleider und gutes Benehmen in der Gesellschaft interessieren sollte.
»Warum geht Leo nicht mit ihr in den Park?«
»Dein Bruder muss Klavier üben. Frau Obramowa will, dass er demnächst in einem Konzert im Konservatorium vorspielt.«
»Der hat immer eine Ausrede, der Leo«, murrte Dodo, nahm resigniert den kostbaren Zeitungsausschnitt an sich und gab Hanna die Schere, damit sie sie zurück in die Schreibtischschublade legte.
»Ach ja«, wandte sich das Küchenmädchen an Elisabeth Winkler. »Verzeihung, gnädige Frau, das hätte ich fast vergessen. Frau Grünling wartet unten in der Halle.«
»Du liebe Güte, Hanna!«, meinte Lisa vorwurfsvoll. »Warum sagst du das nicht gleich? Führ sie herauf zu mir und sag in der Küche Bescheid. Bestell Tee und Gebäck. Den Tee nicht zu stark, sonst bekommt Serafina Herzrasen.«
Hastig nahm Hanna den Kinderteller samt Löffel, legte die Schere zurück und eilte aus dem Zimmer. Auch Dodo hatte es auf einmal sehr eilig, sie verspürte wenig Lust, mit Frau Grünling zusammenzutreffen. Was daran lag, dass sie die ehemalige Gouvernante Serafina von Dobern noch in sehr trüber Erinnerung hatte.
»Dann wünsche ich ein angenehmes Teestündchen, Tante Lisa«, sagte sie an der Tür. »Pass ja auf, dass sie dich nicht beißt!«
»Frechdachs!«, lachte Lisa und stand vom Sofa auf, um
sich ihre Jüngste zu greifen, die mit klebrigen Fingerchen die gewachste Biedermeierkommode bearbeitete. Sie gab ihr eines der Stofftiere, die überall im Wohnzimmer herumlagen, und Charlotte, die zuerst unwillig geknötert hatte, drückte den weißen Teddybären zärtlich an ihr Herz. Gerührt betrachtete Lisa ihr kleines Mädchen und verspürte eine tiefe Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, das sie nach langen Irrwegen zu einem erfüllten Dasein geführt hatte. Sebastian war ein liebevoller Ehemann und Vater, dem sie drei gesunde Kinder geschenkt hatte, und sie alle lebten geborgen im Schoß der großen Tuchvilla-Familie. Ja, Lisa war inzwischen sogar zum Mittelpunkt der Familie geworden, Marie war den ganzen Tag über mit ihrem Modesalon beschäftigt, Mama wurde langsam alt und war sehr froh, dass Lisa ihr die Organisation des Hauswesens abnahm. Sie wurde hier in der Tuchvilla gebraucht und geliebt, und sie gab diese Liebe weiter an alle Menschen, die ihrer bedurften.
Dazu gehörte inzwischen wieder ihre Jugendfreundin Serafina, eine geborene von Sontheim und Witwe des Majors von Dobern. Nach dem Tod ihres Ehemanns hatte Serafina eine harte Zeit durchgemacht, sie und ihre Mutter waren so gut wie mittellos gewesen, und Serafina hatte sich gezwungen gesehen, sich als Gouvernante durchzuschlagen.
Ihre strengen preußischen Erziehungsvorstellungen waren Maries Zwillingen Dodo und Leo noch heute in böser Erinnerung, und auch die Freundschaft mit Lisa war daran zerbrochen. Lisa hatte sich von ihrer Jugendfreundin keine Vorschriften machen lassen, sondern ihre Entlassung als Gouvernante erzwungen. Für einige Jahre war daraufhin der Kontakt abgebrochen.
Eigentlich hatte Lisa nicht mehr damit gerechnet, Serafina je wieder in der Tuchvilla zu sehen. Aber nun war
es ganz anders gekommen. Die ehemalige Gouvernante hatte eine Stelle als Hausdame bei dem Rechtsanwalt Grünling angenommen, und es hatte nicht lange gedauert, dann war sie Frau Grünling geworden. Die Ehe war kinderlos, aber, wie es schien, keineswegs unglücklich. Grünling hatte seine wilden Jahre hinter sich, er fügte sich willig Serafinas Herrschaft, ja er war geradezu froh darüber, dass sie sein Leben organisierte und ihn mit fester Hand zurück auf den Pfad der Tugend geführt hatte. Als Frau Grünling war sie beharrlich darangegangen, sich ihre ehemalige gesellschaftliche Stellung zurückzuerobern, und hatte sich auch bei ihrer alten Freundin Lisa zurückgemeldet. Natürlich ging es Serafina dabei vor allem um die Verbindung zu der angesehenen Familie Melzer, die in der Augsburger Gesellschaft eine wichtige Rolle spielte. Da Lisa aber rundum mit ihrem Dasein zufrieden und nicht nachtragend war, hatten sich die beiden ausgesprochen, und Serafina war bereits zweimal in der Tuchvilla zum Tee eingeladen gewesen. Einen Gegenbesuch hatte Elisabeth Winkler abgelehnt.
»Meine liebe, gute Lisa!«, rief Serafina theatralisch, als ihr die Tür geöffnet wurde. »Wie großartig du aussiehst! Und dieses bezaubernde kleine Engelein auf deinem Arm. Mein Gott, sie schaut aus, wie von Raffael gemalt. So rosig und rundlich, ganz die Mama!«
Serafina hatte schon früher gern kleine Spitzen in überschwängliche Komplimente gemischt, doch Lisa hatte sich vorgenommen, darüber hinwegzusehen. Gut, sie hatte Charlotte erst vor zwei Monaten abgestillt, und ihre Körperformen waren immer noch üppig zu nennen. Aber in den kommenden Monaten würde sie einige überflüssige Pfunde loswerden, das hatte sie sich fest vorgenommen. So ließ sie sich geduldig von ihrer Freundin umarmen,
wobei die kleine Charlotte sofort anfing zu brüllen, als Serafina ihr mit kalten Fingern über die Wange strich.
»Wie lieb, dass du mich besuchst, Serafina. Entschuldige, Lottchen fremdelt in letzter Zeit ein wenig. Setz dich bitte, nimm den Stoffhund vom Sessel, und leg ihn auf das Sofa. Ach ja, da ist auch der rote Beißring, ich hab mich schon gewundert, wo der wohl geblieben ist.«
Serafina lächelte milde, warf Stofftier und Beißring auf das Sofa und fuhr mit der Hand über das Polster, bevor sie sich niederließ. Seitdem sie Frau Grünling war, trug sie teure, moderne Kleidung und hatte etwas zugenommen, was ihr gut stand. Von der dürren, grau gekleideten Gouvernante hatte sie sich weit entfernt – ihr Auftreten war jetzt das einer wohlhabenden Dame, die ihre adelige Herkunft durchblicken ließ.
»Was für ein Kinderparadies dieses Wohnzimmer ist«, fuhr sie fort. »Räumt die kleine Hanna denn niemals auf?«
»Hanna ist eigentlich gar nicht für mich zuständig, Finchen. Sie gehört zum Haushalt meiner Schwägerin. Die Kinderfrau ist zurzeit mit den Buben im Park.«
Es ärgerte Lisa, dass sie Serafina die Unordnung in ihrem Wohnzimmer erklären musste. Zum Glück kam Hanna gerade mit dem Tee herein und machte sich daran, den Tisch zu decken.
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, Frau Grünling«, sagte sie mit schlechtem Gewissen und erntete ein gönnerhaftes Lächeln.
»So hatte ich wenigstens Gelegenheit, die wunderschönen Gemälde in der Eingangshalle zu betrachten, meine liebe Lisa«, warf Frau Grünling ein. »Die Mutter deiner Schwägerin war wirklich eine ungewöhnliche Künstlerin! Gewiss nicht jedermanns Sache. Recht mutig von Paul, diese Bilder im Eingangsbereich aufzuhängen.
«
»Marie ist sehr stolz auf ihre Mutter«, verteidigte Lisa ihre Verwandte, obwohl sie einige dieser Kunstwerke im Grunde ihres Herzens sehr exzentrisch fand. Selbst Marie hatte solche, die sie Kinderaugen nicht zumuten wollte, dem Stadtmuseum als Dauerleihgabe überantwortet, andere, die tolerierbar waren, hingen in weniger auffälligen Bereichen wie dem Büro oder in Maries und Pauls Schlafzimmer. Im Speisezimmer allerdings hatte Alicia kein einziges der Gemälde dulden wollen, dafür hatte Paul drei Bilder mit in die Fabrik genommen, wo sie sein Arbeitszimmer verschönerten.
Hanna goss Tee ein, stellte einen Teller mit Gebäck auf den Tisch und nahm die kleine Charlotte mit hinaus.
»Wie beschaulich du lebst«, meinte Serafina und rührte Sahne in den gezuckerten Tee. »So ganz zurückgezogen mit deinen reizenden Kindern. Ich hatte eigentlich gehofft, dich beim Kunstverein zu treffen. Dort gab es eine Vernissage, die dich sicher interessiert hätte.«
»Du weißt ja, dass ich selten ausgehe«, gab Lisa zurück. »Das gesellschaftliche Leben ist mir fremd geworden, ich mag diese sinnentleerten Gespräche nicht, dieses Sich-voreinander-Spreizen, das ganze überflüssige Theater, das man dort aufführt. Es gibt so viele Dinge im Leben, die wichtiger sind.«
»Gewiss, meine Liebe«, stimmte Serafina zu. »Du hast einen wunderbaren Ehemann, der das gesellschaftliche Leben verachtet und sich lieber um seine Familie kümmert. Daneben findet er sogar die Zeit, sich für die unglücklichen Menschen einzusetzen, die keine Arbeit bekommen. Ein Idealist, dein Sebastian. Hoffen wir, dass sein Engagement für die Kommunistische Partei ihn nicht irgendwann in Schwierigkeiten bringt.«
»Ganz sicher nicht, Serafina«, gab Lisa zurück und
beugte sich vor, um der Freundin von einst den Gebäckteller zuzuschieben. »Sebastian ist sich der Verantwortung für seine Familie voll bewusst.«
»Davon bin ich überzeugt«, stimmte Serafina rasch zu, wobei ihre Miene sie Lügen strafte. »Stell dir vor: Gestern erzählte mir mein lieber Albert, er habe deinen Ehemann bei einem dieser scheußlichen Aufmärsche des Roten Frontkämpferbundes gesehen. Mit einem Transparent sei er neben den Uniformierten hergelaufen.«
Sie hielt einen Moment inne, um einen Schluck Tee zu nehmen, und lobte dessen Wohlgeschmack. Lisa hörte kaum zu. Die Vorstellung, Sebastian habe sich an einem dieser gefährlichen Umzüge beteiligt, traf sie mitten ins Herz. O Gott – er hatte ihr doch fest versprochen, so etwas niemals zu tun!
»Das ist ganz und gar unmöglich, Serafina«, brachte sie mit Mühe hervor.
»Ich habe Albert gleich gesagt, dass er sich getäuscht haben muss«, rief Serafina aus. »Das kann leicht geschehen, weil sich Sebastian ja von Kleidung und Benehmen her kaum von den Arbeitern unterscheidet. Er ist eben ein Mensch mit festen Grundsätzen, das kann man nicht hoch genug einschätzen, meine Liebe.«
Nein, Serafina hatte sich überhaupt nicht verändert, es gelang ihr nach wie vor, Lisas wunde Stelle zu erwischen und darin herumzubohren. Sebastians Entscheidung, den Posten als Buchhalter aufzugeben und stattdessen als einfacher Arbeiter in der Weberei anzufangen, hatte seinerzeit zu einem heftigen Zerwürfnis mit Paul geführt. Mittlerweile sprach man in der ganzen Stadt davon, dass der Schwager des Fabrikdirektors sich anzog wie ein Arbeiter. Zwar zeigte Sebastian sich niemals bei gesellschaftlichen Anlässen, dafür war er Mitglied der KPD und saß im
Betriebsrat der Fabrik, wo er beständig neue, unerfüllbare Forderungen stellte, die das Leben der Arbeiter verbessern sollten. Für Paul war er ein beständiges Ärgernis, und Alicia hatte bekümmert erklärt, das komme davon, wenn man unter seinem Stand heirate. Allein Marie war der Ansicht gewesen, man könne einen Menschen wie Sebastian nicht gewaltsam zu einem Leben zwingen, das ihm nicht gemäß sei. Er würde daran zerbrechen. Lisa war der gleichen Ansicht. Sie liebte ihren Mann und verteidigte ihn wie eine Löwin gegen alle, die ihn kritisierten.
»Unsere Welt wäre besser«, sagte sie voller Überzeugung, »wenn jeder von uns die Ideale der Brüderlichkeit und der Selbstlosigkeit beherzigen würde. So, wie sie unser Herr Jesus Christus in der Bergpredigt verkündigt hat. Insofern ist die Idee des Kommunismus auch eine zutiefst christliche Vorstellung!«
So hatte Sebastian ihr den Zusammenhang zwischen Christentum und Kommunismus einmal erklärt, und sie hatte es sich gut gemerkt, um es seinen Kritikern bei passender Gelegenheit vorzuhalten. Schließlich konnte niemand etwas gegen die Bergpredigt sagen. Leider erntete sie nichts als ein herablassendes Lächeln von ihrer Gesprächspartnerin, was sie noch mehr gegen Serafina aufbrachte und sie zu früheren, gar nicht so freundlichen Gewohnheiten trieb. Wenn es sein musste, konnte Lisa ganz schön austeilen.
»Wer hätte seinerzeit gedacht, meine liebe Serafina, dass wir beide uns einmal als glückliche Ehefrauen wiederfinden und miteinander Tee trinken würden«, bemerkte sie mit gespielter Heiterkeit. »Neulich hat Paul gesagt, dass Rechtsanwalt Grünling seit seiner Heirat mit dir ein völlig anderer Mensch geworden sei.«
Serafina freute sich sichtlich über dieses Lob, schließlich
hatte sie sich diesen Wiederaufstieg hart erarbeitet. Es gab Gerüchte, dass Grünling zu Anfang mit seiner Hausdame keineswegs zufrieden gewesen sei und sich sogar mit dem Gedanken getragen habe, sich von dem Hausdrachen zu trennen. Aber Serafina hatte es offenbar verstanden, ihren Brotherrn von ihren Qualitäten zu überzeugen, vor allem angeblich im erotischen Bereich, worüber ebenfalls Gerüchte im Umlauf waren.
»Das hat dein Bruder schön gesagt, Lisa. Mein Albert ist im Grunde seines Herzens ein gütiger und liebevoller Mensch. Er brauchte einfach eine verlässliche Person an seiner Seite, die seine guten Anlagen zur Blüte brachte.«
Sie nahm sich mit einer gezierten Bewegung eines der angebotenen Nussplätzchen und steckte es in den Mund. Lisa schenkte ihr ein Lächeln und schoss den Pfeil ab.
»Paul ist sogar der Ansicht, dass dein Albert ein wenig zu sanft geworden ist, um weiterhin die juristische Betreuung der Fabrikangelegenheiten zu übernehmen. Du weißt ja, dass ein Rechtsanwalt energisch die Position seines Mandanten vertreten muss.« Sie vernahm ein dumpfes Knacken, als Serafina auf den Keks biss und sogleich mit der Hand an ihren Mund fuhr.
»Oh Finchen!«, rief Lisa erschrocken aus. »Du hast dir doch nicht etwa wehgetan? Diese Haselnüsse sind etwas hart, wenn sie aus dem Backofen kommen.«
Serafina gab keine Antwort. Sie kaute ein wenig, zog ein Taschentuch aus ihrem Beutel und drehte sich so, dass Lisa nicht sehen konnte, was sie tat. Wie es schien, spuckte sie den Keks wieder aus.
»Hart wie Ftein«, nuschelte sie und wischte sich den Mund ab. »Unfaffbar, daff daf Perfonal so etwaf auf den Tisch bringt!«
»Oh, das tut mir entsetzlich leid, Finchen!
«
Lisa war zwar ehrlich erschrocken über diesen Unfall, doch ihr Mitleid hielt sich in Grenzen. Sie schenkte Serafina Tee ein, versprach, der Köchin eine Rüge zu erteilen, und bat die Besucherin, sich den schönen Nachmittag nicht verderben zu lassen.
»Möchtest du vielleicht das Bad benutzen? Es ist noch nicht ganz fertig, aber es gibt einen großen Spiegel und ein Waschbecken aus Marmor.«
Serafina unterbrach sie und lehnte ab. »Leider muff ich gehen«, verkündete sie undeutlich. »Iff habe noch einige Befuche zu machen und möchte dif nicht weiter von deinen häuflichen Pflichten abhalten.«
»Natürlich.« Lisa nickte scheinheilig und machte keine Anstalten, Serafina aufzuhalten. »Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder«, gab sie kühl von sich.
»Gewiff, meine Liebe … Und nicht wahr, daf über Albert hat Paul nur im Scherz gefragt, oder?«
»Oh nein, es war sein vollster Ernst.«
Das war nicht ganz die Wahrheit, denn Paul hatte diese Bemerkung halb ernst und halb scherzhaft gemacht. Lisa war trotz des kleinen Keksunfalls einfach nicht bereit, zurückzustecken. Zu heftig hatte Serafina ihre Ängste ausgenutzt und geschürt. Die Freundin war sichtlich blasser geworden, brachte nur noch ein schwaches Adieu heraus und begab sich zur Zimmertür.
»Hanna! Frau Grünling möchte gehen!«
Statt Hanna erschien Gerti, die höflich vor dem Gast knickste und mit ihr hinüber ins Haupthaus ging, um sie die Treppe hinunter in die Halle zu geleiten, wo sie ihr in den Mantel half. Gleich darauf erschien sie wieder im Wohnzimmer der Winklers, um das Teegeschirr abzuräumen.
»Meine Güte«, sagte sie kopfschüttelnd. »Die arme
Frau Grünling! Sie hat einen Zahn verloren. Oben rechts ist eine Lücke.«
»Wie unangenehm«, meinte Lisa mit unschuldiger Miene. »Nun ja, ihre Zähne sind sowieso falsch, der Zahnarzt wird bestimmt helfen können. Und sag Frau Brunnenmayer, ihre Kekse seien etwas hart gebacken.«
»Gern, gnädige Frau.«
Lisa erhob sich, um ans Fenster zu gehen und nach Rosa und den Jungen Ausschau zu halten. Was trieben sie bloß so lange im Park? Es war zwar ein sonniger Tag, der Frühling lag in der Luft, und auf den Wiesen sprossen Inseln von violetten Krokussen und gelben Narzissen. Trotzdem war es noch kühl, und unter den Wacholdersträuchern überzog weißlicher Frost, der von der Nacht geblieben war, die Erde. Als sie die Fensterflügel öffnete, drangen aufgeregte Rufe an ihre Ohren. Du liebe Güte! Das war Sebastian, der dort unten mit den Jungen Ball spielte. Was taten die denn da? Wenn das nur Mama nicht sah! Sie war der Ansicht, dass der Fußball lediglich etwas für Arbeiter und das einfache Volk sei. Jetzt spielten da der Gärtner Christian mit und der sechsjährige Fritz Bliefert, Augustes Jüngster. Wie sie herumrannten! Die Hosen der Buben starrten bereits vor Dreck, weil sie ständig hinfielen. Sogar Sebastians Kleider sahen beklagenswert aus, was ihn nicht daran hinderte, Christian den Ball abzujagen. Diese Mannsbilder! Große Kinder waren sie allesamt.
Erleichtert entdeckte sie, dass Rosa den zappelnden Hanno auf dem Arm hielt und ihn nicht auf den Boden ließ. Sie litt Höllenangst, dass er bei dem wilden Getobe dabei sein wollte.
»Rosa!«, rief sie nach unten. »Bring Hanno nach oben. Und die anderen auch.«
Sebastian, der ihr Rufen gehört hatte, sah zu ihr herauf
und winkte ihr fröhlich zu. Dann klatschte er in die Hände und erklärte das Spiel für beendet. Lisa schloss das Fenster. In einer knappen Stunde würden sie gewaschen und frisch angekleidet zum gemeinsamen Abendessen antreten müssen – Mama wartete nicht gern. Hanna kümmerte sich um den Badekessel, Gerti war für die Garderobe zuständig.
Als der Essensgong aus dem Haupthaus herüberklang, zog Sebastian noch rasch die graue Hausjacke über, die Lisa ihm gekauft hatte. Sie war ein Kompromiss, der vor Alicias kritischen Augen gerade mal Bestand hatte, denn im Anzug zu den Mahlzeiten zu erscheinen, wie es in der Tuchvilla eigentlich üblich war, hatte der Schwiegersohn strikt abgelehnt. Er fand es schlimm genug, dass Lisa ihn zu Anfang ihrer Ehe in die Anzüge ihres Vaters gesteckt hatte, in denen er sich fürchterlich gefühlt hatte. Er wolle seine Herkunft und seine Überzeugungen auf keinen Fall verleugnen, hatte er damals zu ihr gesagt. Sonst könne er nicht mehr reinen Gewissens in den Spiegel sehen.
Während Rosa und Hanna mit den Kindern hinübergingen, wandte Lisa sich mit einer Frage an ihren Mann, die ihr seit dem Besuch Serafinas auf der Seele lag.
»Sag einmal, Liebster. Könnte es sein, dass du vor einiger Zeit bei einem der Umzüge deiner Partei mit einem Transparent in den Händen mitgelaufen bist?«
Lügen konnte Sebastian nicht. Sofort nahm sein Gesicht einen schuldbewussten Ausdruck an.
»Das war ein Freundschaftsdienst«, versicherte er verlegen. »Ich kam gerade vorbei, als sie vorüberzogen, und da klagte ein Bekannter, sein Arm schmerze fürchterlich, ob ich nicht sein Transparent für kurze Zeit tragen könne. Das wollte ich nicht ablehnen, das wirst du verstehen.«
»Und was stand auf dem Schild?«
Er zuckte die Schultern und lächelte unsicher. »Ich
glaube, da stand:
Alle Macht dem arbeitenden Volk
. Aber ich schwöre dir, Lisa: Ein paar Straßen weiter habe ich es ihm zurückgegeben.«
»Oh Sebastian«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich hatte dich gebeten, niemals an solch einem Umzug teilzunehmen. Du weißt, welche Angst ich um dich habe.«
Er legte zärtlich den Arm um sie und küsste sie auf die Stirn. »Versteh bitte, Liebling. Es könnte bald ein neuer Reichstag gewählt werden. Da müssen wir Präsenz und Stärke zeigen. Die anderen tun es ebenfalls.«
»Nein, Sebastian«, rief sie energisch. »Ich möchte auf keinen Fall, dass du …«
Der Essensgong tönte mitten in ihren Satz hinein, und ihr Ehemann nutzte die Lage, um sie bei der Hand zu fassen und in Richtung Haupthaus zu ziehen.
»Komm rasch. Wir dürfen sie nicht warten lassen.«