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W as für ein wunderschönes Wetter! Marie öffnete die Ladentür ihres Ateliers und trat auf die Karolinenstraße hinaus, um ein wenig frische Luft und Sonnenschein in sich aufzunehmen. Viele Menschen waren an diesem gewöhnlichen Wochentag unterwegs, schlenderten durch die Straßen und bewunderten die Auslagen der Geschäfte. Sie alle trugen noch die Wintermäntel, aber die Hüte waren wie die dicken Wollschals bereits zu Hause geblieben. Gewiss war es nicht für alle ein Vergnügen, viele liefen in der Stadt herum, weil sie arbeitslos waren, denn wieder hatte es eine Entlassungswelle gegeben, und in der Nachbarschaft hatten einige Geschäfte sogar schließen müssen. Auch Marie machte sich Sorgen, nur war es ihr Vorteil, dass sie von den Einnahmen aus ihrem Atelier nicht leben musste.
Es wird Frühling, dachte sie verträumt. Das junge Laub bricht aus den Knospen, die Natur erwacht zu neuem Leben. Nun wird alles besser werden.
Zwei junge Mädchen blieben stehen, flüsterten miteinander und schauten dabei immer wieder zu ihr her. Oh weh, dachte sie und wollte schnell zurück ins Atelier gehen, aber da war es schon zu spät.
»Grüß Gott«, sagte eine der beiden schüchtern zu ihr. »Sie sind die Frau Melzer, nicht wahr?«
Es war die Größere von beiden, eine schlanke Braunhaarige, die sich als Erste ein Herz gefasst hatte. Die andere trug einen gut geschnittenen dunkelblauen Mantel und einen Hut, der ganz sicher ihrer Mutter gehörte.
»Die bin ich«, sagte Marie. »Was kann ich für euch beide tun?«
Was nun folgte, hatte sie bereits häufig zu hören bekommen, und es tat ihr im Herzen weh, nicht helfen zu können. Die beiden hatten im vergangenen Jahr die Schule beendet, danach Schreibmaschine und Stenografie gelernt, doch keine Anstellung als Sekretärin gefunden.
»Da haben wir gedacht, Sie könnten vielleicht zwei fleißige Näherinnen in Ihrem Atelier gebrauchen?«
Die Dunkelhaarige blieb die Wortführerin und machte ihre Sache gar nicht schlecht. Sie habe das Nähen daheim bei ihrer Mutter gelernt, einer Schneiderin, die Heimarbeiten angenommen habe. Ihre Freundin habe geholfen und zweimal die Woche feine Borten und Säume genäht. Sie hätten auch ihre eigenen Kleider immer selbst geschneidert.
»Fragen Sie im kommenden Monat noch einmal nach«, vertröstete Marie die beiden. »Momentan ist die Auftragslage leider nicht so, dass ich weitere Näherinnen einstellen könnte.«
Tatsächlich waren ihre Aufträge drastisch zurückgegangen, sodass sie eigentlich eine ihrer Angestellten hätte entlassen müssen. Aber das wollte Marie ihren langjährigen Mitarbeiterinnen auf keinen Fall antun und schickte sie meist eine Stunde früher nach Hause, wenn es nichts mehr zu nähen gab.
»Im nächsten Monat?«, sagte das junge Mädel hoffnungsfroh. »Das tun wir gern. Und ganz lieben Dank, Frau Melzer. Ihr Atelier ist ja so wunderschön, wir haben oft davorgestanden und uns die Kleider angeschaut. «
Nachdem sie sich von den Mädchen verabschiedet hatte, kehrte Marie in ihren Laden zurück. Sie fröstelte, merkte, dass es draußen noch recht kühl war und dass der helle Sonnenschein über den an vielen Stellen nach wie vor gefrorenen Boden hinwegtäuschte. Sie war heute mit den Näherinnen allein, Frau Ginsberg, die sich sonst gemeinsam mit ihr um die Kundinnen kümmerte, litt seit Wochen unter einem hartnäckigen Husten, deshalb hatte Marie ihr gestern Abend gesagt, sie solle ein paar Tage zu Hause bleiben.
Sie war nicht glücklich über diese Anweisung gewesen, die ehemalige Klavierlehrerin arbeitete gern bei Marie, war sogar ihre beste und verlässlichste Kraft, doch sie hatte schließlich eingesehen, dass Marie recht hatte. In einer guten Stunde würde Frau Mantzinger zur Anprobe kommen, der neue Frühjahrsmantel war schon zusammengereiht. Ein traumhaft schöner Entwurf aus weichem dunkelgrünem Tuch, auf Taille genäht, mit weiten Ärmeln, die am Handgelenk gerafft waren, der Kragen war großzügig geschnitten und konnte aufgestellt getragen werden. Die Kundin war eine der Damen, die bisher alle Modelle prompt und ohne Abzug bezahlt hatten. Ganz im Gegensatz zu manch anderer Kundin, die zwar bestellte und die fertigen Kleidungsstücke mitnahm, aber es nicht eilig hatte, die Rechnung zu begleichen. Marie hatte inzwischen einen ganzen Stapel unbezahlter Rechnungen in ihrem Büro liegen, sie hatte Erinnerungen geschickt, schließlich Mahnungen geschrieben, in den meisten Fällen war nicht viel zu machen gewesen. Die Damen hatten das Geld nicht, sie hätte einen Rechtsanwalt einschalten und vor Gericht klagen müssen. Davor schreckte sie zurück – schließlich waren es fast alles Stammkundinnen, und sobald sich die wirtschaftliche Lage beruhigte, würden sie schon bezahlen .
Dass sie den Einsatz eines Rechtsanwalts vermeiden wollte, lag außerdem an diesem Grünling, den Paul in solchen Fällen beauftragte und der ihr ausgesprochen unsympathisch war. Von seiner Frau, der ehemaligen Serafina von Dobern, erst gar nicht zu reden. Es war für Marie vollkommen unverständlich, dass Lisa diese dreiste Person mehrfach in der Tuchvilla zum Tee empfangen hatte. Allerdings schien es so, als hätte die wiederbelebte Freundschaft einen neuerlichen Knacks bekommen. Gerti hatte ihr erzählt, dass Frau Grünling vor Kurzem die Tuchvilla in eiliger Flucht verlassen habe und alle im Hause offenbar heimlich erfreut gewesen seien. Was genau vorgefallen war, wusste Gerti nicht, Dodo hatte grinsend erklärt, die »Schlange« habe sich einen »Giftzahn« ausgebissen. Wofür die Mutter sie gerügt hatte. Dodo war so schrecklich unkonventionell, manchmal machte Marie sich Sorgen, dass es ihre Tochter im Leben einmal schwer haben würde. Sie kam eben nach ihrer Großmutter, der Malerin Luise Hofgartner, Maries verstorbener Mutter. Eine junge Frau, die mutig und unbeirrt ihren Weg gegangen und dabei auf unglückselige Weise zu Tode gekommen war.
Marie schaute kurz ins Nähzimmer hinein, wo ihre Angestellten fleißig an der Arbeit waren, einige Aufträge erledigten, unter anderem für Lisa und Kitty, die jüngere Schwägerin. Dann blieb ihr nichts anderes übrig, als in ihr kleines Büro zu gehen, um sich mit unbezahlten Rechnungen zu befassen und Mahnungen loszuschicken. Vielleicht hatte sie damit ja Erfolg, immerhin benötigte sie Geld, um neue Stoffe einkaufen zu können. In diesem Monat sah es schrecklich trübe aus. Wenn sie ihre Angestellten bezahlt und die Kosten für Material, Strom und Kohlen beglichen hatte, würde ihr nicht mehr viel bleiben.
»Marie? Ach, hier steckst du, meine Herzensmarie! Unglaublich! Bei diesem strahlend schönen Wetter hockst du in diesem düsteren Büro herum!«
Kitty hatte die Bürotür aufgerissen und stand kopfschüttelnd im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie trug eines der elegant-sportlichen Kostüme, die Marie für sie genäht hatte, und wie üblich sah sie umwerfend aus.
»Kitty! Wie schön, dass du bei mir hereinschaust«, sagte Marie erfreut, denn in Gegenwart ihrer quirligen Schwägerin würde sie an andere Dinge als an Mahnungen denken.
»Nun, das wurde auch Zeit«, schwatzte Kitty fröhlich daher. »Ich muss schließlich mein neues Abendkleid anprobieren. Hast du mir die weißen Straußenfedern besorgen können?«
Kittys exquisite Wünsche waren nicht immer leicht zu erfüllen, dieses Mal hatte Marie Glück gehabt und eine Anzahl weißer Straußenfedern aus Amerika ergattert. Sie waren nicht ganz billig, doch Robert verdiente gut und zahlte willig alle Rechnungen seiner anspruchsvollen Ehefrau.
»Ich habe es in den Wintergarten gehängt, du kannst es in aller Ruhe dort anprobieren. Magst du einen Mocca dazu?«
»Einen Mocca? Nein danke, ich habe zwei Tassen Kaffee im Café Brüning getrunken, noch ein Mocca und ich fahre durch die Decke. Aber dich, meine liebe Marie, brauche ich bei der Anprobe, also lass jetzt deine Buchführung liegen, und komm mit mir.«
»Selbstverständlich, Kitty. Allerdings kommt gleich Frau Mantzinger, um ihren Mantel anzuprobieren.«
Kitty hörte nicht mehr zu. Sie war bereits im Wintergarten, und Marie vernahm helle Begeisterungsrufe. Lächelnd folgte sie ihrer Schwägerin, die in seidener Unterwäsche in dem begrünten Raum stand, half ihr in das knapp genähte, wadenlange schwarze Kleid, an dessen ausgestellter Schleppe weiße Pailletten und Büschel von zarten Straußenfedern befestigt waren.
»Gott, ist das bezaubernd!«, rief Kitty aufgeregt. »Schau mal, wie sie schweben, wenn ich mich drehe. Ich komme mir vor wie ein Paradiesvogel, Marie. Ich könnte davonfliegen vor Freude. Ach, wenn Robert das sieht! Er wird hingerissen sein und es mir sofort ausziehen wollen.«
Tatsächlich war das Abendkleid großartig gelungen. Ein Unikat, das kein zweites Mal genäht werden konnte – da es eben nahezu unmöglich war, solch teure Federn in dieser Größe und Qualität zu besorgen. Marie zupfte etwas am Rückenausschnitt herum, der ihr ein wenig zu tief erschien, aber Kitty wollte ihn genau so haben.
»Es ist einfach ein Traum, Marie«, schwärmte sie. »Ich werde es vor Henny verstecken müssen. Stell dir vor, meine Tochter geht an meine Kleiderschränke und zieht meine Sachen an. Und zu allem Unglück passen sie ihr. Ist das zu glauben? Sie ist vierzehn und hat meine Kleidergröße. Und auch ansonsten …«, seufzte sie.
Marie hörte geduldig zu, wie sich Kitty über ihr einziges Kind beklagte. Faul sei sie, die Schulnoten seien beklagenswert, nur im Rechnen sei sie erstaunlich gut. Ihr wunderbares Talent im Malen und Zeichnen hingegen vernachlässige sie, laufe lieber am Nachmittag in der Stadt herum, um angeblich eine Freundin zu besuchen.
»In Wirklichkeit war sie mit einem Jungen verabredet, stell dir das vor! An der Schule hat er sie abgeholt, und dann sind sie miteinander in den Gassen herumgelaufen. Gertrude hat Henny gestern auf einer Bank am Dom erwischt. Dort hat sie gesessen und Kuchen gegessen. Und schlimmer noch: Sie war in Begleitung von drei Knaben. Einer hat ihre Schultasche getragen, ein anderer den karierten Schal, und der dritte hat den Kuchen gekauft.«
Marie musste sich um eine empörte Miene bemühen, um Kittys Aufregung gerecht zu werden. Henny war genauso alt wie Dodo, dabei von völlig anderer Art. Vor ungefähr einem halben Jahr hatte sie einen kleinen Busen bekommen, die Taille war gertenschlank und der Po hübsch gerundet. Henny hatte schnell begriffen, dass diese neuen weiblichen Attribute ihre Anziehungskraft auf das männliche Geschlecht weiter verstärkten, und das nutzte sie gnadenlos.
Während Marie es gelassen nahm, regte sich Kitty auf. »Ich verstehe überhaupt nicht, von wem sie das hat. Von ihrem Vater, meinem armen Alfons, der so früh sein Leben verlor, jedenfalls nicht!«
»Nein«, bestätigte Marie schmunzelnd, bevor Kitty wieder das Wort ergriff.
»Wegen der Frau Mantzinger, dieser alten Giftziege, brauchst du mich wirklich nicht allein zu lassen. Stell dir nur mal vor, was sie neulich zu mir gesagt hat …«
»Kitty, ich bitte dich! Ich möchte diese Klatschgeschichten nicht hören!«
Maries Abwehr machte wenig Eindruck auf Kitty. Sie lachte vergnügt auf. »Ach, ich weiß ja, dass du der gütigste Mensch auf der Welt bist, meine liebe Herzensmarie. Sie hat ja gar nicht über dich gelästert, dann nämlich hätte ich ihr auf der Stelle die Augen ausgekratzt. Nein, es ging um Frau Ginsberg.«
»Um Frau Ginsberg?«, staunte Marie, die ihre Angestellte als eine höfliche und kluge Person kannte, die bei allen Kundinnen beliebt war. Ihr Sohn Walter war Leos bester Freund, gemeinsam studierten sie Musik am Augsburger Konservatorium .
»Genau!«, rief Kitty, und man sah ihr die Empörung deutlich an.
»Dieses Weib hat tatsächlich gesagt, diese Judenschickse sei nicht gut für das Renommee des Ateliers. Was sagst du dazu?«
Marie wollte es nicht glauben. Nie hatte Frau Mantzinger etwas Derartiges in ihrer Gegenwart verlauten lassen, auch war sie zu Frau Ginsberg bisher immer höflich gewesen. Etwas kühl vielleicht, aber höflich.
»Bist du sicher, dass sie das wirklich gesagt hat, Kitty?«, fragte sie beklommen.
»Glaubst du vielleicht, ich hätte mir das ausgedacht?«, schmollte die Schwägerin. »Ich habe ihr natürlich deutlich gesagt, dass ich anderer Meinung bin. Da hat sie nur mit den Schultern gezuckt. Meine liebe Marie, du bist eine große Traumtänzerin, muss ich dir sagen. Es sind nicht alle Menschen so offen und ehrlich, wie du glaubst. Ich bin da eine rühmliche Ausnahme und hoffe sehr, du weißt das zu schätzen!«
»Ach, Kitty!« Marie umarmte die Schwägerin. »Natürlich weiß ich das. Ich danke dir für deine Offenheit, selbst wenn es keine schönen Dinge sind, die ich da erfahre.«
Kitty zupfte zufrieden ihr Kleid zurecht, sah noch einmal kritisch in den großen Wandspiegel und lächelte ihrem Bild zu. Sie war jetzt Mitte dreißig, immer noch zierlich und schlank, das dunkle Haar trug sie inzwischen schulterlang, steckte es ab und zu auf oder drehte es zu einer Lockenfrisur ein. Seit vier Jahren war sie in zweiter Ehe mit Robert Scherer verheiratet, der vor Jahren in der Tuchvilla Hausdiener gewesen war und sich damals unsterblich in die junge Kitty verliebt hatte. Er war später nach Amerika ausgewandert, hatte dort ein wechselvolles Schicksal und eine tragische Liebe erlebt und war desillusioniert, wenngleich reich, nach Deutschland zurückgekehrt. Dort begegnete er Kitty wieder, die mit Schwiegermutter und Tochter das Haus in der Frauentorstraße bewohnte, das ihnen nach dem Zusammenbruch des Bankhauses Bräuer erhalten geblieben war. Es war der rechte Moment, einer jener glücklichen Augenblicke, die das Schicksal manchmal aufblitzen ließ und die man ergreifen musste, bevor es zu spät war. Die beiden fanden zueinander.
Marie vernahm jetzt die Türklingel – das war vermutlich Frau Mantzinger, die zur Anprobe kam. Wie unangenehm. Sie wünschte, Kitty hätte ihr alles nicht erzählt!
»Geh nur«, meinte die schulterzuckend. »Ich schau mir inzwischen deine Zeichnungen an. Ist wieder etwas Neues dabei?«
Marie hatte ständig neue Einfälle, die sie hastig mit wenigen Strichen festhielt und in eine der Mappen legte, die im Wintergarten für die Kundinnen auf dem Tisch ausgebreitet waren.
»Natürlich, Kitty. Vor allem in der blauen Mappe, das sind Nachmittags- und Abendkleider …«
Frau Mantzinger hatte auf einem der weißen Stühle Platz genommen, sie war Ende sechzig, hatte sich aber ausgezeichnet gehalten und stets auf ihre Figur geachtet. Sie zog den Handschuh aus und reichte Marie die Hand.
»Meine liebe Frau Melzer, es ist immer solch eine Freude, bei Ihnen etwas anfertigen zu lassen. Ein Atelier wie dieses gibt es kein zweites Mal in Augsburg, ich wüsste gar nicht, wie ich ohne Sie auskommen sollte.«
Marie lächelte und bemühte sich, sich ihre Befangenheit nicht anmerken zu lassen.
»Ach bitte, Frau Mantzinger, übertreiben Sie nicht. Sie machen mich sonst ganz verlegen. Ich liebe meine Arbeit, ohne zu glauben, einzigartig zu sein. «
Sie bat die Kundin in den Anproberaum und zeigte ihr den Mantel, der mehr oder weniger fertig war bis auf ein paar Kleinigkeiten. Vor allem die Länge musste abgesteckt werden, eins der Bündchen erschien der Kundin zu eng, außerdem legte ihr Marie eine Auswahl verschiedener Knöpfe vor.
»Wissen Sie, Frau Melzer«, sagte die Kundin, während sie die Knöpfe begutachtete, »die Zeiten sind ja nicht einfach, dennoch habe ich zu meinem Mann gesagt: »Wir müssen dafür sorgen, dass uns das Atelier von Frau Melzer auf jeden Fall erhalten bleibt.«
Sie bestellte zwei Reithosen und eine Jacke, weil man den Sommer auf dem Gutshof des Schwagers in Brandenburg verbringen und Frau Mantzinger in den Sattel steigen wollte. Marie präsentierte ihr mehrere Stoffe, die zu diesem Zweck geeignet waren, und versprach, Entwürfe zu zeichnen.
»Am Dienstagvormittag schaue ich wieder vorbei«, versprach die Kundin und sah auf die Uhr. »Bis dahin sind die Entwürfe und der Mantel gewiss fertig, oder?«
»Ganz sicher, Frau Mantzinger. Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Tag.«
Sie drückte Maries Hand zum Abschied, lächelte herzlich und zog ihren weißen Handschuh erst an, als sie auf der Straße stand. Nach Frau Ginsberg, die sonst immer im Laden war, hatte sie mit keinem Wort gefragt.
»Weg ist sie«, sagte Kitty, die aus dem Wintergarten kam. »Vielleicht fällt sie im Sommer ja vom Pferd. Wer weiß?«
»Kitty! Man soll niemandem etwas Böses wünschen.«
»Ich hab’s ihr ja nicht gewünscht«, verteidigte sich ihre Schwägerin. »Ich habe nur überlegt, dass sie ruhig mal von ihrem hohen Ross … «
Die Eingangstür wurde so heftig aufgerissen, dass die Glöckchen laut schrillten. Henny stand in der Tür, das blonde Haar zerzaust, die helle Jacke voller Flecke.
»Mama! Gott sei Dank!«, rief sie aufgeregt. »Ich hab dein Auto drüben gesehen und gleich gewusst, dass du bei Tante Marie bist.«
»Was ist denn passiert, Henny?«, rief Kitty erschrocken. »Wie siehst du überhaupt aus? Ist das etwa ein Riss dort an deinem Ärmel?«
»Du solltest erst mal Leo sehen, Mama. Und Walter«, sprudelte die Tochter hervor. »Sie warten draußen, du musst Walter sofort zu einem Doktor fahren. Seine linke Hand ist kaputt.«
Die beiden Frauen liefen aus dem Laden. Um Himmels willen, was war geschehen? Hoffentlich kein Verkehrsunfall? Wie oft hatten sie den Kindern eingeschärft, auf Fuhrwerke und Automobile zu achten, wenn sie die Straße überquerten. Auf dem gegenüberliegenden Gehweg stand eine Gruppe von fünf Jungen, alle etwa gleich alt. Marie entdeckte sofort ihren Sohn Leo, weil er die anderen um einen halben Kopf überragte. Er blutete an der Stirn und betupfte sich die Wunde immer wieder mit seinem Taschentuch. Neben ihm stand der kleinere Walter Ginsberg, das Gesicht leichenblass und vom Heulen verschmiert.
»Leo! Was ist geschehen?«
Dem Jungen war die Aufregung von Mutter und Tante sichtbar peinlich. Er warf Henny einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor er eine Antwort gab.
»Halb so schlimm, Mama. Aber Walter muss zum Doktor, seine linke Hand ist ganz taub. Er ist draufgefallen, als sie ihn umgeschmissen haben.«
»Wer hat wen umgeschmissen?«, forderte Kitty energisch Aufklärung .
Die Antwort war ein vielstimmiges Durcheinander, das Marie langsam zu ordnen vermochte. Offensichtlich waren Leo und Walter vom Konservatorium in der Maximilianstraße zur Straßenbahnhaltestelle gelaufen, wobei es unterwegs zu einer Prügelei gekommen war.
»Die haben uns aufgelauert, Mama. Der Willi Abele aus meiner Klasse war auch dabei.«
»Die hatten es auf Walter abgesehen, Tante Marie. Von Leo wollten die gar nichts. Die wollten Walter verprügeln. Weil er ein Jude ist.«
»Sechs waren es. Oder sieben. Und wir beide standen ihnen ganz allein gegenüber …«
»Bloß zu Anfang, Leo«, unterbrach Henny aufgeregt. »Weil ich dann mit Rudi, Klaus und Benno vorbeigekommen bin. Ich hab ihnen gesagt, dass du mein Cousin bist und dass sie dir helfen müssen.«
Henny war sehr stolz auf diese Hilfeleistung, denn sie verehrte ihren musikalischen Cousin. Leo war einer der wenigen Jungen, die ihrer Anziehungskraft bisher widerstanden hatten.
»Unfassbar«, stöhnte Kitty. »Prügeln sich auf der Straße herum wie die Bierkutscher. Erzähl das ja nicht Paulemann, Marie, den trifft sonst der Schlag.«
Marie hatte sich inzwischen Walter zugewendet und besah seine linke Hand. Der Junge schluchzte in heller Verzweiflung, denn er spürte seine Finger nicht mehr. »Ich, ich kann … ich kann nicht mehr Geige spielen.«
»Unsinn, Walter«, tröstete Kitty ihn. »Das ist sicher nur verstaucht und gibt sich wieder. Los, steig ein, ich fahr dich zu Doktor Greiner. Oder besser gleich ins Krankenhaus. Marie, liebste Marie. Du kümmerst dich bestimmt um diese Rasselbande. Oh mein Gott, Henny. Deine Jacke ist völlig ruiniert! Du hast nicht etwa mitgeprügelt? Lauf mal schnell ins Atelier, und bring mir meine Handtasche. Da ist der Autoschlüssel drin.«
Jetzt war Marie sehr froh, dass sich keine weiteren Kundinnen angesagt hatten. So konnte sie Beulen und Platzwunden behandeln, Pflaster kleben, Flecken beseitigen, Tee kochen und Nusskekse aus der Tuchvilla verteilen.
Kitty rief später von der Klinik aus im Atelier an. »Sei so lieb, und fahr Henny nach Hause, wenn du das Atelier zugemacht hast«, bat sie. »Es wird dauern, bis wir hier fertig sind. Walters Handgelenk ist gebrochen, vielleicht werden sie es sogar operieren müssen.«