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G
eht’s, Maxl? Wart, ich schieb an.«
Auguste blieb stehen und stellte die Tasche auf dem Marktkarren ab, um die Hände frei zu haben. Auf der gepflasterten Straße rollte der Karren recht gut, der sechzehnjährige Maxl war kräftig und zog seine Last so rasch voran, dass Auguste Mühe hatte mitzukommen. Aber sobald sie von der Haagstraße in den Seitenweg zur Gärtnerei abbogen, sanken die Räder in den aufgeweichten Boden ein, und der Junge hatte seine liebe Not, das wackelige Gefährt bis zur Gärtnerei zu ziehen. Auguste stemmte sich mit aller Kraft gegen die hölzerne Rückwand, und natürlich spritzte der nasse Lehm hoch und verdreckte ihr den Rock.
»Da müsste halt mal Schotter auf den Weg gekippt werden«, bemerkte Maxl, dem trotz des kühlen Regentags der Schweiß auf der Stirn stand.
»Da kannst warten, bis du schwarz wirst«, schimpfte die Mutter ächzend. »Die Herren droben im Rathaus, die lassen sich eher goldene Stühle bauen, als dass sie sich um unsereinen kümmern!«
Sie war schlecht gelaunt, weil der Verkauf auf dem Markt wieder einmal gerade mittelmäßig gewesen war. Die jungen Gemüsepflänzchen, Weißkohl, Rotkohl, Lauch und Kohlrabi, waren zwar bis auf einen kleinen Rest weggegangen, doch die Stiefmütterchen und Studentenblumen standen fast alle noch auf dem Wagen. Blumen waren in
diesen Zeiten Luxus. Die Leute hielten ihr Geld zusammen und kauften höchstens Gemüse ein, wenn sie es nicht im Garten hatten. Allerdings war selbst hiervon einiges nicht gekauft worden, mehrere Bündel von den dicken Lauchstängeln aus dem Treibhaus waren übrig geblieben, ebenso wie der Rhabarber, den die Kunden zu sauer fanden. Und bei den drei Trockensträußen, die sie losgeworden war, hatte sie sich wieder mal anhören müssen, dass die Sträuße früher schöner gewesen seien. Damals hatte sie ihre Tochter Liesl gebunden, die jetzt in der Tuchvilla Küchenmädel und für die Gärtnerei als Arbeitskraft verloren war.
Sie stellten den Wagen neben dem neuen Treibhaus ab, das sie im vergangenen Jahr für Gurken, Tomaten und Blumenkohl gebaut hatten und in dem das Gemüse immer ein paar Wochen früher als draußen auf den Beeten reifte. Da war sie den vielen Hausgärten in der Altstadt voraus und konnte die wohlhabenden Kunden bedienen.
Der Maxl war ein braver und fleißiger Bub, er hatte in der Schule zwar immer schlechte Noten bekommen, aber das war nach Augustes Meinung kein Hindernis, um ein guter Gärtner zu werden. Ganz selbstverständlich hob er die Kästen mit den Pflanzen vom Wagen, um sie zurück ins Treibhaus zu tragen, während seine Mutter ihre Tasche mit den heutigen Einnahmen an sich nahm und dabei hinüberschaute zum Gemüseacker, wo ihr Mann mit dem zehnjährigen Hansl und dem sechsjährigen Fritz gerade die jungen Kohlpflanzen aussetzte. Was für ein Jammer, dass es gestern zu regnen angefangen hatte, die Pflänzchen mussten jetzt in die Erde, da half es gar nichts, also wurde bei Regen gearbeitet. Dem armen Gustav fiel das besonders schwer, weil er mit seiner Fußprothese aus dem Krieg auf dem schlammigen Boden leicht ausrutschte
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»Das Gemüse und die Kräuter lass auf dem Karren, Maxl«, rief Auguste ihrem Sohn zu. »Das kauft die Liesl nachher für die Tuchvilla.«
Damit ging sie zu dem neu gebauten Haus, das ihr ganzer Stolz war. Klein war es, unten gab es gerade die Küche und das Wohnzimmer, oben unterm Dach hatten sie drei Schlafzimmer und ein richtiges Badezimmer. Nicht so fein natürlich wie in der Tuchvilla, wo die weiße Badewanne auf vier goldfarbigen Löwenpranken stand und man zwei Waschbecken aus weißem Porzellan an den gekachelten Wänden angebracht hatte. Aber ein richtiges WC, das hatte sein müssen, darauf hatte Auguste energisch bestanden. Sie war es leid gewesen, bei jedem Wetter über den Hof zum Häusl zu gehen, wo es im Winter so kalt war, dass einem alles einfror.
Für Wohnhaus und Gewächshaus hatten sie einen günstigen Kredit bei der Bank erhalten. Wenngleich die Schulden drückten, waren sie bisher einigermaßen zurechtgekommen. Außerdem hatten sie, weil der Christian nicht mehr bei ihnen wohnte, einen Esser weniger.
Sie zog das Regencape aus und schüttelte es kräftig, bevor sie ins Haus trat. Dort stellte sie die schmutzigen Schuhe vor der Haustür unter dem Vordach ab, damit der Holzboden nicht beschädigt wurde. Drinnen durfte man ausschließlich in Hauschuhen laufen. Auguste war sehr penibel mit dem neuen Haus, alles war blitzblank geputzt, die Möbel waren abgestaubt, auf dem alten Sofa lagen Häkeldeckchen, die die schadhaften Stellen verdeckten. Die hatte sie im Winter angefertigt, als es in der Gärtnerei nicht viel zu tun gab und die gnädige Frau Alicia ihr zu Weihnachten ein schönes Häkelgarn geschenkt hatte. Im Winter konnte sie zwischendurch auch immer für ein paar Stunden in der Tuchvilla aushelfen, egal ob beim Wäsch
ewaschen oder beim Großreinemachen. Ein Segen für ihren karg berechneten Haushalt.
Nachdem sie die heutigen Einnahmen gezählt hatte, machte sie sich in der Küche zu schaffen. Im Herd war noch Glut vom Morgen, sie legte Kohle nach, blies das Feuer an und wartete, bis es ordentlich brannte. Es würde wieder einmal einen Eintopf geben, da reichte ein kleines Stück Suppenfleisch für alle, dazu Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren vom Vorjahr aus dem Keller, ein paar Stangen frischer Lauch, damit es nach Frühling schmeckte. Aus dem Küchenfenster sah sie, dass Gustav sich auf die Bank gesetzt und einen Stiefel ausgezogen hatte. Wahrscheinlich scheuerte wieder einmal die elende Fußprothese, das geschah ziemlich oft, manchmal blutete der Stumpf sogar, dann musste sie Salbe draufschmieren und einen Verband drauflegen. Es war lästig, weil dann die Prothese nicht passte und Gustav ganz schief ging, was wiederum für seinen Rücken schlecht war. Der Krieg, der verdammte Krieg, der mittlerweile zwölf Jahre vorbei war – seine Folgen würden dem Gustav wohl ein Leben lang bleiben.
Sie wartete, bis es fast dunkel war, dann rief sie die Männer zum Essen herein, stellte sich in den Flur und passte genau auf, dass jeder die Schuhe auszog, und trug die schmutzigen Jacken und Hosen hinunter in den Keller, wo sich die Waschküche befand. Hände und Gesicht mussten vor dem Essen gewaschen, die Haare gekämmt und wenn möglich die Fingernägel gesäubert werden. Hier im eigenen Haus hielt sie es wie die Herrschaft drüben in der Tuchvilla: Zum gemeinsamen Mittag- und Abendessen, für das schön gedeckt wurde, zog man sich um. Deshalb stand bei Auguste immer ein Blumenstrauß auf dem Tisch, und am Sonntag stellte sie zusätzlich zwei Kerzenleuchter auf
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Die Männer waren mit dem Auspflanzen von Rotkohl und Weißkohl nicht ganz fertig geworden, würden also morgen noch einmal auf den Kohlacker gehen müssen, und was dann an Setzlingen übrig blieb, konnte Auguste auf dem Markt anbieten.
»Ja, wenn der Christian noch bei uns wär«, meinte Fritz. »Da hätten wir es leicht geschafft.«
Niemand widersprach. Alle gönnten dem Christian die gute Stellung als Gärtner in der Tuchvilla, wenngleich es ein schlimmer Verlust für Blieferts Gärtnerei gewesen war, als er fortging. Und die drei Buben waren darüber hinaus traurig, weil sie ihn wie einen großen Bruder betrachtet hatten.
Hungrig löffelten sie den Eintopf, Auguste achtete genau darauf, dass jeder etwas von dem Suppenfleisch auf den Teller bekam. Fritz war so müde, dass ihm fast der Löffel aus der Hand fiel und sie ihn gleich ins Bett bringen musste, der Hansl hatte noch Schularbeiten zu erledigen, was ihm eigentlich leichtfiel, wie er behauptete, aber an einem Tag wie heute schlief er meist über seinen Schulheften ein. Nur der Maxl war nicht müde, er redete mit seinem Vater über die Obstbäume, die sie im Herbst gepflanzt hatten, und wollte wissen, wann sie Früchte tragen würden.
»Das wird noch ein Weilchen dauern, Bub«, meinte Gustav und verzog das Gesicht, weil er für sein Bein die richtige Position suchte. »Frühestens in zwei oder drei Jahren können wir die ersten Äpfel und Birnen ernten.«
Sie waren gerade mit Essen fertig, und Auguste wollte den leeren Topf zurück in die Küche tragen, da läutete es an der Tür.
»Das ist die Liesl«, rief Hansl und ließ seine Schulhefte liegen, um der großen Schwester die Tür zu öffnen
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Sie hatte sich ein wollenes Tuch umgelegt und den großen Regenschirm von Fanny Brunnenmayer ausgeliehen. Bei der Köchin hatte das Mädel einen Stein im Brett, darauf war Auguste sehr stolz, denn Fanny Brunnenmayer war wählerisch mit ihrer Gunst.
»Bist spät dran, Liesl«, sagte sie. »Hab schon geglaubt, du kommst heut nicht mehr.«
Die Tochter zog brav die Schuhe aus und fuhr in die alten Hausschlappen, die für sie vor der Tür standen. »Ich muss immer erst mit der Frau Brunnenmayer sprechen, was sie für den kommenden Tag braucht«, entschuldigte sie sich. »Und dann war heut eine Menge los in der Tuchvilla, da ist es zudem spät geworden.«
»Setz dich halt hin, und gib den Zettel her.«
Viel war es grad nicht, was die Köchin für den morgigen Speiseplan bestellte. Petersilie und Schnittlauch, Dill und Kerbel, dazu drei Bündel Lauch – das war’s. Der Maxl wurde hinüber ins Gewächshaus geschickt, um alles zusammenzusuchen und in Zeitungspapier einzuschlagen.
»Nicht wieder die Kräuter, die bereits auf dem Markt gewesen sind«, rief ihm Liesl nach. »Schneid sie frisch ab, sonst will sie die Köchin nicht.«
»Die soll sich net so anstellen«, moserte Auguste. »Der Maxl hat sie ins Wasser gestellt, sie sind wie frisch geschnitten.«
»Wenn du so weitermachst, Mama, dann kauft sie nicht mehr bei uns.« Unzufrieden setzte sich Liesl neben ihren Vater, um ihn nach seinem Fuß zu fragen.
»Ist immer das Gleiche, Mädel. Mal besser, mal schlechter. Bin daran gewöhnt.«
Auguste dagegen, die Liesl ein Glas verdünnten Himbeersirup eingoss, wollte von ihr wissen, was es in der Tuchvilla Neues gab
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»Nichts Gutes, Mama. Der Kurti hat den ganzen Tag über hohes Fieber und schlimme Bauchschmerzen gehabt. Die Frau Melzer war ganz verzweifelt, sie hat Dr. Greiner bestellt, aber der ist erst am späten Nachmittag gekommen, und da war der Ausschlag schon da. Scharlach hat er, der arme Kleine.«
»Jessus!«, rief Auguste und schlug die Hände zusammen. »Da wird er gewiss den Johann und den Hanno anstecken. Was für ein Glück, dass ihr alle früher Scharlach hattet.«
Liesl berichtete, dass der Arzt versichert habe, Scharlach sei halt eine Kinderkrankheit, durch die alle durchmüssten. Viel schlimmer sei es, wenn man sie als Erwachsener bekomme.
»Und wie geht’s dem Leo?«, wollte Maxl wissen. »Mei, wenn ich letzte Woche dabei gewesen wär, die hätte ich vielleicht zusammengehauen, die Drecksburschen.«
»Du sollst nicht so reden, Maxl«, schalt ihn der Vater. »Und prügeln sollst du ebenfalls niemanden. Das fehlt noch, dass wir eine Anzeige bekommen und am Ende Schmerzensgeld zahlen müssen.«
Auguste war der gleichen Meinung, doch Maxl versicherte eigensinnig, dass er den Leo Melzer auf jeden Fall bis aufs Blut verteidigt hätte. »Das hab ich schon früher getan, als wir noch miteinander in die Schule gegangen sind. Grad der Abele Willi, dem wollt ich sowieso noch die Hucke vollhauen. Weil er mir neulich auf dem Markt die Zunge herausgestreckt hat, der Mistkerl.«
Hansl hatte sich wieder an die Schularbeiten begeben. Wenn er eine Aufgabe rechnete, klemmte er die Zunge in den Mundwinkel und schaute hoch zur Zimmerdecke. Dann schrieb er das Ergebnis ins Heft. Fritz war auf dem Sofa eingeschlafen.
»Dem Leo geht’s inzwischen wieder gut, er hat noch
eine Schramme an der Stirn und einen kaum sichtbaren blauen Fleck«, warf die Liesl ein. »Heute hat er mit der Hanna zusammen seinen Freund, den Walter, in der Klinik besucht. Der darf morgen nach Hause, wobei seine Mutter schreckliche Angst um ihn hat und ihn gar nicht in die Schule gehen lassen mag.«
»Und was ist mit seiner Hand?«, erkundigte sich Gustav mitleidig.
»Die Hanna hat gesagt, sie hätten ihm die Hand und den Arm bis zum Ellenbogen eingegipst. Vorn schaute ein kleines Stück von den Fingern heraus, die kann er aber gar nicht bewegen. Nicht einmal dann, wenn er sich ganz große Mühe gibt. Der Leo hat ihn arg trösten müssen, weil er ganz verzagt ist, der Walter.«
»Da schau, was alles passieren kann bei so einer Prügelei«, sagte Auguste vorwurfsvoll zu Maxl. »Wenn dem Walter ein steifes Handgelenk zurückbleibt, dann kann er nie wieder Geige spielen.«
»Das macht mir keine Angst«, meinte Maxl gleichmütig. »Weil ich ja net Geige spiel.«
»Als Gärtner brauchst alle deine gesunden Glieder«, belehrte Gustav ihn. »Schau mich an«, fügte er hinzu und verzog das Gesicht, weil er den Fuß ein Stück nach vorn schob.
»Bei uns ist viel zu tun«, schlug Auguste ein anderes Thema an und blickte Liesl erwartungsvoll an. »Da könnten wir gut noch ein paar Hände brauchen. Genug Leute gibt’s, die um Arbeit angefragt haben – aber dafür ist bei uns kein Pfennig übrig.«
Liesl nickte bedrückt und entschuldigte sich damit, dass sie ja in der Tuchvilla esse und schlafe, also kein Geld mehr für den Lebensunterhalt brauche. »Hast keinen
Grund, dich zu beschweren«, lenkte Auguste ein. »Wo es sogar elektrisches Licht gibt in den Zimmern für die Angestellten. Als ich noch in der Tuchvilla Stubenmädel war, da sind wir in der Nacht mit der Laterne zum Abort gelaufen.«
Ihrer Ansicht nach war der reine Luxus in den Dienstbotenzimmern eingekehrt. Die Fußböden abgeschliffen und neu lackiert, die Wände geweißt, und Fanny Brunnenmayer hatte sogar eine neue Bettstatt erhalten, weil die alte zusammengebrochen war.
»Hast es gut getroffen, Liesl«, sagte Auguste. »Haben sie dir heut auch den Monatslohn ausgezahlt?«
Fünfzehn Reichsmark erhielt ihre Tochter jeden Monat. Das war mehr, als ein Küchenmädel zu ihrer Zeit verdiente. Auguste war zwar mit ihrem Los nicht unzufrieden, doch manchmal dachte sie wehmütig an die schöne Zeit zurück, als sie noch in der Tuchvilla angestellt war, sich nur um ihre Arbeit kümmern musste und nicht von beständigen Familien- und Geldsorgen geplagt wurde.
»Ja, richtig«, rief Liesl und zog das Portemonnaie aus der Rocktasche. »Heut früh hat der Humbert uns alle ausgezahlt. Warte: zehn, elf, zwölf … Das ist für euch, Mama.«
Üblicherweise gab sie jeden Monat zwölf Reichsmark von ihrem Verdienst an die Eltern ab. Das hatten sie vorher so ausgemacht. Drei Reichsmark blieben ihr, die sparte sie, um sich ein paar Kleinigkeiten oder einmal ein warmes Tuch für den Winter zu kaufen. Für das Schuhwerk und die Kleidung sorgte der Arbeitgeber – wozu also brauchte die Liesl so viel Geld? Auguste legte die Markstücke in die Kasse. Die Zinsen für den Kredit waren fällig, das Geld kam gerade richtig.
»Am Sonntag gibt es eine große Geburtstagsfeier«,
erzählte Liesl, während sie das Portemonnaie wieder einsteckte. »Wir werden eine Torte aus Biskuitteig mit Schokoladenguss backen. Und die Frau Brunnenmayer will mir zeigen, wie man Rosen aus Zucker herstellt, nachdem man ihn rosa gefärbt hat.«
»Und wer hat Geburtstag? Etwa der Herr Melzer?«
»Niemand aus der Tuchvilla, sondern die Gertrude Bräuer. Sie ist die Schwiegermutter von der Kitty Scherer, also die Mutter ihres zu Kriegsbeginn gefallenen Mannes Alfons und die Großmutter von Henny. Erst später hat die Kitty ja den Robert Scherer geheiratet …«
»Das brauchst mir net zu erklären, Liesl«, meinte Auguste mürrisch. »Den Robert Scherer, den kenn ich noch recht gut aus der Zeit, als ich in der Tuchvilla gearbeitet hab. Der war damals bereits hinter dem Fräulein Kitty her. Leider hatte er schlechte Karten, weil sie damals einen anderen im Sinn hatte. Wie das Leben halt so spielt.«
Auguste hatte niemals erzählt, dass sie selbst ein Auge auf den stattlichen jungen Mann geworfen hatte. Sie hatte sogar überlegt, ihm das Kind unterzujubeln, das sie erwartete, die Liesl. Bloß war er zu schlau gewesen, um darauf hereinzufallen, der schöne Robert, und so hatte sie den Gärtner Bliefert genommen. Freilich, sie war recht glücklich mit ihrem Gustav, er war ein braver Kerl, eine treue Seele und machte alles mit, was sie anschaffte. Arbeitete sich halb tot und beklagte sich niemals. Trotzdem war ihr oft in den Sinn gekommen, dass sie es hätte besser treffen können, wenn sie damals ein wenig gewitzter gewesen wäre. Der Robert war als reicher Mann aus Amerika zurückgekommen – sie hätte seine Frau sein können, wenn sie es klüger angestellt hätte. Vor allem fuchste es sie, dass Liesls richtiger Vater, Klaus von Hagemann, sie seinerzeit mit dem unehelichen Kind hatte sitzen lassen. Eine andere
an ihrer Stelle wäre nicht so dumm gewesen. Die hätte ihn eingefangen, den adeligen Herrn. Die Else hatte ihr erzählt, dass der Herr von Hagemann droben in Pommern inzwischen eine Bäuerin geheiratet hatte. Man stelle sich das vor! Eine Bäuerin! Da wäre er mit ihr, Auguste, sehr viel besser bedient gewesen. Ach ja, sie hatte in ihrem Leben viel falsch gemacht, die Chancen, die ihr geboten worden waren, nicht genutzt und deshalb nur einen Gärtner abbekommen!
Zum Glück hatte der Gustav ihr wegen der Liesl nie Vorwürfe gemacht, hatte das Mädel aufgezogen wie sein eigenes Kind. Wer ihr wirklicher Vater war, das wusste die Liesl bislang nicht einmal, sie würden es der Siebzehnjährigen wohl bald sagen müssen – insbesondere für den Fall, dass die Else oder die Brunnenmayer sich in der Tuchvilla verplauderten.
»Hast mir alles hingestellt, Maxl?«, fragte Liesl. »Ich geh wieder hinüber, sonst wird’s zu spät.«
Gerade als sie das Tuch umlegte, klopfte es an der Haustür. Es war ein höfliches, fast schüchternes Geräusch, und Auguste ahnte gleich, wer da draußen in der Dunkelheit stand und Einlass begehrte.
»Ja, Christian! Kommst mitten in der Nacht, wir wollten gerade zu Bett gehen.«
Das war übertrieben, denn es war nicht später als neun Uhr, aber lange würde Gustav tatsächlich nicht mehr aufbleiben.
Christian war fürchterlich verlegen, er nahm die nasse Mütze ab und drehte sie in den Händen, fuhr sich durch das regenfeuchte Haar und lugte an Auguste vorbei in den Flur hinein. Natürlich hatte er gesehen, dass die Liesl zur Gärtnerei hinübergelaufen war, und jetzt hoffte er, sie auf dem Heimweg begleiten zu dürfen. Ein Dummkopf war
er nicht, der Christian. Allerdings ebenso wenig der Mutigste. Zum Glück nicht.
»Das tut mir furchtbar leid, Frau Bliefert. Ich … ich hab noch die Gerätschaften reinigen müssen, und da ist es halt spät geworden«, stotterte er herum. »Dann hab ich bei Ihnen noch Licht in den Fenstern gesehen, und da dachte ich, es ist bestimmt noch jemand wach …«
In diesem Moment trat der Hansl hinter ihr in den Flur. »Der Christian ist da«, rief er aus. »Ganz nass ist er. Komm herein, musst net draußen im Regen stehen.«
Augustes Bemerkung, dass es Zeit zum Schlafen sei, blieb ungehört. Der Maxl erschien und grinste über das ganze Gesicht vor Freude, Fritz wachte auf und sprang vom Sofa, rannte in den Flur und fiel dem späten Gast um den Hals.
»Ich muss dir was erzählen, Christian!«, rief Fritz. »Wir haben ein Amselnest in der Remise, und da sind vier blaugrüne Eier drin …«
Alle drei zerrten den Besucher ins Haus, Auguste konnte gerade noch rufen: »Schuhe auszieh’n«, sonst wäre er in den verdreckten Stiefeln ins Wohnzimmer marschiert. Dort stand Liesl, die eigentlich hatte weg sein wollen.
»Was schleichst so spät in der Gegend herum, Christian?«, fragte sie und lächelte schelmisch.
Kokett war sie, ihre Tochter, dachte Auguste. Forderte den schüchternen Burschen mit ihrem Lächeln und ihren rosigen Wangen heraus.
»Ich komm, weil ich für das Rondell vor der Tuchvilla Stiefmütterchen und Studentenblumen bestellen wollte.«
Das hörte sich gut an, weil es einen satten Verdienst versprach. Ein Vorwand blieb es, denn in dem runden Beet vor der Villa waren die Tulpen und Osterglocken gerade am Aufblühen, und es würde mindestens zwei Wochen
dauern, bis das Rondell neu bepflanzt werden musste. Trotzdem schob er Gustav den Zettel mit der Bestellung über den Tisch zu.
»Dahin musst du den Zettel geben, Christian.« Gustav zeigte lächelnd auf Auguste. »Die Frau Direktor nimmt die Aufträge an.«
»Entschuldigung«, sagte Christian, und seine Ohren wurden dunkelrot, während er das Papier überreichte. Dann wusste er nicht mehr, was er tun sollte.
»Du kannst mich ja in die Tuchvilla begleiten«, schlug Liesl vor. »Ich bin froh, wenn ich im Dunkeln nicht allein hinüberlaufen muss.«
»Der Maxl kann ebenfalls mitgehen«, fiel Auguste gerade noch ein. »Der trägt dir die Sachen für die Brunnenmayer. Weil du den großen Schirm dabeihast und dazu eine Laterne mitnehmen musst.«
Während Maxl allzu gerne bereit war, tauschten Christian und Liesl enttäuschte Blicke.
Auguste jedenfalls war hochzufrieden und begleitete die drei zur Haustür, wünschte eine gute Nacht und packte ihren Sohn Fritz, der auf den Hof hinauslaufen wollte, beim Kragen.
»Schau dir das Sofa an«, schimpfte sie. »Hast alle Häkeldecken runtergeworfen. Aufsammeln und wieder hinlegen. Und dann marsch ins Bett!«
Zurück im Haus, nachdem der Rest der Familie oben war, schaute sie aus dem Küchenfenster durch die noch kahlen Sträucher den drei Nachtwanderern nach, die das gelbliche Licht der Laterne erkennen ließ. Die Liesl hatte den Schirm aufgespannt und sich beim Christian eingehängt, Maxl schleppte die Tasche mit dem Gemüse sowie die Laterne. Nutzte der Christian etwa die Gelegenheit, der Liesl einen zarten Kuss aufzudrücken? Auguste strengte
ihre Augen an, bis sie zu tränen begannen. Nein, sie hatte sich umsonst gesorgt. Christian redete angeregt mit Maxl, und ihre Tochter ging schweigend neben ihm her.
Erleichtert trocknete sie die Gläser ab und stellte sie in den Schrank. Christian war nichts für ihre Liesl. Der war ein braver, einfältiger Bursche, nicht viel anders als ihr Gustav. Ein Gärtner war er, und ein Gärtner würde er bleiben bis an sein Lebensende. Ihr Mädchen hingegen, das war zu etwas Besserem geboren, die hatte das Zeug, einmal hoch hinaus zu kommen. Hübsch war sie und nicht dumm. In der Tuchvilla war sie gut aufgehoben, nur musste sie so bald wie möglich aus der Küche heraus. Damit sie allerhand Leuten begegnete und weiterkam. Dann würde sie schaffen, was ihr selbst versagt geblieben war: der Aufstieg zur gnädigen Frau.