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I mmer häufiger stellte Paul fest, dass er sich lieber in der Tuchvilla als drüben in der Fabrik aufhielt. Das beunruhigte ihn, weil er früher jeden Morgen voller Tatendrang hinübergefahren und die Treppen des Verwaltungsgebäudes im Sturmschritt hinaufgestiegen war, um in sein Büro zu gelangen, wo die beiden Sekretärinnen mit der Morgenpost auf ihn warteten. Inzwischen saß er länger als nötig im Speisezimmer beim Frühstück und musste sich zwingen, die Zeitung aus der Hand zu legen. Der Grund war, dass das Leben in der Tuchvilla einem eingefahrenen Rhythmus folgte, der den Bewohnern Frieden und Geborgenheit vorgaukelte, Verhältnisse, die draußen im Land und in der Tuchfabrik nicht mehr ohne Weiteres gegeben waren.
Doch auch in der Villa hatte sich manches verändert. Das Frühstück fand seit einiger Zeit nicht mehr gemeinsam statt. Paul und Marie erschienen gegen sieben Uhr im Speisezimmer, auch Leo und Dodo, die zeitig zur Schule mussten. Sebastian war selten anwesend, da er zur Frühschicht in der Fabrik sein wollte. Er verzichtete auf das Frühstück, um die Angestellten nicht so zeitig am Morgen in Anspruch zu nehmen. Alicia, die früher so sehr auf ein pünktliches Erscheinen der ganzen Familie zur ersten Mahlzeit des Tages geachtet hatte, zog es inzwischen vor, ihr Frühstück gegen halb neun Uhr gemeinsam mit Lisa und den Kindern einzunehmen .
»In meinem Alter darf ich mir ein wenig Nachlässigkeit gönnen«, meinte sie lächelnd. »Und es ist solch eine Freude, die lieben Kleinen um mich zu haben. Ach, wenn mein guter Johann das noch erlebt hätte.«
»Papa hat immerhin seine Enkel Leo und Dodo erlebt und sich an ihnen erfreut«, bemerkte Paul bei solchen Gelegenheiten. Ihn kränkte es ein wenig, dass seine Mutter den beiden vierzehnjährigen Zwillingen kaum noch Aufmerksamkeit widmete und all ihre Liebe und Fürsorge auf die Kleinen konzentrierte. Und besonders auf Kurti, den Nachkömmling, der ihr ganz besonderer Augenstern war. Dieses dritte Kind, das sich so unerwartet angekündigt hatte, war ein besonderes Erlebnis für Paul und Marie gewesen. Ihre Ehe hatte zuvor harte Prüfungen überstanden, die Schatten der Vergangenheit hätten sie beinahe zerstört, aber letztlich war ihre Liebe stärker gewesen als alles Trennende. Der kleine Junge – der sich so prächtig entwickelte und zu Pauls besonderer Freude mit Blechautos spielte und an der alten Dampfmaschine seine Freude hatte – war zu einem Unterpfand ihres gemeinsamen Glücks geworden.
Und plötzlich hatten die vergangenen Tage ihnen gezeigt, wie flüchtig ein solches Glück war, wie das Unheil von einer Sekunde auf die andere hereinbrechen und einem das Liebste, das man besaß, wegnehmen konnte.
Paul hatte es besonders getroffen. Mitten in eine wichtige Besprechung mit drei Auftraggebern war Maries Telefonat geplatzt, viel zu spät hatte er reagiert, die Suche nach einem Arzt seiner Sekretärin überlassen. Erst später war ihm bewusst geworden, wie knapp sein Kind dem Tod entgangen war. Zu allem Überfluss brach dann Leo noch zusammen. Was sich Gott sei Dank als eine leichte Ohnmacht herausstellte, weil Aufregung und Schrecken zu viel für ihn gewesen waren. Am Abend, als sie Kurti wohlversorgt in der Klinik wussten, hatte er noch lange mit Marie, Lisa und seiner Mutter zusammengesessen, das Ereignis in allen Details besprochen und der göttlichen Fügung gedankt, die Tilly im Augenblick höchster Not zu ihnen geführt hatte. Erst als sie zu Bett gegangen waren, hatte Marie die mühsam bewahrte Fassung verloren und lange und verzweifelt an seiner Brust geweint.
Wenn er in den vergangenen Tagen eine Erkenntnis gewonnen hatte, dann war es diese: All die Sorgen um die Fabrik, um gefährdete Kredite, um stockende Absatzmärkte, um die wirtschaftliche Zukunft der Tuchvilla und seiner Familie – sie waren nichts im Vergleich zu der brennenden Angst um sein Kind. Für das Leben seines Sohnes hätte er alles geopfert.
Paul war heute der Erste am Frühstückstisch und begrüßte Humbert, der ihm den Morgenkaffee eingoss und sich dabei anteilnehmend nach Kurti erkundigte.
»Es geht besser, gottlob. Meine Frau ruft gerade in der Klinik an und bringt hoffentlich gute Nachrichten.«
Er wusste, dass seine treuen Angestellten um das Leben des Kleinen gezittert hatten, Hanna hatte noch gestern Abend Tränen in den Augen gehabt, als sie von der Geburtstagsfeier bei Gertrude zurückkamen.
»Herr Winkler ist bereits gegen sechs Uhr in die Fabrik gegangen«, meldete Humbert heute. »Er lässt Ihnen ausrichten, dass er eine Besprechung mit dem Betriebsrat hat und Sie während des Vormittags von dem Ergebnis in Kenntnis setzen wird.«
Die Nachricht bereitete Paul keine Freude. Da waren sie wieder, die überflüssigen täglichen Ärgernisse, und verdrossen stellte er fest, dass sie ihn unangenehm vereinnahmten. Sebastians Aktivität im Betriebsrat erschien ihm mehr als lästig, sie war verletzend, zumal Paul der Ansicht war, dass er besser für seine Arbeiter sorgte als viele andere Fabrikanten in Augsburg und Umgebung. Gewiss, man hatte inzwischen die Belegschaft reduzieren müssen, ohne jedoch wirkliche Entlassungen vorzunehmen. Die Anzahl der Arbeiter und Angestellten, die aus Altersgründen ausgeschieden waren, hatte gereicht. Und soziale Einschränkungen wurden nicht vorgenommen. Nach wie vor gab es die Kantine, die einmal am Tag ein warmes Essen lieferte, wenngleich der Nachtisch gestrichen war und man die Portionen verkleinert hatte. Sebastian, dem eifrigen Kämpfer für die Rechte der Arbeiterschaft, reichte das nicht. Er verlangte Schichten von sechs statt acht Stunden bei gleicher Bezahlung, freie Getränke und ganze zwei Wochen bezahlten Urlaub für Arbeiter wie für Angestellte. Außerdem sei es höchste Zeit, die Arbeiterwohnungen auf den neuesten Stand zu bringen, forderte er. Es fehle dort am Nötigsten, vor allem die Hygiene lasse zu wünschen übrig, und man brauche dringend moderne Badezimmer.
»Man muss sich Ziele setzen«, hatte er bei der letzten Besprechung mit seinem Schwager Paul lächelnd behauptet. »Ohne Ziele kein Kampf.«
»Wie wäre es dann mit erreichbaren Zielen?«, hatte Paul verärgert geantwortet. »Mit Utopien ist niemandem geholfen. Du weißt genau, dass ich bei der momentanen Lage Mühe habe, überhaupt die Löhne in vollem Umfang auszuzahlen.«
Heute stand ein weiteres Problem im Raum, das alles Gewesene bei Weitem überschattete. In der Fabrik waren Flugblätter der KPD aufgetaucht, und der Pförtner Alois Gruber, der trotz seiner fünfundsechzig Jahre immer noch – unterstützt von einem jungen Mitarbeiter – seinen Dienst tat, hatte behauptet, Herr Winkler habe die Pamphlete ausgeteilt. Unklar war, ob es tatsächlich stimmte, denn der alte Gruber konnte Sebastian nicht leiden, weil der ihm vorgeschlagen hatte, in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen.
»Guten Morgen, Papa. Gibt’s Neuigkeiten von Kurti?«
Dodo riss ihn mit einer stürmischen Umarmung aus seinen düsteren Gedanken, sodass ihm die angebissene Brötchenhälfte beinahe auf die weiße Tischdecke gefallen wäre.
»Mama ruft gerade in der Klinik an. Wo ist Leo? Er hat hoffentlich nicht wieder verschlafen, oder?«
Seine Tochter zog schwungvoll den Stuhl zurück und setzte sich. »Keinen Kakao, Humbert. Kaffee bitte. Mit viel Milch und einem Stück Zucker … Nein, Papa, Leo ist im Badezimmer. Er rupft sich die beiden Barthaare aus, die an seinem Kinn gewachsen sind.«
»Barthaare?«
Dodo kicherte vergnügt und bediente sich aus dem Semmelkorb, den Humbert ihr reichte.
»Ich hab ihm ja gesagt, dass das einfach so ein Flaum ist, den kein Mensch sieht. Trotzdem steht er dauernd vor dem Spiegel und fummelt sich am Kinn herum … Darf ich die Zeitung haben?«
»Die lese ich gerade, Dodo.«
»Bloß den Teil Aus aller Welt , bitte.«
Während Dodos Morgenwunsch erfüllt wurde, kam endlich Marie zum Frühstück. Ihr Gesicht verriet Erleichterung, als sie ihre Tochter auf die Wange küsste.
»Es geht ihm gut. Gottlob. Er hat gestern Abend sogar eine Kleinigkeit essen können, die Wunde heilt zufriedenstellend, und, was das Wichtigste ist, er kann frei atmen. Ich werde um zwei Uhr zur Besuchszeit zu ihm gehen. «
»Dann musst du ihm seine Autos mitbringen, Mama«, rief Dodo. »Und die rote Lokomotive, die Tante Lisa ihm zum Geburtstag geschenkt hat. Darf ich mitkommen? Ich hab um zwölf Uhr die Schule aus …«
»Dann kommst du anschließend zu mir ins Atelier, und wir fahren gemeinsam«, entschied Marie.
Der Ärger über Sebastian war verflogen, Paul sah lächelnd zu, wie Marie sich Zucker in den Kaffee rührte und nach der Erdbeermarmelade griff. Wie hübsch sie wieder war, seine Marie, die dunklen Sorgenringe unter den Augen waren fast verschwunden, ihr Blick war klar, ihre Stimme klang ruhig und bestimmt. Sanft strich er über ihren Nacken, wo sich eine Locke aus den aufgesteckten Haaren gelöst hatte. Es gefiel ihm, dass sie das Haar lang trug und die alberne Kurzhaarmode nicht mitmachte. In mancher Beziehung war er ein altmodischer Ehemann, sah in ihr immer noch das zarte Mädel mit den großen, dunklen Augen, in die er sich als Student so stürmisch verliebt hatte.
Nicht lange nach seiner Mutter erschien Leo mit zwei roten Flecken am Kinn, der Hemdkragen war nicht zugeknöpft, die Schultasche offen und unvollständig. Soweit Paul sehen konnte, enthielt sie mehr Notenhefte als Schulbücher. Er begrüßte seine Eltern mit flüchtigem Kopfnicken – Küsse oder ähnliche Zärtlichkeiten waren ihm seit einiger Zeit peinlich.
»Einen Kaffee bitte, Humbert. Danke, keinen Zucker … Ich glaube, ich hab den Atlas oben liegen gelassen.«
Humbert eilte dienstfertig in den zweiten Stock, um das Vergessene zu holen, Dodo legte ihrem Bruder derweil zwei mit Marmelade und Honig bestrichene Semmelhälften auf den Teller, die er gedankenschwer in sich hineinstopfte .
»Kommst du um zwei mit in die Klinik?«, wollte sie wissen. »Wir treffen uns nach der Schule in Mamas Atelier.«
»Hab Klavierstunde bei Frau Obramowa«, nuschelte er. »Kann erst nach vier …«
»Dann ist die Besuchszeit leider zu Ende«, erklärte ihm Marie.
»Meine Güte!«, stöhnte Dodo. »Für deinen einzigen kleinen Bruder könntest du ruhig mal auf eine Klavierstunde verzichten.«
Leo gab keine Antwort, er war mit Kauen und Kaffeetrinken beschäftigt. Erst als Humbert mit dem Atlas erschien, sprang er auf, um das große Buch in seine Schultasche zu stopfen.
»Danke, Humbert, wir sollten dann wohl losfahren, um Walter abzuholen … Mama, mein Klavier muss nachgestimmt werden, außerdem ist der Filzbelag bei einigen Tönen zu dünn.«
»Kein Wunder, wenn du ständig darauf herumhämmerst«, spottete Dodo.
Paul wurde ärgerlich, seiner Ansicht nach war Leo auf dem besten Weg zu einem Lotterleben als Künstler, wie es auch Kitty einmal geführt hatte. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass Leo Klavierstunden erhielt, doch passte es ihm nicht, dass er sich beinahe ausschließlich auf die Musik konzentrierte und die Schule vernachlässigte. Genau das, was er immer befürchtet hatte.
»Ich wünsche, dass du morgens pünktlich zum Frühstück erscheinst, Leopold«, sagte er in scharfem Ton. »Mit fertig gepackter Schultasche. Wann gibt es Zeugnisse?«
»Nächste Woche, Papa.«
Ostern stand vor der Tür, das Schuljahr endete. Leo hatte im Herbst ein jämmerliches Zwischenzeugnis nach Hause gebracht. »Die Versetzung in die Untersekunda ist gefährdet«, stand unter den Noten für die einzelnen Fächer, sodass Leo sich von seinem Vater einiges hatte anhören müssen.
Humbert erlöste Leo aus der unerfreulichen Lage, indem er meldete, dass der Wagen vor der Eingangstreppe stehe. Leo griff eilig nach der Schultasche, sah noch einmal scheu zu Paul hinüber und nickte seiner Mutter zu.
»Bis später dann. Sag Kurti bitte viele Grüße, Mama. Ich besuche ihn morgen, da hab ich keinen Klavierunterricht.«
Paul sah seinem Sohn kopfschüttelnd nach. »Das gefällt mir nicht, Marie.«
»Mir genauso wenig«, meinte sie und seufzte. »Er mutet sich zu viel zu mit diesem Klavierkonzert und übt wie ein Besessener, dabei habe ich nicht das Gefühl, dass er weiterkommt.«
»Vielleicht sollten wir einmal mit seiner Lehrerin reden«, schlug Paul vor. »Dieser Russin. Wie heißt sie gleich?«
»Obramowa«, warf Dodo mit abfälliger Betonung ein. »Sinaida Obramowa. Genannt die Feldmarschallin!«
»Ach wirklich?« Marie runzelte die Stirn. »Ich denke, ich werde die Tage ein Gespräch mit ihr führen.«
Die Frühstücksrunde löste sich auf. Paul ging in sein Büro, um einige Papiere zu holen, Marie und Dodo eilten in die Halle, wo Hanna mit Mänteln und Schulbroten auf sie wartete. Marie nahm Dodo bis zum Atelier in der Karolinenstraße im Auto mit, von dort aus lief sie nach St. Anna, wo sich das Mädchengymnasium befand. Draußen im Hof startete Humbert den Firmenwagen, um Leo und Walter zum Gymnasium St. Stefan zu bringen, was bedeutete, dass Paul Melzer zu Fuß hinüber zur Fabrik laufen musste. Egal, so hatte es sein Vater das ganze Leben lang gehalten und dabei seine Morgenzigarre geraucht. Sein Sohn trat also in seine Fußstapfen, nur ohne Zigarre.
Die Fabrikgebäude erschienen ihm an diesem regnerischen Aprilmorgen ganz besonders grau und vernachlässigt. An zwei der Hallen bröckelte der Putz ab, die Glaseinsätze der Sheddächer mussten gesäubert werden, eine halsbrecherische Arbeit, die er fürchtete. Insgesamt würde ein schöner, heller Anstrich den tristen Gebäuden guttun – momentan ein purer Luxus, den man sich nicht leisten konnte.
»Morgen, Gruber!«, rief er dem Pförtner zu, der eilfertig aus seinem Häuschen kam, um ihm das Tor aufzuhalten.
»Morgen, Herr Direktor!«, antwortete Gruber und schwenkte die Mütze, während er sich verbeugte. »Was für ein Mistwetter heute, wie? Soll ja noch ein paar Tage durchregnen, haben sie im Radio gesagt.«
Der Volksempfänger war Grubers neueste Errungenschaft, er hatte die Erlaubnis erhalten, das wertvolle Stück in seinem Pförtnerhäuschen aufzustellen, zahlte die Gebühr aus eigener Tasche und versorgte die Angestellten gern mit den neuesten Nachrichten vom Augsburger Lokalsender, mit Wetterberichten und Sportereignissen.
Oben in den Büroräumen war nach wie vor geheizt, denn Pauls alte Kriegsverletzung an der Schulter machte Ärger, wenn er fror. Dass es warm genug war, darum kümmerten sich die beiden Sekretärinnen. Ottilie Lüders wusch sich gerade am Waschbecken den Kohlenstaub von den Händen, als er eintrat, Henriette Hoffmann saß bereits an der Schreibmaschine.
»Guten Morgen, Herr Direktor!«, riefen sie einstimmig.
»Einen wunderschönen guten Morgen, die Damen!«, gab er zurück und ließ sich von der Hoffmann aus dem Mantel helfen .
Die Sekretärinnen erkundigten sich nach dem kleinen Sohn und waren erfreut zu hören, dass es Kurti besser ging, Paul wollte wissen, ob Ottilie Lüders die Erkältung inzwischen gut überstanden habe, was sie bejahte.
»Salbeitee und Eukalyptusbonbons«, erklärte sie. »Kann ich sehr empfehlen. Und am Abend einen Schmalzlappen auf die Brust.«
Letzteres mochte sich Paul nicht vorstellen, er ging in sein Büro, in dem vor vielen Jahren sein Vater gesessen hatte, und beschäftigte sich mit der Post. Der Stapel, den die Hoffmann auf seinem Schreibtisch zurechtgelegt hatte, enthielt außer Rechnungen mehrere Bewerbungen von Facharbeitern, die in der Münchner Gegend aus betriebsbedingten Gründen entlassen worden waren. Dazu gleich drei Stornierungen größerer Aufträge, ein erneuter Schlag, den die Fabrik schwer verkraften würde. Mittlerweile lebte man von der Substanz, und er würde die Löhne zum Teil von dem Geld zahlen müssen, das er für Investitionen bei der Bank aufgenommen hatte. Wenn sich die wirtschaftliche Lage nicht bald besserte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Spinnerei vorerst stillzulegen. Was dann mit den Arbeitern geschah, wusste er noch nicht. Einen kleinen Teil konnte er in der Weberei und beim Stoffdruck unterbringen, natürlich nicht zu den gleichen Bedingungen. Bei denen, die bleiben konnten, würde es Lohnabzüge geben, den Rest musste er entlassen. Alles, was er für sie tun konnte, war, dass sie erst einmal in den fabrikeigenen Wohnungen bleiben durften.
»Herr Winkler möchte mit Ihnen sprechen«, meldete Ottilie Lüders mit säuerlicher Miene.
»Er kann sofort ins Büro nebenan gehen, ich komme gleich.«
Trotz seines Einsatzes für die gesamte Belegschaft betrachteten die Angestellten in der Verwaltung den politisch engagierten Sebastian mit Misstrauen, sein Schulterschluss mit den protestierenden Arbeitern gefiel ihnen nicht, zudem störte sie wohl sein ungeschicktes Auftreten und die Art, wie er sich kleidete. Auch heute trug er seine alte blaue Jacke mit dem abgerissenen Kragen und die ausgebeulte Hose, die Spuren seiner Arbeit an den Maschinen der Weberei zeigten. Henriette Hoffmann hatte neulich gejammert, Herr Winkler mache Ölflecke auf die Stuhlpolster.
Als Paul eintrat, war der derzeitige Vorsitzende des Betriebsrats in eine mitgebrachte Akte vertieft und sah kurz zu ihm auf. »Einen schönen guten Morgen, Paul!«
»Morgen, Sebastian«, murmelte sein Schwager und setzte sich ihm gegenüber. »Mach bitte schnell mit deinem Anliegen, meine Zeit ist knapp, und ich habe ebenfalls etwas mit dir zu besprechen.«
Veilchenblaue Augen musterten ihn, die hinter der Brille immer etwas verträumt und weltfremd wirkten. Man durfte sich davon nicht täuschen lassen – Sebastian Winkler wusste recht genau, was er wollte.
»Ich habe gemeinsam mit den Betriebsräten eine Aufstellung der sozialen Verhältnisse gemacht, in denen unsere Arbeiter und Angestellten leben«, berichtete er und schob eine Akte über den Tisch.
Es handelte sich um eine Tabelle mit Namen, Adressen, Alter, Zeit der Betriebszugehörigkeit, Familienstand, Kinder, weitere zu versorgende Angehörige und das Einkommen. Ferner waren Bemerkungen zum Gesundheitszustand, zu den Wohnverhältnissen sowie der Mitgliedschaft in einer Krankenkasse eingetragen. Eine beachtliche Fleißarbeit!
»Es kommt mir darauf an, dass wir – falls es zu Entlassungen kommt – genau abwägen sollten, wie sich die Arbeitslosigkeit auf den Betreffenden und seine Angehörigen auswirken wird«, erklärte Sebastian und blätterte in seiner Aufstellung. »Die Witwe Gebauer zum Beispiel hat drei Kinder, von denen zwei noch zur Schule gehen, eine Entlassung wäre in diesem Fall eine Härte, die wir nicht hinnehmen werden!«
Er redet als hätte sein Betriebsrat tatsächlich etwas zu melden, dachte Paul verärgert. Weiß er nicht, dass ich meine Leute selber kenne und im Ernstfall sehr gut überlegen werde, welche Arbeiter gehen müssen? Aber der Herr Betriebsrat denkt, er sei überschlau und wisse alles besser.
»Nun ja«, murmelte er und schaute die Aufstellung durch.
Immerhin musste er Sebastian zugutehalten, dass er dieses Mal keine utopischen Forderungen stellte, sondern sich mit naheliegenden Dingen befasst hatte, worauf er sehr stolz zu sein schien.
»Die Fakten sind auf dem neuesten Stand«, lobte Sebastian seine Arbeit.
Paul nickte und klappte den Aktendeckel zu. »Ich denke, dass wir zu gegebener Zeit darauf zurückgreifen werden. Danke für deinen bienenfleißigen Einsatz und diese Aufstellung, Sebastian. Ich wollte allerdings mit dir eine etwas unangenehme …«
Er wurde von Frau Hoffmann unterbrochen, die ihren Kopf durch die halb geöffnete Tür streckte.
»Darf ich den Herren Kaffee bringen?«
»Gern«, meinte Paul.
»Danke, für mich nicht«, lehnte Sebastian ab und lächelte die Sekretärin schüchtern an, woraufhin die sich beleidigt zurückzog .
Paul wartete, bis sie draußen war, dann zog er das Corpus Delicti aus seiner Jackentasche, glättete es und legte es vor sich auf den Tisch.
»Es geht um diese Flugblätter, Sebastian!«
Sein Schwager warf einen kurzen Blick darauf, stöhnte leise und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich habe befürchtet, dass sie der Fabrikleitung in die Hände fallen.«
Paul ahnte Übles, hielt sich aber zurück. »Du kennst sie also?«
Sein Gegenüber nickte, nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch, das mit den eingestickten Initialen JM versehen war, also einmal Johann Melzer, Pauls Vater, gehört hatte. Es gefiel ihm nicht, dass Sebastian es benutzte.
»Ich habe tatsächlich bemerkt, dass diese Flugblätter in der Fabrik kursieren«, begann Sebastian seine Erklärungen. »Man hat sie mir sogar gezeigt, und ich habe nachgefragt, woher sie stammen. Allerdings bin ich nicht bereit, den Namen der betreffenden Person zu nennen. Ich versichere dir lediglich, Paul, dass ich ein Gespräch mit ihr geführt und sie vor weiteren Aktionen dieser Art gewarnt habe.«
»Es ist also eine Frau?«
»Das habe ich nicht gesagt, ich sprach von einer Person.«
Paul spürte, wie Zorn in ihm hochstieg. Sein lieber Schwager kannte den Schuldigen, doch anstatt den Namen preiszugeben, spielte er sich als Beschützer auf. Was sollte er tun? Wenn er Sebastian ernsthaft unter Druck setzte, riskierte er einen Familienstreit. Lisa würde in jedem Fall zu ihrem Ehemann halten, und Mama würde ihnen beistehen, weil sie Angst hatte, Lisa könnte auf die Idee kommen, die Tuchvilla mit den Kindern zu verlassen .
»Ich ersuche dich ernsthaft, dafür zu sorgen, dass Derartiges nie wieder vorkommt, Sebastian«, sagte er in scharfem Ton. Dann musste er sich mäßigen, weil die Hoffmann mit seinem Kaffee hereinkam.
»Parteipolitisches Engagement hat in meiner Fabrik nichts verloren«, fuhr er fort, als sich die Tür wieder geschlossen hatte. »Wen immer ich dabei erwische, er hat mit fristloser Kündigung zu rechnen.«
Sebastian ließ Pauls Zornesausbruch schweigend über sich ergehen. Ob er ihn beeindruckte, war in seinen Gesichtszügen nicht zu erkennen. Sobald sein Schwager ausgeredet hatte, begann er, auf langsame, umständliche Art seine eigene Auffassung darzulegen.
»Ich sagte ja schon, dass ich die betreffende Person verwarnt habe. Natürlich habe ich aufgrund meiner persönlichen Überzeugungen sehr viel Verständnis dafür, wenn sich ein Arbeiter für das Anliegen der KPD einsetzt …« Als Paul zum Protest ansetzte, hob Sebastian beschwörend die Hand. »Da ich sozusagen in zwei Welten zu Hause bin – in der Tuchvilla, wo man in Saus und Braus lebt, und ebenso in der Mittelstraße, wo wir versuchen, kranken und mittellosen Menschen Unterkunft und ein warmes Essen angedeihen zu lassen.«
»Sagtest du in Saus und Braus«?«, platzte es aus Paul heraus.
»Genau das sagte ich, mein Lieber. Ich fürchte, dir ist nicht klar, dass die üppigen Mahlzeiten, die an einem einzigen Tag in der Tuchvilla serviert werden, mehrere mittellose Familien wochenlang satt machen könnten. Nimm zum Beispiel diese aufwändige Sahnetorte gestern auf der Geburtstagsfeier von Frau Bräuer, einer Dame, die ich im Übrigen sehr verehre und die keinesfalls an dem übertriebenen Aufwand zu ihrer Jubelfeier schuld ist. Jedenfalls waren die Bestandteile dieser Torte, Sahne, Eier, Mehl, Zucker, Marzipan und Schokolade, so kostspielig, dass mehrere kinderreiche Familien tagelang davon hätten …«
»Ich verstehe«, unterbrach Paul ihn sarkastisch. »Du willst, dass wir in der Tuchvilla nur Wasser und Brot zu uns nehmen und von dem eingesparten Geld das Arbeiterheim in der Mittelstraße unterstützen. Ist es nicht so?«
Sebastian machte eine abwehrende Bewegung mit beiden Händen. »Das käme mir nicht in den Sinn, Paul. Immerhin wäre es bei etwas sparsamerer Haushaltsführung durchaus möglich, einigen Arbeitern, die große Familien zu ernähren haben, Lohnzulagen zu ge…«
Vom Fabrikhof drangen laute Stimmen zu ihnen herauf und beendeten Sebastians Plädoyer für die Bedürfnisse der armen Leute.
»Was ist da wieder los?«, rief Paul und sprang auf, um aus dem Fenster zu sehen.
Am Fabriktor stand der alte Pförtner Gruber mit dem jungen Kollegen Samuel Knoll, einem überschlanken, dunkelhaarigen Mann mit scharfen Gesichtszügen. Sie hatten einen abgerissen aussehenden, bärtigen Menschen zwischen sich, der unablässig auf sie einredete und flehende Armbewegungen in Richtung der Bürogebäude machte.
»Ein Landstreicher«, vermutete Paul. »Wollte sich wohl hier einschleichen, um die Angestellten zu bestehlen.«
Die Vermutung war nicht grundlos, bereits zweimal war es Dieben gelungen, in das Fabrikgelände einzudringen, um Wintermäntel, eine Geldbörse und mehrere Paar Schuhe zu entwenden.
Er ging hinüber zu den Sekretärinnen und trug der Lüders auf nachzufragen, ob man die Polizei verständigen müsse .
»Sehr gern, Herr Direktor«, sagte sie dienstfertig. »Allerdings …, ich weiß nicht recht, bloß ist Frau Hoffmann ebenfalls dieser Meinung.«
»Und um welche Meinung handelt es sich, bitte sehr?«
Henriette Hoffmann rang die Hände, weil sie den Unwillen des verehrten Direktors Melzer erregt hatte.
»Wir glauben, dass wir den Mann dort unten kennen. Er kam vor Jahren als russischer Kriegsgefangener hierher.«
Paul trat erneut zum Fenster und starrte angestrengt hinunter. Ein Russe? Ein Kriegsgefangener, der in der Fabrik zur Arbeit eingesetzt worden war? Handelte es sich am Ende um diesen Kerl, von dem Marie ihm erzählt hatte? Der etwas mit der armen Hanna angefangen hatte?
Kurz entschlossen riss er die Fensterläden auf, beugte sich hinaus und rief laut in den Hof hinunter: »Bringt ihn zu mir herauf!«
Zwei Arbeiter, die eine Karre voller Pakete über den Hof rollten, ließen ihre Last stehen und halfen Alois Gruber, den Unbekannten zum Verwaltungsgebäude zu schaffen. Die beiden Sekretärinnen flüsterten im Büro aufgeregt miteinander, und Sebastian erkundigte sich, ob seinerzeit viele Kriegsgefangene zur Arbeit bei ihnen gezwungen wurden.
Paul winkte ab. »Ich war damals im Krieg. Mein Vater hat die Fabrik mit Maries tatkräftiger Unterstützung geleitet. Ich habe keine Ahnung. Also schauen wir erst einmal, vielleicht haben sich die Damen ja geirrt.«
Der Russe brauchte nicht geführt zu werden, er ging freiwillig vor den drei Männern her, die ihn begleiteten. Als sie den Raum betraten, hielt sich Ottilie Lüders die Nase zu. Der Fremde musste lange Zeit die Kleider nicht gewechselt haben, das dunkle Haar, das von einzelnen grauen Strähnen durchzogen war, hing wild und verklebt herab, der kurze Bart war struppig, als hätte er ihn mit dem Messer abgeschnitten.
Der Landstreicher begriff sofort, dass es der gut gekleidete blonde Mann in der Mitte des Raumes war, der etwas zu sagen hatte. Deshalb verbeugte er sich vor ihm und schlug die Hacken seiner ausgelatschten Schuhe fast militärisch aneinander.
»Grigorij Schukov«, sagte er und deutete auf seine Brust. »Bitte Asyl geben. Ich bin von Sibir. Gefangener von Stalin. Großer Mörder. Kameradi alle tot in Sibir. Nur ich geflohen. Laufe bis Germanija. Deutschland, Augsburg … Weil hier ist meine Channa.«
Schweigen folgte. Paul spürte die flehenden Augen dieses zu Tode erschöpften Menschen auf sich gerichtet. Sebastian wollte wissen, was er mit »Channa« gemeint habe.
»Er meint Hanna aus der Tuchvilla«, sagte die Hoffmann und erhielt im gleichen Moment einen Rippenstoß von ihrer Kollegin.
»Sei still!«
Jetzt hielt es Alois Gruber nicht mehr aus, er meldete sich zu Wort. »Dass er der Grigorij ist, das ist wahr, Herr Direktor. Ich hab ihn gleich erkannt. Sie können noch den Bernd Gundermann fragen, der muss ihn ebenfalls kennen. Oder den Alfons Dinter, der war damals hier, weil er verwundet war.«
»Schon gut, Gruber«, sagte Paul. »Sie können wieder auf Ihren Posten gehen.«
»Der arme Kerl«, sagte Sebastian mitleidig. »Warum man ihn wohl nach Sibirien geschickt hat? Er muss ein schweres Verbrechen begangen haben. Einen Mord am Ende?«
Paul war unschlüssig, was zu tun war, und Sebastians Gerede ging ihm gewaltig auf die Nerven .
»Sogar dir sollte bekannt sein, dass der große Stalin Tausende von unschuldigen Menschen nach Sibirien schickt. Wie man hört, wird das Land neu verteilt. Das macht man in Russland so, dass man die alten Besitzer, Gutsherren und Bojaren, brutal ermordet. So viel zu den Segnungen des Kommunismus, lieber Schwager!«
Sebastian machte eine ärgerliche Geste und schwieg, woraufhin Paul eine Weile nachdachte, bevor er eine Entscheidung traf, was er mit dem Russen machen sollte.
»Wir müssen Sie leider der Polizei übergeben, Herr Schukov. Sie müssen zunächst überprüft und registriert werden. Erst danach können wir darüber nachdenken, ob für Sie möglicherweise eine Unterbringung und eine Anstellung in meiner Fabrik infrage kommt.«
Der Russe wich erschrocken zurück. »Njet Polizija«, bat er. »Poschalujsta njet, nicht Gefängnis … Bitte Asyl.«
»Es ist zur Überprüfung«, versuchte Paul ihn zu beruhigen, während er den Sekretärinnen Zeichen machte, den Anruf bei der Polizei zu tätigen.
Schukov gab den Widerstand auf. Zu schwach, um eine Flucht zu riskieren, setzte er sich auf den Fußboden und brach in Tränen aus.
»Geben Sie dem Mann eine Tasse Kaffee«, sagte Sebastian zu Ottilie Lüders, die daraufhin fragend zum Direktor, ihrem Chef, hinüberblickte.
Paul nickte. »Und etwas zu essen.«