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S ie hätten sich um den Patienten kümmern müssen, anstatt nach Hause zu fahren!«
Das Büro des Klinikleiters war mit schweren, dunklen Möbeln ausgestattet, hinter dem Schreibtisch standen verglaste Bücherschränke mit medizinischen Werken, dazwischen hier und da eine Fotografie in silbernem Rahmen, menschliche Knochen, die künstliche Darstellung eines Ohres mit den Gehörgängen. Professor Sonius wirkte vor diesem Hintergrund wie ein grauhaariger Gnom mit Goldbrille und Halbglatze. Und dennoch war er der Mann, vor dem das gesamte Klinikpersonal zitterte.
»Mein Dienst war zu Ende, Herr Professor. Ich bin ohnehin länger in der Klinik geblieben als notwendig und habe den Patienten an Dr. Heinermann übergeben.«
Tilly fühlte sich wie eine Angeklagte, zumal sie in Straßenkleidung hier saß ohne den weißen Kittel, der sie als Ärztin der Schwabinger Klinik auswies. Sie war suspendiert, gehörte nicht mehr dazu. Dabei war sie nicht gekommen, um sich Vorwürfe anzuhören, sie war hier, um die Tatsachen klarzustellen.
»Und weshalb waren Sie bei der Aufnahme von Herrn Kugler nicht anwesend? Sie waren an diesem Tag immerhin für die Notaufnahme zuständig.«
»Gemeinsam mit Dr. Heinermann. Er hat die Erstuntersuchung an dem Patienten durchgeführt und mich später hinzugebeten. «
Der Klinikleiter blätterte in einem Stapel beschriebener Formulare, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.
»Nach Aussage von Schwester Martha haben Sie ein Privatgespräch mit einer Patientin geführt, anstatt sofort in die Notaufnahme hinunterzugehen, als Dr. Heinermann Sie rufen ließ.«
Tilly war empört. Sie führe keine Privatgespräche mit Patienten, Frau Kannebäcker hatte Beschwerden, deshalb war sie zu ihr gegangen.
»Dieses Gespräch hielt ich für wichtig, Herr Professor. Es hat nicht mehr als ein paar Minuten gedauert. Dieser Zeitverzug kann unmöglich die Ursache für den Tod des Patienten gewesen sein. Die Enzephalitis, an der er starb, ist meines Wissens erst nach der Operation eingetreten.«
Sonius hörte kaum zu, blätterte herum, seine Miene war und blieb eisig.
»Sie wissen genau, Frau von Klippstein, dass es in solch einem Fall auf jede Minute ankommt. Wie auch immer – die Angehörigen von Herrn Kugler drohen der Klinik mit einem gerichtlichen Nachspiel. Das hätte man vermeiden können, wenn Sie rechtzeitig an Ort und Stelle gewesen wären.«
»Ich habe mich auf die Diagnose meines Kollegen verlassen. Dr. Heinermann ist ein erfahrener und zuverlässiger Arzt, Herr Professor.«
»In diesem Fall hat er leider etwas übersehen. Was natürlich immer vorkommen kann – wir sind keine Götter. Wären Sie rechtzeitig zur Stelle gewesen, wie es Ihr Dienst vorschreibt, hätten Sie mit der richtigen Diagnose ein Menschenleben gerettet und die Klinik vor unangenehmen Folgen bewahrt. So ist nun mal der Stand der Dinge.«
Sie spürte, dass sie keine Chance hatte. Es schien beschlossen zu sein, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben, sie war das Bauernopfer, das der Herr Professor bringen musste, um seine Position zu retten. Als Klinikleiter hatte er den diensthabenden Arzt, in diesem Fall eine Ärztin, umgehend vom Dienst suspendiert und entlassen. Das machte ohne Zweifel Eindruck auf die Angehörigen. Sie hatte noch nicht mal mehr die Kraft, den Professor ein weiteres Mal darauf hinzuweisen, dass ihr Dienst an diesem Tag bereits zu Ende gewesen war.
»Es tut mir leid, ich kann nichts mehr für Sie tun.«
Es tat ihm überhaupt nicht leid, das sah sie ihm deutlich an. Er war froh, auf diese Weise aus der Sache herauszukommen. Man hörte, dass er Ambitionen hatte, die Leitung einer großen Berliner Klinik zu übernehmen – da käme ihm dieser hässliche Fleck auf seiner beruflichen Laufbahn in die Quere. Tilly wurde plötzlich klar, dass sie in dieser Klinik von Anfang an fehl am Platz gewesen war. Weil es ihr nie um Karriere gegangen war, sondern darum, Menschen zu helfen, sie von Krankheiten zu heilen, ihre Schmerzen zu lindern, ihnen Hoffnung zu geben und ihren Tod, wenn er denn unausweichlich war, sanft und liebevoll zu begleiten.
»Ich habe eine richtige Diagnose gestellt, und Sie drehen mir einen Strick daraus«, protestierte sie dann doch noch und stand auf. »Nun gut, ich muss Ihre Entscheidung akzeptieren. Meine Papiere senden Sie bitte an meine Adresse.«
Erleichtert lächelte er sie an. »Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute, Frau von Klippstein. Diese Entlassung geschah aus disziplinarischen Gründen, sie hat nichts mit Ihrer ärztlichen Kompetenz zu tun, die ich nach wie vor sehr schätze.«
Sie ging zur Tür, ohne auf sein Geschwätz zu achten.
»Viel Glück auf Ihrem Weg, Herr Professor! «
Damit verließ sie das Büro des gefürchteten Klinikchefs, und während sie durch den langen Flur zum Ausgang ging, fühlte sie sich wie von einer schweren Last befreit. Er hatte keine Macht mehr über sie. Sie war frei. Die Oberärzte, die hier im weißen Kittel mit wichtiger Miene vorübereilten, die boshaften Krankenschwestern, selbst der Kollege Dr. Heinermann, der mit viel Glück von dem Rauswurf verschont geblieben war – sie alle gingen sie nichts mehr an. Sie gehörte nicht mehr hierher, hatte nie hierhergehört.
In der Straßenbahn verging ihre Hochstimmung rasch, andere Gedanken traten in den Vordergrund. Sie war arbeitslos, ihre ärztliche Qualifikation, um die sie so lange gekämpft hatte, lag brach, und die Aussichten, eine Anstellung in einer anderen Klinik zu bekommen, waren nicht gut. Der Grund für ihre Entlassung würde ohne Zweifel in ihren Papieren stehen – sie brauchte sich gar nicht erst zu bewerben. Vor Erschöpfung machte sie einen Moment lang die Augen zu und dachte an Ernst.
»Künftig bist du ja abends frisch und munter, weil du dich den lieben, langen Tag über ausruhen kannst«, hatte er neulich erfreut gesagt. »Ich werde dir Geld geben, damit du dir ein paar hübsche Sachen für den Sommer anschaffen kannst. Als meine Ehefrau solltest du angemessen gekleidet auftreten.«
Kein Wort mehr davon, dass er einen Rechtsanwalt hinzuziehen wollte, um gegen die Entlassung vorzugehen, was er anfangs vorgeschlagen hatte. Inzwischen war er zu der Ansicht gelangt, dass sie an diesem »bedauerlichen Unfall« nicht ganz unschuldig sei. Wenngleich natürlich ihr Kollege, der die Fehldiagnose gestellt hatte, den größeren Teil der Verantwortung trage .
»Du weißt sicherlich, dass Dr. Heinermann mit einer Nichte von Professor Sonius verheiratet ist. Solch eine Allianz ist schwer aufzubrechen.«
»Die Verantwortung trägt die Klinik und derjenige, der die Operation durchgeführt hat!«
»Und wer war das?«
»Professor Sonius.«
Daraufhin hatte er die Schultern gezuckt und das Thema gewechselt.
Das war inzwischen ein paar Tage her. Als sie in Pasing aus der Straßenbahn stieg und zur Villa in der Menzinger Straße ging, war sie zutiefst niedergeschlagen. Das schöne Gefühl der Freiheit war verflogen, sie hatte vielmehr den beklemmenden Eindruck, eine Gefangene zu sein. »Ich werde dir Geld geben«, hatte er gesagt. Nichts Ungewöhnliches oder gar Anstößiges, jede Ehefrau in ihrer Bekanntschaft kaufte ihre Kleider vom Geld des Ehemanns. Sie selbst hatte bisher energisch auf getrennten Kassen bestanden und alle Dinge ihres persönlichen Bedarfs von ihrem Gehalt bezahlt. Damit war es nun vorbei.
Die schöne, gepflegte Villa, in der sie lebten, war von einer Hainbuchenhecke umgeben, die zu grünen begann. War sie hier wirklich zu Hause? Nein. Es war sei n Haus, sein Garten, sein Besitz. Ebenso wie sie seine Frau war. Als sie sich niederbeugte, um den Haustürschlüssel aus der Handtasche zu nehmen, spürte sie plötzlich eine Berührung, etwas kitzelte sie am Hals. Sie betastete die Stelle und fühlte eine kleine Erhebung unter dem Mantelstoff. Das rote Herz, das sie an der feinen Goldkette um den Hals trug, das Geschenk der armen Frau Kannebäcker. Ach, es hatte ihr kein Glück gebracht, vielleicht sollte sie es weggeben.
Ernst wartete auf sie im Speisezimmer, wo sie von nun an täglich gemeinsam das Mittagessen einnehmen würden. Julius, der früher in der Tuchvilla angestellt gewesen war, servierte in dunkler Kleidung mit weißer Binde, trug stets dem Hausherrn zuerst auf und nannte die Namen der Speisen, die er servierte. Danach zog er sich diskret zurück, um die Herrschaften nicht bei ihrer Unterhaltung zu stören.
»Ist diese unangenehme Angelegenheit nun geregelt?«, erkundigte sich Ernst, während er die Suppe in Angriff nahm.
»Das ist sie«, gab Tilly kurz angebunden zurück.
»Ich denke, du brauchst Erholung«, sagte er und lächelte ihr zu. »Was hältst du davon, wenn wir ein paar Tage am Ammersee in einem hübschen, kleinen Ort verbringen? Spazieren gehen, mit einem Boot über den See fahren, vielleicht kann man sogar schon baden.«
Der Gedanke, mit Ernst gemeinsam spazieren zu gehen, erfüllte sie mit Grauen. Im vergangenen Jahr waren sie in St. Moritz zum Wintersport gewesen, sie hatte sich gefreut, das Skifahren zu erlernen, doch sie hatte es bald aufgegeben. Ernst war wegen seiner Kriegsverletzungen zu keiner sportlichen Betätigung in der Lage gewesen und hatte ihr missbilligend zugeschaut. Bis sie die Konsequenzen zog, sich aus dem Kurs abmeldete und ihn bei seinen Spaziergängen begleitete. Unterwegs redete er ausschließlich von sich selbst, von seinen Malaisen, von seinen Geschäften und von dem Geld, das er verdiente und unbedingt anlegen wollte.
»Ich glaube nicht, dass ich Erholung brauche«, sagte sie rasch. »Ich möchte schnell wieder als Ärztin tätig sein, das ist der Beruf, den ich gelernt habe und den ich für meine Bestimmung halte.«
Er verzog das Gesicht, weil ihm diese Antwort nicht gefiel. Unmutig schnaufte er, nahm das Weinglas und trank einen Schluck. »Du denkst daran, eine eigene Praxis aufzumachen?«
»Warum nicht?«
Tatsächlich hatte sie mit diesem Gedanken gespielt. Es war eine Möglichkeit, ohne die lästige Klinikhierarchie, ohne widerspenstige Krankenschwestern oder boshafte Kollegen ganz auf sich allein gestellt zu arbeiten. Niemand würde ihr vorschreiben, wie lange und wie intensiv sie sich mit jedem einzelnen Patienten befasste. Allerdings benötigte man für Miete und Einrichtung einer Arztpraxis eine größere Geldsumme; die Ersparnisse, die sie von ihrem Einkommen zurückgelegt hatte, würden kaum ausreichen.
Ernst schien der Idee nicht abgeneigt zu sein. »Ich hatte zwar gehofft, du könntest mir als meine Ehefrau und Begleiterin zur Seite stehen. Nun gut, ich lasse mich überzeugen. Du hältst den Arztberuf für deine Bestimmung, und ich bin bereit, dich zu unterstützen.«
Sie konnte es kaum glauben. Da war er wieder, der Mann, der einmal für sie gekämpft und der sie gefördert hatte, dem sie so unendlich dankbar gewesen war, dass sie seinen Antrag angenommen hatte und seine Frau geworden war.
»In letzter Zeit habe ich verschiedene Immobilien in der Münchner Innenstadt erworben«, fuhr er fort. »Es war nötig, Geld anzulegen, man weiß ja nicht, ob diese wirtschaftliche Flaute in einer Inflation endet. Du könntest in einem meiner Häuser eine Praxis eröffnen. Und es gibt eine Menge guter Freunde und Bekannte, die ich dir als Patienten vermitteln würde.«
So dachte er sich das also. Eine Arztpraxis in der Innenstadt für wohlhabende Patienten. Sie kannte solche Praxen. Dort residierten Modeärzte, die betuchten Patienten allerlei Zipperlein einredeten, ihnen überflüssige Medikamente verordneten und dafür fette Honorare einstrichen.
»Ich glaube nicht, dass ich unter solchen Bedingungen arbeiten möchte, Ernst«, wehrte sie entschieden ab. »Eher habe ich daran gedacht, eine Praxis in Giesing oder Haidhausen aufzumachen und denjenigen zu helfen, die dringend eine ärztliche Behandlung benötigen, ohne das Geld dazu zu haben.«
»In Haidha…« Vor Entsetzen verschluckte er sich an seinem Wein und musste husten, was ihm wegen seiner Kriegsnarben Schmerzen an Brust und Bauch bereitete. Für Tilly wurde das Warten zur Qual, denn erst einmal konzentrierte sich Ernst aufs Essen. Er nutzte die Zeit, um seine Antwort in Ruhe zu formulieren. Sie fiel deutlich aus.
»Falls du ernsthaft vorhast, in einem dieser Viertel eine Praxis zu eröffnen, dann darfst du auf keinen Fall mit meiner Einwilligung rechnen. Eine Ehefrau, die sich mit schmutzigen Arbeitern und versoffenen Existenzen abgibt, kann ich mir in meiner Position nicht erlauben.«
Er sah kurz zu ihr herüber, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen, dann begann er, die Bratenscheiben auf seinem Teller anzuschneiden. Tilly sah ihm eine Weile dabei zu, warf die Serviette auf den Tisch und ging wortlos hinaus. Auf seine Rufe reagierte sie nicht. Hastig rannte sie die Treppe hinauf und schloss sich in dem kleinen Raum ein, der ihr als Ankleidezimmer zur Verfügung stand. Dort sank sie auf einen der gepolsterten Sessel und starrte vor sich hin.
Die Sache war ganz einfach: Ernst saß am längeren Hebel. Eine Frau war nicht geschäftsfähig, sie konnte weder eine Wohnung mieten noch eine Praxis ohne E rlaubnis ihres Ehemanns eröffnen. Eine Ehefrau hatte kaum mehr Rechte als ein unmündiges Kind.
Sie blieb lange im Ankleidezimmer sitzen, es war eine winzige Zuflucht in diesem Haus, mit einem einzigen Fensterchen, aber immerhin ein Ort, an den sie sich allein zurückziehen konnte. Nach einer Weile hörte sie Schritte, und jemand klopfte an die Tür.
»Gnädige Frau? Sind Sie hier drin? Der gnädige Herr wünscht, mit Ihnen zu sprechen.«
Er hatte Julius geschickt, der Feigling.
»Richten Sie dem gnädigen Herrn aus, dass ich keine weiteren Gespräche führen werde.«
»Aber … der gnädige Herr ist sehr ungehalten.«
»Richten Sie bitte aus, was ich Ihnen gesagt habe, Julius.«
Sie hörte ihn langsam die Treppe hinuntergehen und mit Bruni flüstern, die offensichtlich am Treppenaufgang gestanden hatte. Ohne es zu wollen, hörte Tilly die Tuscheleien der beiden mit an.
»Jetzt hat sie der Affe gebissen … Na, die wird sich noch wundern«, regte sich Julius auf.
»Schmarrn«, zischte Bruni. »Wenn ich mit so einem verheiratet wär, tät ich davonlaufen. Der kann doch nix im Bett. Wie sie das bloß aushält, die Gnädige.«
»Und ich kann’s ausbaden«, stöhnte Julius. »Der wird vielleicht wütend sein, wenn ich ihm das vermelde.«
Dienstboten hatte eben ihre eigene Meinung zu dem, was die Herrschaft tat. Dennoch hatte Brunis respektlose Bemerkung ihre Wirkung getan. Natürlich war Ernsts steife Verbissenheit, seine Sucht nach Anerkennung, seine rücksichtslose Geschäftemacherei auf die körperlichen Gebrechen zurückzuführen, die der Krieg ihm angetan hatte. Vor allem die Impotenz machte ihm als Mann arg zu schaffen. Tilly hatte sich damals vorgenommen, ihm immer hilfreich und geduldig zur Seite zu stehen. War sie jetzt nicht mehr dazu bereit? Nur weil er sich gegen eine Armenpraxis ausgesprochen hatte? Vielleicht ließ sich ja noch ein Kompromiss zwischen der Modeärztin und Armenpraxis finden. Wenn sie beide ein wenig nachgaben, konnte das doch nicht so schwer sein. Sie stand auf und ging im Zimmer umher, grübelte darüber nach, wie weit sie bereit war, ihm entgegenzukommen, wo ihre Grenze lag, was sie akzeptieren konnte. Als sie schließlich mit sich im Reinen war, schloss sie die Tür auf und ging die Treppe hinunter, um mit ihm zu sprechen. Sie würde sich zunächst für ihre verkrampfte Reaktion im Speisezimmer entschuldigen, weil ihr die Nerven durchgegangen waren, anschließend wollte sie mit den Verhandlungen beginnen.
Julius stand in der Diele und war eben dabei, Ernsts Hausjacke auf einen Bügel zu hängen.
»Wenn Sie den gnädigen Herrn suchen, der ist soeben in die Stadt gefahren.«
Gut, dachte sie. Soll er seinen Zorn verrauchen lassen. Heute Abend würden sie in Ruhe miteinander reden.
»Danke, Julius, ich hätte gern einen Kaffee in die Bibliothek.«
»Sehr wohl.«
Sie versuchte, einen Roman zu lesen, aber es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Immer wieder verlor sie den Faden, musste zurückblättern, versuchte die Personen auseinanderzuhalten, die Handlung zu verfolgen. Schließlich legte sie das Buch weg. Die Geschichte des unsympathischen Aufsteigers Georges Duroy im Paris des neunzehnten Jahrhunderts interessierte sie einfach nicht.
Sie trank den kalt gewordenen Kaffee, ging an den Bücherregalen entlang, um einen anderen Lesestoff zu finden, ohne dass einer der Buchtitel sie ansprach. Eine Weile beschäftigte sie sich mit der Zeitung, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie musste eine akzeptable Lösung finden. Ihre Zukunft hing davon ab. Ihre Ehe. Ihr ganzes Leben.
Das Haus war unendlich still, hin und wieder knackten die alten Möbel, das Pendel der Standuhr bewegte sich mit leisem Ticken, ab und zu hörte man Schritte der Angestellten im Flur.
Die Sehnsucht nach dem Trubel in Kittys Haus erfasste sie plötzlich, und sie ging hinüber in Ernsts Büro, um ein Gespräch anzumelden.
»Hallo? Hier spricht Henriette Bräuer. Was kann ich für Sie tun?«
Das war Henny. Wie erwachsen sie am Telefon klang. Und wie wichtig sie sich machte. Es war beinahe zum Lachen, wenn die Situation nicht so traurig wäre.
»Hier ist deine Tante Tilly, geht es euch gut?«
»Tante Tilly«, jubelte das Mädchen. »Rufst du aus München an? Wann kommst du uns wieder besuchen? Stell dir vor, Mama hat mir das seidene Nachthemd fortgenommen. Sie findet, dass ich zu jung dafür bin. Ist das nicht gemein von ihr?«
»Nun ja, das ist sehr schade«, meinte Tilly diplomatisch. »Du sahst wirklich sehr hübsch darin aus.«
Im Hintergrund war Kittys Stimme zu vernehmen. »Ist das Tilly? Gib mal rasch den Hörer, Henny. Pass auf die Schnur auf, sie hat sich um das Tischbein gewickelt … Nein, nicht so. Andersherum.«
Dann war Kitty am Apparat. Das pralle Leben stürzte auf die Anruferin ein, und sie nahm es begierig in sich auf.
»Tilly? Na endlich! Ich habe bereits zweimal bei euch angerufen, doch dein miesepetriger Ehemann hat mir erzählt, du seist nicht zu Hause. Hat er dir das überhaupt ausgerichtet? Henny, hör bitte auf, meinen Kaffee zu trinken, und hol lieber Gertrude aus der Küche. Tilly, mein Engel? Bist du noch dran? Du sagst ja gar nichts!«
»Ich komme nicht zu Wort.«
»Das verstehe ich nicht. Ich rede einfach drauflos und komme immer zu Wort. Pass auf, ich muss dir ganz schnell etwas Wichtiges sagen, bevor deine gestrenge Frau Mutter mithört. Stell dir vor, dieser nette, blendend aussehende blonde Doktor hat neulich bei uns angerufen und nach dir gefragt!«
Dr. Kortner. Tilly verspürte eine gewisse Unruhe. Hatte er nicht versucht, ihr den Hof zu machen? Ach nein, das hatte sie sich wohl eingebildet.
»Er wollte wissen, in welcher Klinik du arbeitest. Weil er einen Kollegen kennt, der ebenfalls in einer Münchner Klinik angestellt ist … Das war natürlich ein Vorwand, ich glaube, der Mann ist für dich entflammt. Ist das nicht wunderbar?«
»Ich weiß nicht, was daran wunderbar sein soll, wenn sich ein Junggeselle für eine verheiratete Frau interessiert.«
»Oh, das kann nie schaden, wenn sich ein Mann für eine Frau interessiert. Vor allem dann, wenn er gut aussieht und Feuer unterm Hintern hat.«
Erneut musste Tilly schmunzeln. Ach Gott, wie sehr hatte Kittys verrücktes Geplauder ihr gefehlt! Ihr Schwung. Ihre positive, glückliche Einstellung zum Leben.
»Tilly? Wie geht es dir, mein Mädchen?«, rief ihre Mutter, die jetzt den Hörer übernahm. »Hat Ernst dich geärgert? Ich habe oft das Gefühl, dass du in dieser Ehe immer dünner und blasser wirst.«
Das war typisch Gertrude, die selten ein Blatt vor den Mund nahm und Kitty zur Ruhe mahnte, die im Hintergrund herumlärmte.
»Sei endlich still, Kitty. Ich verstehe ja kein Wort.«
»Es geht mir gut, Mama«, rief Tilly in den Hörer. »Und ich verspreche dir, dass ich bald zunehmen werde. Ich will hier in München eine eigene Praxis aufmachen.«
»Eine Praxis? Du ganz allein? Hast du dir das gut überlegt? Kitty, hast du gehört, sie will eine Arztpraxis aufmachen. Ganz allein.«
»Eine großartige Idee«, trompetete Kitty. »Sag ihr, dass sie die Praxis in Augsburg eröffnen soll. Hier gibt es schrecklich viele kranke Leute. Außerdem geht ihr der Ruf einer grandiosen Ärztin voraus, die das Leben eines Kindes mit Küchenmesser und Bleistifthülse gerettet hat.«
Ein Motor war zu hören. Tilly legte den Hörer auf den Schreibtisch und lief zum Fenster. Er war es. Endlich!
»Hallo, Mama? Ich muss leider auflegen, Ernst ist soeben nach Hause gekommen. Ich rufe morgen wieder an.«
»Wieso musst du deshalb gleich auflegen?«, fragte ihre Mutter verärgert. »Du lässt dir von deinem Mann viel zu viel bieten. Dieser Mensch ist ein verkappter Tyrann, das habe ich immer gewusst.«
»Bis bald, Mama.«
Sie kam zu spät, Ernst war schon die Treppe hinaufgegangen, als sie aus dem Büro in den Flur trat.
»Gnädige Frau«, sprach Bruni sie an. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass der gnädige Herr sich rasch umziehen will und danach wieder fortmuss. Er ist zu einer Gesellschaft eingeladen. Und Sie brauchen nicht auf ihn zu warten. Weil es sehr spät werden kann.«
Sie knickste und ging davon, ohne Tillys Antwort abzuwarten.