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L
iesl stand am Küchenfenster und starrte in das Schneetreiben. Über Nacht hatte sich das frühlingshafte Wetter gedreht, eine dünne weiße Schicht überzog den Park, bedeckte malerisch die alten Koniferen, und aus dem Blumenrondell vor der Tuchvilla schauten lediglich ein paar bunte Blüten mit müden Köpfchen heraus.
»Net so schlimm, Liesl«, sagte Christian, der gerade seinen Morgenkaffee am Küchentisch trank. »Der Boden ist net gefroren, und heut Nachmittag kommt gewiss die Sonne wieder raus. Da taut das bisserl Schnee schnell weg.«
Die Liesl stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ja lieb, dass der Christian sie beruhigen wollte, aber sie wusste es leider besser.
»Den jungen Kohlpflänzchen wird’s net guttun, wenn schon Schnee draufliegt, bevor sie richtig angewachsen sind. Da wird die Mama wieder mit dem Papa streiten, dass er sie zu früh ausgepflanzt hat.«
Wenn etwas danebenging in der Gärtnerei, dann gab die Auguste immer ihrem Mann die Schuld, er war bei allen Unglücksfällen der Sündenbock. Oft hatte sich Liesl an seine Seite gestellt, weil sie fand, dass die Mutter ungerecht war. Doch damit hatte sie den mütterlichen Zorn auf sich gelenkt. Deshalb hatte der Vater ihr einmal, als sie miteinander allein waren, gesagt, dass sie seinetwegen nicht streiten brauchte. Man müsse einfach schweigen,
dann würde der Mutter irgendwann das Schimpfen vergehen.
Christian stellte den geleerten Becher auf den Tisch, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und stand auf. »Bis nachher, Liesl. Ich will den Hof kehren, weil heut der Kurti heimkommt.«
Ja richtig! Eilig räumte sie die Reste des Dienstbotenfrühstücks vom Tisch, wusch das Geschirr ab, stellte alles an seinen Platz und schrubbte die Tischplatte mit Scheuersand. Darauf würde Frau Brunnenmayer, wenn sie erschien, einen besonderen Wert legen. Sie war noch nicht ganz fertig, da hörte sie bereits die schweren Schritte der Köchin auf der Dienstbotentreppe.
»Ich hab’s ja gewusst«, sagte Fanny Brunnenmayer mit großer Befriedigung. »Am Ende ist’s immer noch die gnädige Frau Alicia, die das Sagen in der Tuchvilla hat. Aus ist’s mit den albernen Verboten. Keine fleischlosen Tage mehr, insgesamt soll halt weniger Fleisch gegessen werden, dafür mehr Mehlspeisen. Die Schokoladentorte für den Kurti allerdings, die muss sein, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und eine gute Kalbsbrühe haben wir auch angesetzt.«
Liesl rubbelte die Tischplatte blank und wollte wissen, ob sie bei der Schokoladentorte helfen dürfe.
»Das will ich meinen, Mädel. Vor allem die Dekoration, die musst du ganz allein machen. Weil meine Händ nimmermehr so sicher sind wie früher einmal.«
Im Geist ging Liesl gleich das Tortenrezept durch. Einen feinen Biskuitboden würden sie backen, auskühlen lassen und mit einem Faden einmal durchschneiden. Dann kam die gute Kirschmarmelade und die Vanillecreme zwischen die Böden, und am Ende musste man Schokolade im Wasserbad schmelzen lassen und den Kuchen damit überziehen. Für die Dekoration wollte sie
kleine Autos aus buntem Zuckerguss malen und vielleicht einen Teddybären.
»Jetzt an die Arbeit!«, befahl die Köchin. »Die Klöß, die kannst ganz allein vorbereiten, zuerst schneidest aber den Rotkohl in schöne, feine Scheiben.«
Liesl liebte diese Tage in der Tuchvilla, wenn es in der Küche hektisch herging, man an tausend Dinge gleichzeitig denken musste und auf dem langen Küchentisch Gemüse, Kräuter, entgräteter Fisch, Gewürze und das gespickte Bratenfleisch lagen. Wenn man genau überlegen musste, wie lange die Gerichte benötigten, um alles aufeinander abzustimmen, damit nicht etwa das Fleisch zu weich oder die Nachspeise nicht richtig fest wurde. Fanny Brunnenmayer musste ihr selten eine Anweisung geben, Liesl dachte mit, ohne viele Worte arbeiteten sie einander zu.
Manchmal kamen Gerti oder Hanna in die Küche gelaufen, um Tee oder Kakao sowie belegte Brote zuzubereiten, weil oben bei der gnädigen Frau Elisabeth jemand ein zweites Frühstück bestellt hatte. Oder Rosa Knickbein schaute mit den Kindern vorbei, die einen Apfelmost trinken wollten, und Liesl musste Obacht geben, dass keines der Kleinen dem heißen Ofen zu nahe kam. Obwohl solche Störungen lästig waren, gehörte das zur Arbeit einer Köchin dazu, und Liesl durfte auf keinen Fall den Moment verpassen, wenn der Biskuitboden aus dem Ofen genommen werden musste.
Heute verursachte Else ein zusätzliches Problem, weil sie in die Küche schlurfte und nach der Blechkanne griff, die auf dem Rand des Herdes warm gehalten wurde. Dabei stieß sie versehentlich Fanny Brunnenmayer an, die gerade die Schokolade im Wasserbad rührte, und etwas vom kochenden Wasser schwappte in die flüssige Schokolade hinein
.
»Kannst net aufpassen, dumme Person?«, schimpfte sie. »Jetzt hast mir den Schokoladenguss verdorben. Grad heut!«
Else stand ganz erschrocken da, die Kanne in der Hand, und stotterte, dass sie es nicht mit Fleiß getan hätte.
»Mach dich hinüber an den Tisch und komm mir ja nicht noch mal in die Quere!«
Liesl tat die ältliche Else leid, sie nahm ihr die Kanne ab und goss rasch einen Becher mit Kaffee und Milch voll, den sie für Else ganz hinten auf den Tisch stellte. Die Köchin konnte recht grob werden, wenn ihr etwas gegen den Strich ging, obwohl alle inzwischen wussten, dass Fanny Brunnenmayer es nicht so böse meinte, wie sie es im Zorn sagte.
Sie hatte gerade die Torte mit dem leicht verlängerten Schokoladenguss überzogen, da hörte sie Gerti oben am Fenster rufen: »Sie kommen, sie kommen!«
»Grad jetzt, wo das Wasser für die Klöß zum Kochen anfängt«, brummte die Köchin und zog den Topf von der Herdmitte zum Rand hinüber.
Da half jetzt nichts, die Dienstboten standen bei solchen Gelegenheiten in der Halle vor der Küchentür, um zu zeigen, dass sie Anteil am Familiengeschehen ihrer Herrschaft nahmen. Und natürlich taten sie es diesmal besonders gern, weil sie wissen wollten, ob es ihrem kleinen Liebling wieder gut ging.
Humbert hatte die Türen der Eingangshalle weit geöffnet, Gerti und Hanna standen bereit, um Mäntel und Hüte in Empfang zu nehmen, draußen an der Treppe warteten Christian und Dörthe auf den Heimkehrer mit einem Strauß Stiefmütterchen, die leicht lädiert waren, denn es schneite noch immer.
»Ganz blass schaut der Bub aus«, fand Fanny Brunnenmayer, als Kurti aus dem Auto kletterte
.
»Dafür läuft er wieder wie ein Wiesel«, freute sich Else.
»Wenn er bloß net hinfällt, der Wildfang«, sorgte sich die Köchin.
Kurti war die Stufen hinaufgerannt und hatte Humbert den soeben empfangenen Blumenstrauß anvertraut. Er wollte gerade in die Küche laufen, als Johann und Hanno mit großem Hallo auf ihn zustürzten. Und von der herrschaftlichen Treppe kam Großmama Alicia herabgestiegen, gefolgt von der gnädigen Frau Elisabeth. Hinter ihnen ging Rosa Knickbein mit der kleinen Charlotte auf dem Arm. Die Halle der Tuchvilla war plötzlich voller fröhlicher Menschen. Kurti musste der Großmama Küsschen geben, seine Tante Elisabeth nahm ihn in ihre mütterlichen Arme. Die Erwachsenen umarmten einander ebenfalls. Marie küsste ihre Schwiegermutter Alicia, Lisa umhalste ihren Bruder Paul, und alle redeten durcheinander, bevor sie nach oben in den ersten Stock hinaufgingen.
»Das Mittagessen wird um eine Stunde verschoben«, meldete Hanna kurz darauf. »Weil Kurti erst seine Geschenke haben will. Und wenn Leo aus der Schule kommt, will er etwas für seinen Bruder auf dem Klavier spielen.«
Davon gar nicht begeistert war Fanny Brunnenmayer, jetzt musste sie sehen, wie sie den Braten warm hielt.
»Wenn der Leo wieder diese russische Musik spielt, wird der Kurti wenig Freude dran haben«, murrte sie. »Die mag keiner im Haus mehr hören.«
Alle kehrten sie erst mal in die Küche zurück, um das große Kaffeetrinken für den Nachmittag vorzubereiten. Die Herrschaften aus der Frauentorstraße wollten selbstverständlich kommen und Gertrude Bräuer, die Schwiegermutter von Kitty und Großmutter von Henny, hatte es sich nicht nehmen lassen, für Kurti einen Hefeguglhupf zu backen
.
Mit einem Mal vernahmen sie Klavierklänge.
»Was spielt er da?«, wunderte sich Humbert.
»Der Russe ist das net«, meinte die Köchin und zog den Topf mit den Klößen weiter an den Rand, weil das Wasser brodelte.
»Das ist hübsch«, fand Gerti. »Nicht so schwülstig.«
»Ich weiß, was das ist«, sagte Hanna zu Liesl. »Das hat der Leo selber komponiert. In seiner Schreibtischschublade hat er lauter Notenblätter mit selbst gemachter Musik. Bloß soll das keiner wissen. Außer der Dodo, die weiß es und hat es mir verraten.«
»Und warum soll das keiner wissen?«, wunderte sich Fanny Brunnenmayer.
»Ich denk mal, weil sein Vater nicht will, dass er Musiker wird«, vermutete Humbert.
Liesl beendete die Arbeit an ihrer Kuchendekoration und war recht zufrieden. Unter der Zuckerschrift:
Willkommen daheim
fuhren mehrere bunte Autos, ein Lastwagen und sogar eine Straßenbahn. Jetzt wollte sie noch einen braunen Teddybären malen und vielleicht ein hübsches rotes Herz.
Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie nicht hörte, wie die Tür zum Hof geöffnet wurde.
»Liesl?«, rief jemand. »Bitte nicht erschrecken. Du musst sofort nach Hause kommen.«
Christian in Gummistiefeln und Gärtnerjacke stand dort, die Mütze hatte er abgenommen und hielt sie in der Hand. Er schaute ganz seltsam drein, als hätte er gerade geweint, und seine Stimme war so leise, dass sie zuerst gar nicht gewusst hatte, wer sie da rief.
»Das geht jetzt net«, wollte ihn die Köchin zurückweisen. »Siehst net, dass wir an der Arbeit sind?«
Christian schüttelte den Kopf. »Es muss gehen. Zieh
dir den Mantel über, Liesl, und nimm ein Tuch ums Haar. Es schneit.«
Das Mädchen starrte ihn an und begriff, dass etwas Schlimmes geschehen war. Etwas, das wichtiger war als der gestrenge Dienst in der Tuchvilla. Ihre Hände fingen an zu zittern, der Löffel fiel auf den Boden, ihr Herz schlug so heftig, dass ihr schwindelig wurde.
»Jessus Maria!«, rief Fanny Brunnenmayer. »Was ist denn los, Christian?«
Der junge Mann reagierte nicht, gab keine Antwort, und so ließ die Köchin die beiden gehen. »Wennst mich brauchst, kommst her zu mir. Hast mich verstanden, Liesl?«
»Ja, Frau Brunnenmayer. Danke schön, Frau Brunnenmayer«, stammelte das Mädchen und folgte Christian hinaus in das Schneetreiben. Schon nach wenigen Schritten spürte sie, wie die kalte Luft durch ihren dünnen Mantel drang.
Christian blieb stehen und zog seine Jacke aus. »Da. Nimm das, Liesl. Mir ist warm, weil ich draußen gearbeitet hab.«
»Sag endlich, was geschehen ist«, bedrängte sie ihn.
Er schwieg, fasste sie bei der Hand und lief mit ihr durch den Park, öffnete das Mauertörchen, hastete mit ihr weiter über Stock und Stein, durch Pfützen und Schneeverwehungen.
»Ist etwas mit dem Maxl?«, fragte sie angstvoll. »Der hat den dritten Tag Fieber gehabt.«
»Nein. Dem Maxl geht’s besser. Es ist …«
Sie erreichten die Treibhäuser und das Wohnhaus der Gärtnerei. Schnee lag auf den gläsernen Einsätzen der Treibhäuser, weil sie die Neigung der Dächer falsch berechnet hatten, den ganzen Winter über hatte der Maxl mit dem Hansl zusammen den Schnee herunterkehren
müssen, damit das Glas nicht brach. Als sie vor dem Haus ankamen, blieben sie atemlos stehen.
»Du musst jetzt stark sein, Liesl«, sagte Christian. »Denk immer dran, dass ich bei dir bin, ja? Was immer geschieht, ich bin für dich da.«
Die Haustür war angelehnt, was die Mutter eigentlich gar nicht mochte. Als sie mit klopfendem Herzen eintrat, kam ihr im Flur der Maxl entgegen, bleich wie ein Leintuch.
»Liesl«, schluchzte er und umarmte sie. »Gut, dass du da bist. Die Mutter ist ganz verzweifelt und redet so seltsame Sachen.«
Zu dritt stiegen sie die Treppe hinauf, oben saß der Hansl auf dem Boden und hielt den kleinen Fritz umschlungen. Beide weinten zum Steinerweichen. Als sie ihre Schwester sahen, sprangen sie auf und klammerten sich an sie.
»Der Papa ist tot. Er wacht nimmer auf«, weinte Hansl.
»Das ist net wahr, oder? Liesl, du weißt doch, dass das nicht stimmt. Der schläft bloß ganz fest.« Fritz schaute sie mit großen Augen an.
Sie stand wie erstarrt da und hielt die weinenden Brüder im Arm, versuchte vergeblich zu begreifen, was sie zu ihr gesagt hatten. Der Vater war gestern Abend schließlich noch ganz gesund gewesen.
»Lasst die Liesl jetzt gehen«, mischte sich Christian ein. »Kommt in die Küche, ihr beiden. Ich koche euch einen Tee. Und wir schauen mal, was in der Speisekammer ist.«
Damit waren die kleineren Jungen abgelenkt, während Maxl, der Älteste, den Arm um Liesl legte und sie mit sich nahm.
»Wir dürfen die Mama nicht allein lassen. Ich glaub, sie ist ganz wirr im Kopf.
«
Er zog die Tür vom Elternschlafzimmer auf und trat zur Seite, damit Liesl hineingehen konnte. Der Raum war klein, das breite Ehebett füllte ihn fast ganz aus, rechts und links ein Nachttischchen, an der Seite beim Fenster der Kleiderschrank. Liesl sah zuerst ihre Mutter, die von ihr abgewandt auf dem Bettrand saß, dann erst erblickte sie den Körper des Vaters. Er wirkte seltsam klein, wie er ausgestreckt zwischen all den zerwühlten Decken und Kopfkissen lag. Er trug seinen blauen Schlafanzug, und seine Hände waren über der Brust zusammengelegt. Liesl musste einige Schritte in den Raum hineingehen, um an der Mutter vorbei das Gesicht des Vaters zu sehen. Es war wie immer. Die Wangen eingefallen und von Bartstoppeln bedeckt, der Mund stand ein wenig offen, die Augen waren bis auf einen schmalen Schlitz geschlossen. Sah so ein toter Mensch aus? Sie wusste es nicht, da sie nie zuvor einen Toten gesehen hatte.
»Mama?«, sagte sie leise.
Auguste schrak zusammen und fuhr herum. Sie sah schrecklich aus. Das Haar hing wirr herunter, die Augen waren rot gerändert, der Blick war starr.
»Da bist du ja«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Schau ihn dir an! Gegangen ist er. Hat uns sitzen lassen im Elend, sich feige davongemacht und alles mir allein überlassen.«
Ihr Bruder hatte recht gehabt, sie war vollkommen durcheinander in ihrer Verzweiflung. Liesl ging zu ihr und wollte den Arm um sie legen, aber Auguste stieß sie von sich.
»Brauchst nicht mehr anzukommen«, schimpfte sie. »Warum warst du nicht früher da? Hat sich totgearbeitet, der arme Kerl. Doch du bist ja zu fein, um auf dem Acker zu helfen. Denkst, du seist etwas Besseres, weil du in der Tuchvilla Küchenmädel bist. Keiner hat uns geholfen!
Keiner! Und mit einem Mal ist alles aus und vorbei. Wir brauchen keinen mehr. Alles kommt unter den Hammer. Alles, wofür wir jahrelang gearbeitet haben.«
Liesl beherzigte den Rat, den der Vater ihr einst gegeben hatte. Sie schwieg und ließ die Mutter reden. Dabei hätte sie ihr viel zu ihrer Verteidigung entgegenhalten können, da der Christian ihnen viele Stunden lang geholfen und sie selbst sich noch gestern auf den Acker gestellt hatte, um die jungen Pflänzchen in die Erde zu bringen. Sie starrte auf den toten Vater, und der Kummer um ihn stieg heiß in ihr auf. Dennoch kamen keine Tränen, sie konnte nicht weinen, weil die Mutter unablässig redete.
»Gestern Abend, da hat er einen Schüttelfrost gekriegt und ein wenig Fieber«, erzählte sie und betupfte sich die Wangen mit einem Taschentuch. »Da hab ich gemeint, der Maxl hat ihn mit der Grippe angesteckt. Einen Salbeitee hab ich ihm gekocht und Honig reingetan, den hat er getrunken. Geholfen hat’s nicht, ganz grau war er im Gesicht. Und als er sich ins Bett gelegt hat, dachten wir, er müsse sich ausschlafen, morgen sei es gewiss besser.«
Am Morgen hingegen hatte Auguste ihn tot neben sich gefunden, hatte ihn gerüttelt und geschüttelt, weil sie es nicht glauben wollte, dann hatte sie den grippekranken Maxl aus dem Bett gescheucht, damit er einen Arzt holte. Es war ein Dr. Kortner, der sofort mitgekommen war. Bei der Untersuchung des Verstorbenen war er entsetzt gewesen, wie stark der Beinstumpf entzündet und praktisch vereitert gewesen war.
»Warum haben Sie mich nicht früher geholt?«, hatte er kopfschüttelnd gesagt. »So eine Entzündung hätte behandelt werden müssen.«
Der Vater war an einer Sepsis gestorben, an einer Blutvergiftung. Die Entzündung in seinem Bein hatte sein
Blut krank gemacht und den ganzen Körper vergiftet. So erklärte es die Mutter.
»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass es so schlimm um ihn steht«, jammerte sie. »Er hat schließlich immer gesagt, es geht schon.«
»Das ist wahr, Mama!«
Jetzt endlich hatte sich die Mutter Zorn und Verzweiflung von der Seele geredet und wurde ruhiger. Liesl setzte sich neben sie auf die Bettkante, beide hielten einander fest, und als Auguste zu schluchzen begann, konnte auch Liesl endlich weinen. Um den Vater, der immer so gütig und voller Verständnis gewesen war. Schweigend hatte er alles ertragen, sich selten beklagt. Warum hatte ihm niemand helfen können? Ach, sie hatte ihn für immer und ewig verloren.
»Du bist meine ganze Hoffnung, mein Mädel«, raunte die Mutter ihr ins Ohr. »Alles bricht über uns zusammen. Ich hab Schulden gemacht, die kann ich net zahlen, wenn die Gärtnerei nix einbringt. Das Häusl werden sie uns wegnehmen. Die Gewächshäuser. Das Land. Alles. Nackt und arm werden wir dastehen. Du musst nach Pommern fahren und Geld beschaffen. In der Not muss er endlich zahlen. Verstehst mich?«
Liesl nickte bereitwillig und schwieg. Die Mutter war nach wie vor wirr im Kopf und redete ganz unsinnige Dinge daher. Sie würden gut auf sie aufpassen müssen, sonst tat sie sich in ihrer Verzweiflung am Ende noch etwas an.