13
September 1930
Der Himmel über Augsburg war von grauen Wolken verhangen, bleiern lagen sie über den altehrwürdigen Türmen und Dächern, schwerer noch schienen sie auf dem östlichen Teil zu lasten, wo sich zwischen Stadt und der Wertach, einem Zufluss des Lechs, die großen Industriewerke angesiedelt hatten. Jahrzehntelang hatten die Textil-, Papierfabriken und Maschinenwerke den Wohlstand der Stadt gesichert. Nun aber schien ihre Zeit vorbei.
Paul wandte sich vom Bürofenster ab und lauschte auf die gewohnten Geräusche. Auf das unregelmäßige Klappern der Schreibmaschinen im Nebenraum, das Rattern eines Handwagens, der über den Hof gezogen wurde, das gedämpfte Summen und Dröhnen aus den Fabrikhallen. Dazwischen leise Gespräche seiner Sekretärinnen, Rufe im Kommandoton vom Hof her, das Quietschen des eisernen Tores, wenn der Pförtner einem Wagen die Einfahrt aufs Firmengelände genehmigte. Die Fabrik war wie ein lärmendes, atmendes Wesen, ein Gefüge aus Gebäuden, Maschinen und Menschen, jeder wusste seinen Platz und trug dazu bei, dass das Ganze am Leben blieb. So hatte er es kennengelernt, als er noch ein kleiner Bub war, so war es gewesen, als er an die Stelle des Vaters trat, und er hatte geglaubt, dass diese Geschäftigkeit in Hallen und Häusern ihn bis an sein Lebensende begleiten würde .
Müde setzte er sich nieder und starrte auf die grüne Schreibtischgarnitur, die noch von Melzer senior stammte. Was hätte sein Vater in seiner Lage getan? Die Fabrik in gewohnter Weise weiterlaufen lassen bis zum bitteren Ende? Der Firmengründer war stur gewesen, er hatte sich im Krieg trotz der Rohstoffknappheit mit Händen und Füßen gegen die Produktion von billigen Papiertextilien gewehrt. Da Paul zu Kriegsbeginn eingezogen worden war, hatte es Marie übernommen, den Vater von dieser Notwendigkeit zu überzeugen und auf diese Weise die Fabrik zu retten.
Jetzt hingegen lagen die Dinge anders. Nicht die Rohstoffe waren knapp, sondern das Geld, der Absatz stockte. Es kamen kaum noch Aufträge herein, schon gar nicht aus dem Inland, denn in Deutschland brach ein Betrieb nach dem anderen zusammen. Aber auch der Export war drastisch zurückgegangen.
Paul stand vor einer schweren Entscheidung. Was sollte er tun? Die Spinnerei stilllegen, die Arbeiter entlassen? Vermutlich war es nicht zu umgehen. Sie hatten kistenweise Garne im Lager gestapelt, und es machte keinen Sinn, weiter auf Halde zu produzieren, wenn man es nicht loswurde. Vielleicht war es besser, im Moment auf die Weberei zu setzen, auf die schönen Druckmuster, die einzigartig in Deutschland waren. Später, wenn sich die wirtschaftliche Lage erholt hatte, konnte man die Ringspinner ja wieder in Betrieb nehmen und die Arbeiter wieder einstellen. Hoffentlich!
Zumindest waren die Angestellten vor einer Woche über die bevorstehenden Entlassungen unterrichtet worden, nach einem harten Ringen mit dem Betriebsrat, bei dem Sebastian verzweifelt dagegen gekämpft hatte. Vergeblich, denn er saß am kürzeren Hebel, was er im Gegensatz zu seinen Mitstreitern nicht einsah. Selbst zu Hause in der Tuchvilla führte er die Diskussion mit seinem Schwager hartnäckig fort.
»Du musst die Leute nicht entlassen, du kannst sie an anderer Stelle in der Fabrik einsetzen.« In einigen wenigen Fällen war das möglich, für die große Mehrheit jedoch nicht. Knapp dreihundert Arbeiter mussten gehen.
»Was sollen die Frauen tun, deren Männer arbeitslos sind? Sollen sie mit ihren Kindern verhungern? Oft müssen sie noch die Eltern und Verwandte mitversorgen«, redete Sebastian ihm gut zu, weil er wusste, dass die Arbeitslosenversicherung nicht reichte, deren Leistungen in diesem Jahr per Notverordnung gekürzt, die Beiträge jedoch erhöht worden waren.
»Das ist nicht genug, um eine Familie zu ernähren«, hatte er argumentiert. »Selbst diejenigen, die unter die Krisenfürsorge fallen, können kaum überleben, zumal die nach einem Dreivierteljahr ohnehin ausläuft und nichts als die Wohlfahrt bleibt. Eine unerträgliche Demütigung für einen Arbeiter, der zwanzig oder mehr Jahre hier in der Fabrik treu seine Arbeit verrichtet hat. Brennstoffe, Miethilfe oder andere Zuwendungen, für alles muss man Anträge ausfüllen und Prüfungen über sich ergehen lassen. Für zwanzig Pfennige eine Suppe aus der Volksspeisung essen. Gespendete Kleider tragen, die nicht einmal gewaschen wurden …«
Um Sebastian ein kleines Erfolgserlebnis zu gönnen, hatte Paul einer drastischen Mietminderung in den fabrikeigenen Wohnungen zugestimmt, eine Maßnahme, die er längst beschlossen hatte. Man würde niemanden vor die Tür setzen, der mit der Miete im Rückstand war. Allerdings würde es auch keinerlei Renovierungen geben, dazu fehlten die Mittel. Die Lage war ernster, als er zugab, weil er, um neue Webmaschinen zu kaufen, bei einer amerikanischen Bank einen Kredit aufgenommen hatte, der inzwischen wegen der wirtschaftlichen Lage zurückgefordert worden war.
Einen weiteren Kredit hatte er privat laufen, um den Anbau an die Tuchvilla zu finanzieren, und den würde er ebenfalls im Ganzen zurückzahlen müssen. Alles war rechtens und vertraglich festgelegt.
Außerdem wies Sebastian immer wieder auf die dramatische Situation in den Augsburger Arbeitervierteln hin. In der Jakobervorstadt, in Lechhausen, in Hochzoll oder Oberhausen herrschten bereits jetzt Elend und bitterste Armut, Krankheiten wie Blutarmut oder Tuberkulose breiteten sich aus, die Kriminalität war angestiegen. Paul war all das nicht unbekannt.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, hatte er seinen Schwager angebrüllt. »Die Tuchvilla verkaufen? Willst du mit deiner Familie gern eine Arbeiterwohnung beziehen?«
»Ich selbst bin jederzeit dazu bereit«, erklärte Sebastian stolz.
Paul glaubte ihm aufs Wort. Bloß würde seine Opferbereitschaft einknicken, wenn Lisa und die Kinder ins Spiel kamen. Niemals würde Sebastian seiner geliebten Frau die Lebensumstände einer Arbeiterfamilie zumuten. Und seinen Kindern erst recht nicht.
»Im Übrigen haben diese schlimmen Zustände deiner Partei bei der gestrigen Reichstagswahl eine Menge Stimmen eingebracht«, fügte Paul sarkastisch hinzu.
Auf diesen Galgenhumor reagierte Sebastian mit höchster Empörung.
»Was helfen der KPD die hundertsieben Abgeordneten? Die NSDAP ist jetzt zweitstärkste Fraktion nach der SPD. Eine Katastrophe! Ich verstehe nicht, wie jemand diesen Adolf Hitler wählen kann.«
Am Morgen war in den Zeitungen zu lesen gewesen, dass es einen Erdrutsch bei den Reichstagswahlen gegeben habe. Die SPD hatte Verluste erlitten, was zu erwarten war. Das erschreckend hohe Wahlergebnis der NSDAP war für Paul überraschend gekommen. In Augsburg hatte sich zwar die Bayerische Volkspartei behaupten können, aber auch hier hatte die NSDAP zugelegt.
Dass die Hitler-Partei eine Gefahr für Deutschland darstellte, darin war er sich mit Sebastian einig, und so hatte sich schließlich nach zähen Streitgesprächen im Büro der Tuchvilla doch ein Kompromiss ergeben. Sebastian stimmte den Entlassungen zu, nur die Lohnkürzungen würde er aufs Schärfste anprangern und außerdem darauf achten, dass die Fabrikleitung in besonderen Härtefällen Milde walten ließ. Damit konnte Paul leben.
»Außerdem werde ich selbst meinen Arbeitsplatz freiwillig zur Verfügung stellen«, schloss Sebastian das Gespräch.
»Bitte sehr!«
Paul schlug die Akte zu, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt und todmüde. Letzte Nacht hatte er kaum ein Auge zubekommen und sich in aller Früh erhoben, um die Rede an seine Arbeiter noch einmal zu überarbeiten. Es sollte nicht endgültig klingen, er wollte ihnen die Hoffnung auf eine Wiedereinstellung erhalten, auch wenn er selbst nicht wusste, ob und wann dies möglich war.
Um kurz vor zwei verkündete die Fabriksirene das Ende der Frühschicht, und der Moment war gekommen, den bittersten Gang anzutreten, den er als Direktor der Melzer’schen Textilfabriken je hatte gehen müssen. Die Sekretärin Hoffmann öffnete die Tür seines Büros einen Spaltbreit. Er konnte ihre Brille funkeln sehen, als sie zu ihm hereinlugte. »Herr Direktor, die Arbeiter warten in der Kantine …«
Eigentlich gab es die Kantine seit zwei Monaten nicht mehr, die Arbeiter brachten sich ihr Essen mit, und der große Raum diente inzwischen als Lager oder Versammlungsraum.
»Danke, Frau Hoffmann. Ich komme …«
Er faltete das Blatt mit seiner Rede zusammen, steckte es in die Jackentasche und trat in den Vorraum. Dort wartete Sebastian auf ihn.
»Ich werde dich begleiten«, sagte er. »Ich muss vor den Arbeitern Rechenschaft ablegen …«
Er war ungewöhnlich aufgeregt, was Paul gut verstehen konnte. So penetrant Sebastian manchmal sein mochte, es war mutig, diesen schweren Weg zu gehen und für seine Überzeugungen einzustehen, was er in gewisser Weise respektierte.
Ottilie Lüders hielt ihnen die Tür auf und machte ein Gesicht, als ginge die Welt unter. Natürlich fürchteten seine langjährigen Sekretärinnen um ihre Stellungen, eine von ihnen würde leicht reichen. Deshalb hatten die beiden zur Selbsthilfe gegriffen, um sich den Anschein eifriger Beschäftigung zu geben. Sie sortierten alte Akten, staubten die Regale ab, legten überflüssige Listen über den Bestand an Büromaterial an, schrieben den gleichen Brief sogar zweimal, weil sie angeblich vergessen hatten, Kohlepapier und Durchschlag einzulegen.
In der ehemaligen Kantine standen die Arbeiter und Arbeiterinnen der Spinnerei dicht gedrängt, da der Raum zu einem Teil mit Kisten und Kartons gefüllt war. Die Luft war schlecht, niemand hatte daran gedacht, ein Fenster zu öffnen, es wurde leise gesprochen.
Als Paul und Sebastian hereinkamen, erstarb das Gemurmel, Schweigen kehrte ein. Man trat zur Seite, um den beiden den Weg zu dem Rednerpult freizugeben, das der alte Josef Mittermaier aufgebaut hatte. Er war einer der drei Arbeiter, die in wenigen Monaten ihre Rente erhalten würden und daher von der Entlassung nicht so schwer betroffen waren.
Für die anderen – es waren überwiegend Frauen – würde es hart werden. Während Paul zum Podium schritt, spürte er ihre dumpfen Blicke. Die meisten wussten, was ihnen bevorstand, kaum jemand hatte sich die Hoffnung bewahrt. Doch nach wie vor erkannte er flehentliche Bitte in ihren Augen, er möge das Unausweichliche von ihnen abwenden.
»Heute ist ein schwarzer Tag für uns alle«, begann er seine Rede und sah den letzten Hoffnungsschimmer in den Blicken sinken. »In der Spinnerei wurde die vorläufig letzte Schicht gefahren, und wir müssen schließen. Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht, aber in der momentanen Situation ist sie das kleinere Übel …«
Er führte aus, dass bessere Zeiten kämen und er seine treuen Arbeiter wieder einstellen werde. Keinen würde er vergessen, dazu stünde er persönlich mit seinem Wort. Sein Versuch, die Entlassungen in milderem Licht zu schildern, misslang kläglich, einige der Frauen begannen zu weinen, andere wandten sich ab und verließen den Raum, bevor Sebastian das Wort ergreifen konnte. Nicht einmal die Rede seines Schwagers fand ein bisschen von dem erhofften Widerhall, und Sebastian als Betriebsrat kassierte sogar feindselige Blicke. Er bekam mehr von dem Ärger ab als der geachtete Herr Direktor, der schnell von Bittstellerinnen und Ratsuchenden umringt wurde, die von ihm wissen wollten, wie es für sie nun weiterging.
Die Kündigungen beziehungsweise Lohnkürzungen würden den Betroffenen schriftlich zugesandt, die Sekretärinnen bekamen in den kommenden Tagen dadurch viel zu tun, aber sie hatten vermutlich wenig Freude an dieser Arbeit. Paul ging zurück ins Verwaltungsgebäude, um ihnen die vorbereiteten Texte mit den Namen zu übergeben. Die Härtefälle waren alle mit Sebastian besprochen, die Betroffenen wurden weiter beschäftigt, mussten allerdings eine deutliche Lohnkürzung in Kauf nehmen.
»Ach Gott«, sagte die Hoffmann, als er ihr die Akten überreichte. »So viele!«
»Leider.«
Er zögerte einen Moment, dann entschloss er sich, hinüber in die Spinnerei zu gehen, um sicherzustellen, dass seine Anweisungen ordnungsgemäß befolgt wurden. Kein angenehmer Gang, aber es gehörte zu seinen Aufgaben als Fabrikdirektor, alle Maßnahmen bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Auf dem Hof entdeckte er Sebastian, der bei einem kleinen Grüppchen von Arbeiterinnen stand und den Frauen erzählte, dass sie in die KPD eintreten müssten. Als ob das ihre Not lindern könnte!
In der Halle schaltete Josef Mittermaier, der die Maschinen jahrelang zuverlässig betreut hatte, gerade den letzten Ringspinner aus. Das laute, regelmäßige Summen und Surren begann zu stottern, der Antrieb kam ins Trudeln, es ratterte, klapperte, einige Teile vibrierten heftig, dann beendete die Maschine ihren Lauf mit einem sanften, schleifenden Zischen. Es klang, als hauchte jemand seinen letzten Atemzug aus.
»Das war’s«, rief Mittermaier seinem Chef zu. »Warten Sie, ich will sie noch ölen. Sie müssen die Ringspinner von Zeit zu Zeit in Gang setzen, sonst verdickt das Öl, und es gibt später Probleme.«
Man hatte die Maschinen schon mehrfach abstellen müssen, doch die Spinnerei ließ man immer nur für ein paar Tage ruhen, dann wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Nun lagen die Dinge anders. Die Ringspinner, die noch nach den Plänen von Maries Vater, dem verstorbenen Jacob Burkard, konstruiert worden waren, würden für lange Zeit schweigen.
Die Stille in der großen Halle erschien Paul unerträglich. Hier, wo man sonst kaum sein eigenes Wort im Maschinenlärm verstanden hatte, konnte man jeden Fußtritt hören, der Regen schlug oben gegen die Sheddächer, Mittermaier klapperte mit seiner Ölkanne. Noch schwebte der Geruch nach Maschinenöl im weiten Raum, nach der Baumwolle, die man versponnen hatte, nach den Menschen, die hier an den Maschinen gestanden hatten. Aber bald würde der Winter kommen, dann kühlte alles aus, Dunkelheit und Leere würden diese Halle in Besitz nehmen. So, wie es in anderen Fabriken der Branche inzwischen geschehen war.
Paul wartete, bis Josef Mittermaier seine Arbeit beendet hatte, und reichte ihm zum Abschied die Hand. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute.«
Der Vorarbeiter wischte sich rasch die ölverschmierten Hände an der Hose ab, bevor er einschlug und ihm ein paar Tränen kamen, als wäre es ein Abschied für immer.
»Hart war’s ja manchmal, Herr Direktor«, meinte er gerührt. »Und selbst wenn wir nicht immer einer Meinung waren, war’s schön. So schön, dass ich das alles vermissen werde.«
Als Paul die Halle abschloss, begann es zu regnen, ein feiner Nieselregen, der sich vermutlich zu einem kräftigen Landregen entwickelte und die Fabrik in einen düsteren Schleier hüllte. Gewaltsam schüttelte er die trüben Gedanken ab. Warum ließ er sich so herunterziehen? Es ging ja weiter. Drüben in der Weberei wurde schließlich noch gearbeitet, die Drucker hatten zu tun, und die Verwaltung war nach wie vor in Betrieb. Er schlug den Kragen der Jacke hoch, entdeckte zwei vergessene Kisten im Hof und rief nach dem Lagerarbeiter, ging dann nach oben, nickte den eifrig tippenden Sekretärinnen im Vorübergehen aufmunternd zu und genehmigte sich in seinem Büro einen Kognak. Kaum hatte er von der belebenden Flüssigkeit genippt, läutete das Telefon auf seinem Schreibtisch.
»Schmitt & Kummer aus Heidelberg. Soll ich durchstellen, Herr Direktor?«
»Natürlich!«
Eine große Schneiderei, die ihre Stoffe gern direkt in der Fabrik einkaufte. Na bitte! Er hatte ihnen vor einigen Wochen Muster zukommen lassen.
»Grüß Gott, lieber Melzer«, tönte es aus dem Hörer. »Wie geht es Ihnen bei diesem Sauwetter?«
Man redete kurz über das Wetter, streifte die Reichstagswahlen und die allgemeine wirtschaftliche Lage, bevor Theodor Kummer zur Sache kam.
»Es geht um einen größeren Posten, lieber Melzer. Da erwarten wir natürlich, dass Sie uns preislich entgegenkommen …«
Immerhin zehn Ballen bedruckter Flanell und das passende Nähgarn dazu, weder schrecklich üppig noch wirklich schlecht. Sie feilschten um den Preis, Kummer war ein Halsabschneider und nutzte die Lage gnadenlos, sodass Paul Federn lassen musste. Am Ende einigten sie sich, und Kummer versprach, die Bestellung morgen per Telegramm zu bestätigen .
Na also. Paul seufzte erleichtert auf über den kleinen Hoffnungsschimmer. Die Weberei hatte bis auf Weiteres zu tun, und zugleich würden die Vorräte an Nähgarn abgetragen. Es ging voran, man durfte einfach Glauben und Zuversicht nicht verlieren. Er trank den Kognak aus und füllte das Glas nach, das hatte er sich heute redlich verdient. Gegen halb sechs ließ er sich Hut und Schirm geben und empfahl seinen Sekretärinnen, keine Überstunden zu machen, morgen sei schließlich auch noch ein Tag. Mittlerweile regnete es in Strömen, und er war froh, heute den Wagen genommen zu haben, zu Fuß wäre er trotz Schirm komplett durchweicht in der Tuchvilla angekommen. Er winkte dem Pförtner, der ihm das Tor öffnete, einen freundlichen Abendgruß zu, und erst als er in die Einfahrt zum Park einbog und die Tuchvilla am Ende der Allee in einem diesigen Regenschleier auftauchte, kehrten die düsteren Gedanken zurück.
Der verfluchte Kredit der amerikanischen Bank. Unter vergleichsweise günstigen Bedingungen hatten sie ihm das Geld angeboten, er wäre dumm gewesen, nicht zuzugreifen. Zumal der Anbau dringend notwendig gewesen war, denn Alicia Melzer war der Ansicht, dass die sechs Schlafräume im zweiten Stock für elf Personen nicht zumutbar seien. Der Anbau war eine gute Entscheidung gewesen, damals ging es aufwärts mit der Fabrik, man stellte sich auf bessere Zeiten ein.
Jetzt war es anders: Er musste die Summe in relativ kurzer Zeit irgendwie auftreiben und hatte noch keine Vorstellung, wie er das bewerkstelligen sollte. Bislang hatten die Verhandlungen mit der Bank wenig Hoffnung auf bessere Konditionen erbracht. Zahlte er nicht, konnte sein Besitz gepfändet werden.
Im Park entdeckte er Christian, der den neuen Rasenmäher, den man aus England hatte kommen lassen, mit einem Wachstuch vor dem Regen schützte. Der arme Bursche arbeitete sich fast tot, weil er neben seinen Aufgaben im Park der Tuchvilla täglich in Blieferts Gärtnerei half, denn Auguste war durch den Tod ihres Ehemanns in eine schlimme Lage geraten. Marie hatte sogar zwei fähige Arbeiter besorgt, damit es weiterging mit der Gärtnerei und Auguste mit ihren Söhnen nicht im Armenhaus landete. Noch nicht. Leider fürchtete Paul, dass die gute Auguste wenig dazugelernt hatte.
Paul ließ den Wagen vor der Eingangstreppe stehen und lief durch den Regen die Stufen hinauf. Hanna hielt ihm die Tür auf, nahm den nassen Hut in Empfang und stellte die Hausschuhe bereit.
»Ist meine Frau zu Hause?«, wollte er wissen.
»Die gnädige Frau wartet in der Bibliothek auf Sie.«
Auf der Treppe kam Marie ihm schon entgegen und umarmte ihn. »Paul! Ich habe heute so oft an dich gedacht. Wie ist es gegangen? War es schlimm?«
Natürlich war sie über alles im Bilde gewesen, hatte sich sogar Vorwürfe gemacht, dass sie gestern Abend eingeschlafen war, anstatt auf ihn zu warten.
Er tröstete sie. »Es ist alles zum Glück einigermaßen gut gegangen. Nein, angenehm war es nicht. Leider musste es sein, doch ich fühle mich trotz allem erleichtert.«
Sie hielten einander an den Händen, während sie in die Bibliothek gingen, die Tür hinter sich schlossen und sich auf dem Sofa niederließen. Niemand auf der Welt war Paul so nah wie Marie, die seine Sorgen teilte und seine Freuden verdoppelte, die ihm ernsthaft ins Gewissen redete und ihm zugleich Trost, Mut und Zuversicht spendete.
»Es ist wirklich nicht leicht mit Sebastian«, meinte sie mit einem Anflug von Unwillen. »Du hast Sorgen genug, ist es da nötig, dass er so vehement um jede Kleinigkeit streitet?«
Ihr Ärger über Sebastian tat ihm gut, zur Abwechslung fühlte er sich verstanden und war sogar bereit, ein mildes Wort für Sebastian einzulegen.
»Mag sein, dass er es übertreibt, wobei andererseits sein Einsatz für die Arbeiter durchaus zu respektieren ist.«
Sie strich ihm über die Wange. »Du solltest mehr auf deine Gesundheit achten, Paul, so blass, wie du bist«, meinte sie besorgt. »Wenn du in der Fabrik alles geregelt hast, könntest du dir ein oder zwei Tage frei nehmen. Lass uns ein wenig hinausfahren, wir mieten uns in einem kleinen Gasthof auf dem Land ein und gehen spazieren, sitzen auf einsamen Bänken am Wegrand oder …«
Er schmunzelte über ihren Vorschlag. »Vielleicht später, Liebes. Momentan bin ich nicht abkömmlich. Ein neuer Auftrag ist hereingekommen, und einiges ist noch abzuwickeln.«
Sie seufzte und spottete, dass er sie zum wiederholten Mal enttäusche, und falls er ihre gut gemeinten Vorschläge weiterhin ablehne, müsse sie sich einen anderen Reisebegleiter suchen. Woraufhin er sie fest an sich zog und ihr mit einem Kuss bewies, dass er damit keinesfalls einverstanden war.
Der Essensgong beendete ihre Zweisamkeit. Die Erholungspläne mussten verschoben werden, denn Mama wurde ungehalten, wenn die Familie nicht pünktlich zum Abendessen versammelt war.
Im Speisezimmer wartete seine Mutter, wie stets perfekt gekleidet und frisiert, neben ihr saß Lisa mit der kleinen Tochter auf dem Schoß. Kurti stürzte auf seinen Papa zu und erzählte etwas von einer »Dumpfschiene«, die Dodo für ihn angezündet habe und mit der er künftig jeden Tag spielen wolle.
»Die alte Dampfmaschine meint er, Papa«, erklärte Dodo lachend. »Ich habe ihm gezeigt, wie sie funktioniert, und ich glaube, er hat es kapiert.«
Wie immer waren die Kinder zu laut, Lisa musste energisch werden, Paul rief den kleinen Kurt zur Ordnung, Johann bekam von seinem Vater Sebastian zu hören, dass er den Jüngeren ein Vorbild sein müsse. Draußen rauschte der Regen herab, der Park und alles, was außerhalb der Tuchvilla lag, versank im Nebel. Im Speisezimmer dagegen war es warm und hell, sie waren alle gesund, man freute sich, scherzte miteinander, lachte über Kurtis drollige Schilderungen. Vor allem saß seine Marie neben ihm, blickte ihn immer wieder lächelnd von der Seite an, und manchmal fanden sich ihre Hände im Schutz der Tischdecke zusammen, als wollte sie ihm sagen: Ich bin bei dir, Liebster. Ich halte zu dir, was immer geschieht .
War er nicht ein glücklicher Mann?