14
F ranz Schubert, Impromptu As-Dur. Leo ließ die Arpeggien in der rechten Hand perlen und hatte dabei die Vorstellung, dass ein Lichtstrahl über ein Kristallgefäß glitt und es zu vielfarbigem Glitzern brachte. Dann setzte das Gegenmotiv im Bass ein, mutig, voranstrebend wie ein Schiff im schwankenden Strom – kein schweres, aber ein sehr schönes Stück. Er liebte Schubert, weil seine Musik das Herz berührte, sie konnte glücklich und zugleich traurig machen.
Sinaida Obramowa unterbrach ihn kein einziges Mal, ließ ihn das Stück bis zum Ende spielen, danach trat Stille ein.
Seine Hände lagen noch auf den Klaviertasten, er lauschte dem Widerhall der Klänge, fand eine neue Bedeutung darin und lächelte.
»Brav heruntergespielt«, sagte die Lehrerin.
Es war wie ein kalter Wind, der die Musik aus seinem Kopf hinausfegte und eine abgrundtiefe Enttäuschung hinterließ. Heute war die dritte Klavierstunde nach den Sommerferien, er hatte dieses Stück zu Hause mit großer Leidenschaft geübt und glaubte, es gut gespielt zu haben. Weil es lediglich mittelmäßige technische Anforderungen stellte, konnte er sich ganz und gar auf die Musik konzentrieren.
Schweigend sah er zu, wie Sinaida Obramowa im Raum umherging, aus ihrer Handtasche ein Pfefferminzbonbon nahm und es in den Mund steckte. Danach begab sie sich zum Fenster und sah gelangweilt hinaus.
»Czerny«, befahl sie, ohne sich umzudrehen. »Etude C-Dur. Langsam. Ich will hören jede einzelne Ton.«
Er suchte die Noten in seiner Tasche und schlug die Etude auf, die etwas für Anfänger war und die schon Fünfjährige spielten. Leo hatte keine Ahnung, was Frau Obramowa damit bezweckte. Dennoch spielte er die Töne langsam und gewissenhaft, so wie sie es gefordert hatte. Es war unfassbar öde.
Die Russin hatte ihn bereits das letzte Mal und das vorletzte Mal diese langweiligen Stücke spielen lassen. Warum tat sie das? Wollte sie seine Technik verbessern? Dafür hätte sie anspruchsvollere Übungen auswählen müssen, das hier war lächerlich.
Auch jetzt unterbrach sie ihn nicht, blieb am Fenster stehen und lutschte ihr Pfefferminzbonbon. Als er geendet hatte, schwieg sie einen Moment lang, dann befahl sie: »Noch einmal!«
»Warum?«, wagte er zu fragen.
»Weil ich sage«, war die Antwort.
»Aber wozu soll das gut sein?«
Sie drehte sich herum, und er konnte sehen, dass sie ihre schwarzen Augen schmal zusammengekniffen hatte. Ansonsten war ihr Gesicht ausdruckslos.
»Wenn du nicht tun willst, was Lehrerin sagt, ist Unterricht nicht möglich.«
Widerwillig begann er, die Etude von vorn zu spielen. Doch es waren allein seine Finger, die die Tasten herunterdrückten, die Töne vernahm er kaum, denn in seinem Inneren brach etwas entzwei. Etwas Kostbares, das groß und schön gewesen war, das seine Träume erfüllt hatte. Träume, für die er sich plötzlich unsagbar schämte. Seine Lehrerin war weder gütig noch verständnisvoll, sie war boshaft und rächte sich an ihm, weil er sie im Stich gelassen hatte. Ihre Rache war die Gleichgültigkeit. Die schmerzte mehr als ein zorniger Ausbruch oder eine lange, empörte Rede. Der Klavierschüler Leopold Melzer interessierte sie nicht mehr, er war für sie erledigt.
Und dabei hatte er geglaubt, in ihrem Sinne zu handeln, als er sich entschloss, das Konzert abzusagen. Er hatte lange nachgedacht, bevor er sich dazu durchgerungen hatte – so lange, bis er sicher gewesen war, das Richtige zu tun.
Es hatte ein Gespräch mit den Eltern gegeben. An einem Abend, als er sich ans Klavier gesetzt hatte, um eine schwierige Passage noch einmal zu probieren und wie üblich daran gescheitert war. Die Läufe klappten höchstens jedes dritte Mal fehlerlos und nur dann, wenn ihm bei den technisch schweren Stellen die Finger nicht versagten, indem sie sich versteiften und er aufhören musste.
»Leo?«, hatte seine Mutter ihn in sanftem Ton unterbrochen. »Papa und ich, wir würden gern mal mit dir reden.«
»Muss das gerade jetzt sein?«, fragte er nervös und versuchte die Passage aufs Neue.
»Es ist inzwischen recht spät, mein Junge. Papa wartet in der Bibliothek, komm bitte gleich dorthin, ich gehe schon mal vor.«
Obwohl er diese verdammte Stelle heute unbedingt noch einmal fehlerlos hatte durchspielen wollen, gab es kein Sträuben, keine Ausreden, wenn der Vater auf ihn wartete. Resigniert schloss er den Deckel über der Tastatur und lief die Treppe hinunter. Die große Standuhr im Flur schlug neunmal – es war später, als er geglaubt hatte –, in der Helligkeit des Juni vergaß man die Zeit.
In der Bibliothek hingegen waren die Vorhänge zugezogen und die beiden Stehlampen eingeschaltet. Seine Eltern saßen nebeneinander auf dem Sofa und hatten offensichtlich über ihn gesprochen, denn sie verstummten, als er eintrat.
»Setz dich, Leo«, sagte der Vater und wies auf einen der Sessel.
Leo gehorchte und hatte das unbehagliche Gefühl, einer elterlichen Front gegenüberzusitzen, die gegen ihn gerichtet war.
»Du hast in der letzten Zeit mit großem Einsatz Klavier geübt«, ergriff Paul Melzer das Wort und beugte sich zu seinem Sohn vor. »Denk bitte nicht, dass wir deinen Eifer und deinen Fleiß nicht zu schätzen wissen. Ganz im Gegenteil – wer mit solcher Energie an einer Sache arbeitet, der ist hoch zu loben. Allerdings …«
Der Junge wusste längst, was nun kommen würde, schließlich war es nicht ihr erstes Gespräch.
»Allerdings bin ich der Ansicht, dass du deine Kräfte in die falsche Sache investierst. Das Klavierspiel mag ja eine schöne und sinnvolle Freizeitbeschäftigung sein, doch was für dich wichtiger sein muss, das ist die Schule. Das Osterzeugnis war beklagenswert, Leo!«
»Das ist wahr, Papa«, räumte er reumütig ein. »Aber ich verspreche, alles aufzuholen, sobald das Konzert vorbei ist.«
Dabei waren es gerade mal noch drei Wochen bis zum Konzerttermin, und schon jetzt konnte Leo in den Nächten kaum schlafen, wurde vielmehr von grässlichen Albträumen geplagt, wachte schweißgebadet auf und lag lange Zeit wach in den Kissen. Niemand durfte das wissen, nicht einmal seine Eltern.
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, dass du dieses Konzert nicht spielen solltest, Leo. Es führt dich in die falsche Richtung, mein Sohn. Und zusätzlich haben Mama und ich ernste Bedenken, ob du dieser großen pianistischen Anforderung überhaupt gewachsen bist.«
Paul sprach exakt den springenden Punkt an. Leo war keineswegs der Ansicht, dass die Musik ihn in die falsche Richtung führte, allerdings entsprach es leider der Wahrheit, dass er den Tschaikowski nicht fehlerlos spielen konnte, was er jedoch nicht zugeben mochte.
»Frau Obramowa ist der Meinung, dass ich es schaffe«, konterte er bockig.
In diesem Moment mischte sich Marie ein, die so gut wie nie zu täuschen war und bis in das Herz ihres Sohnes sehen konnte. Oft wusste sie mehr von ihm, als ihm selbst bewusst war. »Und du, Leo?«, fragte sie in ernstem Ton. »Bist du genauso der Meinung, dass du diesem großen Werk gerecht werden kannst?«
»Ich werde mir Mühe geben«, druckste er nach einer Weile verlegen.
Papa wollte etwas sagen, aber Mama legte die Hand auf seinen Arm, und er schwieg.
»Etwas solltest du bedenken, Leo. Auf dem Podium bist du allein. Weder deine Lehrerin noch deine Eltern noch irgendein anderer Mensch auf der Welt können dir dann beistehen. Und aus diesem Grund solltest du deine Entscheidung ganz allein mit dir selbst ausmachen. Spielst du dieses Konzert, weil du, Leo Melzer, es unbedingt willst? Oder tust du es deiner Lehrerin zuliebe?«
Er gab keine Antwort. Was sollte er sagen? Er war in diese Sache hineingerutscht. Zuerst vom Vorschlag seiner Lehrerin geschmeichelt, hatte er geglaubt, die technischen Klippen leicht zu überwinden. Ein verhängnisvoller Irrtum, der seine Handlungsfreiheit einschränkte, der ihn gefangen nahm und immer stärker in die Bredouille zog. Er wollte Sinaida Obramowa auf keinen Fall enttäuschen. Ja, das war es. Eigentlich spielte er Klavier, weil sie es von ihm erwartete. Was er selbst dagegen erwartete und was ihm täglich deutlicher vor Augen stand, das war eine nahende Katastrophe.
»Ich denke, dass … ich glaube, es ist beides …«, stotterte er und spürte, dass seine Mama ihn durchschaut hatte.
»Wir wollen dir nichts vorschreiben, Leo«, sagte sie und lächelte ihn an. »Aber wir vertrauen darauf, dass du den Mut zur Wahrhaftigkeit besitzt. Denk noch einmal gründlich über alles nach. Wie auch immer dein Entschluss ausfallen wird – wir werden ihn respektieren. Das verspreche ich dir.«
Damit schickten sie ihn ins Bett, und es war klar, dass er in dieser Nacht wieder kein Auge zumachen würde. Schlaflos drehte er sich in den Kissen hin und her, wusste nicht, was er tun sollte. Einen Entschluss fällen, hatte Mama gesagt. Wieso war ihm bisher nie in den Sinn gekommen, dass er dazu überhaupt ein Recht hatte? Sinaida Obramowa hatte befohlen, und er hatte gehorcht. Schließlich war sie seine Lehrerin, noch dazu eine berühmte russische Pianistin, die sich ihre Schüler für das Konservatorium auswählte. Er war damals von etlichen Mitschülern beneidet worden, weil sie ausgerechnet ihn unterrichten wollte, während ältere, ebenfalls sehr begabte Schüler zurückstehen mussten. Wieso sah sie nicht, dass er scheitern würde?
»Ein oder zwei Patzer, das du kannst dir erlauben«, hatte sie neulich zu ihm gesagt. »Ist normal, weil du bist sehr jung.«
Es würden ganz sicher mehr Patzer werden. Möglicherweise musste er sogar unterbrechen. Und das Schlimmste war, dass er die Musik, Tschaikowskis wunderbare, große Musik, nicht richtig würde ausdrücken können. Weil seine blöden, unfähigen Finger es einfach nicht hergaben.
Wahrhaftig sein. Mutig sein. Mama hatte recht – er selbst war mit seiner Leistung mehr als unzufrieden, niemals hätte er gewagt, sich freiwillig so der Öffentlichkeit zu stellen. Wenn er jemals aufs Podium steigen würde, musste er besser sein. Um dieses Konzert zu spielen, brauchte er mindestens noch ein Jahr, besser zwei, wenn das überhaupt je reichte. Das war die Wahrheit. Wenn er Sinaida Obramowa diesen Entschluss morgen mitteilte, dann war er mit sich selbst im Reinen und würde sie nicht enttäuschen, im Gegenteil. Er wollte dieses Konzert ja spielen, aber erst dann, wenn er es so spielen konnte, dass sie stolz auf ihn war. Er würde es ihr erklären, und letztlich würde sie ihn verstehen, da war er sich ganz sicher. Wenn sie im Unterricht oft schroff zu ihm war, dann nur, um ihn weiterzubringen. Im Grunde ihres Herzens war sie gütig und voller Mitgefühl.
Das hatte er tatsächlich geglaubt.
In der Klavierstunde am folgenden Tag erklärte er Sinaida Obramowa, dass er beschlossen habe, das Konzert um zwei Jahre zu verschieben. Zunächst nahm sie ihn nicht ernst. »Das ist Lampenfieber, Leo! Geht vorbei. Heute, du hast gut gespielt. Ich weiß, dass du Leistung bringen kannst.«
Doch sein Entschluss stand fest. Er würde das Tschaikowski-Konzert erst spielen, wenn es keine mühselige Fingerakrobatik mehr war, wenn er der Musik des Komponisten nachspüren und sie zum Leben erwecken und zugleich neu erschaffen konnte. Vorher war sein Spiel nichts als Stümperei, und das wollte er seiner geschätzten Lehrerin nicht antun.
»Geh nach Hause, und denk nach«, befahl sie ihm. » Du kannst nicht absagen, weil du hast schlechte Laune. Orchester probt. Dirigent erwartet große Menge Zuhörer. Presse hat gebracht Artikel in Zeitung. Du wirst spielen Konzert, wenn du nicht willst, du blamieren Lehrerin vor alle Welt!«
Sie machte es ihm wirklich schwer. Seinen Erklärungen hörte sie gar nicht zu, von einer Verschiebung um ein oder zwei Jahre wollte sie nichts wissen. Jetzt oder niemals. Kein Weg führte daran vorbei.
»Geh nach Hause. Morgen ich will hören, dass du wirst spielen, Leo!«
Auf einmal fand er sie ungeheuer rechthaberisch. Sie kommandierte ihn herum wie einen kleinen Jungen. Nein, er würde ihr nicht gehorchen, da es ohnehin nur zu ihrem eigenen Besten war, wenn er tat, was er sich vorgenommen hatte. Anstatt nach Hause zu laufen, klopfte er an die Tür des Direktors und erklärte dem verdutzten Mann, dass er dieses Konzert nicht spielen werde.
»Warum, Leo? Weißt du, was du da sagst?«
Dr. Gropius hatte eine aufgeschlagene Partitur vor sich auf dem Schreibtisch liegen, den Taktstock hielt er noch in der Hand. Er hatte sein Dirigat geübt. »Es steht in der Presse«, rief er entsetzt. »Wir freuen uns alle darauf, und eine Menge Leute werden dich hören wollen.«
Vor Schreck glitt ihm der Kneifer von der Nase und fiel auf die Partitur. Nachdem er ihn sich wieder auf den Nasenrücken geklemmt hatte, fixierte er Leo gründlich durch die Gläser, vermutlich, um herauszufinden, ob er es ernst meinte.
»Ich habe es mit meinen Eltern besprochen«, erklärte Leo. »Sie respektieren meinen Entschluss.«
Der Direktor des Konservatoriums widersprach nicht, er nickte vor sich hin und nahm die Augengläser wieder herunter. »Deine Eltern, die Melzers«, murmelte er düster. »So, so … Nun, mein Junge, dann geh erst mal nach Hause und beruhige dich.«
Leo fühlte sich unendlich erleichtert, als er zurück in die Tuchvilla fuhr. Er hatte getan, was er sich vorgenommen hatte, und es war viel einfacher gewesen, als befürchtet. Befreit setzte er sich zu Hause ans Klavier und spielte alle die Stücke, die er so lange hatte liegen gelassen, weil er wie ein Besessener ein viel zu anspruchsvolles Werk geübt hatte. Bach. Mozart. Brahms. Beethoven. Haydn und Schubert. Alles erschien ihm neu, er drang tiefer in die Musik ein, spürte den Atem der großen Musiker und war glücklich. Am Abend klopfte ihm der Vater auf die Schulter und teilte ihm mit, dass Direktor Gropius ihn angerufen und ihn gebeten habe, auf seinen Sohn einzuwirken. Aber Papa hatte ihm geantwortet, dass er die Entscheidung seines Sohnes respektiere und dahinterstehe.
»Hat er dich auch angerufen, Mama?«
»Ja, im Atelier, und ich habe ihm das Gleiche gesagt. Ich denke, es ist eine gute und richtige Entscheidung, Leo. Sie ist dir gewiss nicht leichtgefallen, oder?«
»Ging so …«, prahlte er und ließ sich ausnahmsweise einen Kuss auf die Wange geben.
Drei Tage später stand in der Zeitung, dass das Konzert des Konservatoriums mit dem jungen Pianisten Leopold Melzer wegen Krankheit leider ausfallen müsse.
Tags darauf hing an der Tür zum Übungsraum ein anderer Zettel. Frau Obramowa ist erkrankt, der Unterricht fällt bis auf Weiteres aus.
Besorgt lief er zum Sekretariat, um sich zu erkundigen, wurde dabei von der Sekretärin, einer korpulenten ehemaligen Sängerin und Bekannten von Dr. Gropius, vage abgespeist .
»Ist es etwas Ernstes?«
»Darüber kann ich keine Auskunft geben. Wir hoffen, dass sie bald wieder gesund ist.«
Täuschte er sich, oder blickte sie ihn vorwurfsvoll an? Sollte das vielleicht bedeuten, dass Sinaida Obramowas Krankheit etwas mit ihm zu tun hatte?
Nachdenklich fuhr er nach Hause, setzte sich ans Klavier, ohne sich recht auf die Musik konzentrieren zu können.
Nach einer Weile klopfte Dodo an seine Tür. »Kommst du mit ins Kino? Tante Kitty will uns einladen. Henny kommt auch mit.«
»Nee«, gab er lustlos zur Antwort.
Seine Schwester merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Schließlich war er gestern noch bester Laune gewesen.
»Was hast du denn?«
»Sie ist krank.«
»Wer?«
»Frau Obramowa. Meine Lehrerin.«
»Na und?« Dodo war nicht beeindruckt und zuckte die Schultern. »Bestimmt hat sie die Sommergrippe. Die geht momentan um. In meiner Klasse hat es drei Mädchen erwischt. Die Julia, die Charlotte und seit gestern die arme Bettine.«
Leo atmete auf. Wenn Sinaida Obramowa an Grippe erkrankt war, musste er sich keine Vorwürfe wegen des Konzerts machen. Dafür konnte er wirklich nichts.
»Kommst du jetzt mit ins Kino oder nicht?«, drängte Dodo.
Eigentlich hätte er Lust gehabt, allerdings nicht zusammen mit Henny, der Nervensäge.
»Heute nicht. Muss was für die Schule tun. Du weißt ja … «
Er büffelte lateinische Vokabeln, wiederholte langweilige Grammatikregeln und war am Abend zufrieden mit sich. Schließlich hatte er Papa versprochen, seine Schulnoten zu verbessern, und das wollte er auch tun. Nur hin und wieder musste er zwischen mathematischen Formeln und lateinischen Übersetzungen innehalten, weil die Musik, die er in seinem Inneren hörte, zu übermächtig wurde. Jetzt, da er nicht mehr wie ein Verrückter Tschaikowski übte, drangen die eigenen musikalischen Ideen wieder in den Vordergrund. Es waren so viele Töne und Instrumente, dass er gar nicht wusste, wie er das alles aufschreiben sollte, und er fast sein ganzes Notenpapier verbrauchte. Frau Obramowa blieb bis zum Beginn der Sommerferien krank, danach, so hieß es, werde sie den Unterricht fortsetzen.
In den Ferien traf er sich häufig mit Walter, der keinen Gips mehr trug und wieder Geige üben konnte. Theoretisch, denn er tat sich sehr schwer, sodass Leo ihn immer wieder ermutigen musste, weil Walter nahe dran war zu verzweifeln.
»Es ist alles weg«, stöhnte er. »Ich kann nicht einmal die leichtesten Stücke spielen. Die Finger machen einfach nicht, was sie sollen.«
»Das kommt wieder, Walter«, tröstete Leo ihn. »Und übertreib es nicht. Wenn’s wehtut, musst du aufhören, sonst geht was kaputt.«
Zwei Wochen später war Walter dann endlich so weit, dass sie miteinander musizieren konnten, und sie hatten beide große Freude daran. Auch von den übrigen Bewohnern der Tuchvilla kamen freundliche Bemerkungen, wenn Geigen- und Klaviermusik die Räume durchzog. Sogar in der Küche und im Anbau war es zu hören .
»Das klingt hübsch«, meinte Tante Lisa. »Charlotte hat dazu getanzt. Ich glaube, das Kind ist musikalisch.«
»Ihr müsst der Oma im November unbedingt ein Geburtstagsständchen bringen«, fügte Marie hinzu.
Den Vogel schoss Dodo ab. »Wenn ihr das auf dem Rathausplatz spielt, gehe ich mit dem Hut rum. Dann sind wir alle reich!«
Trotz der Ablenkungen dachte Leo oft an Sinaida Obramowa. Er sorgte sich ernstlich, ob sie seine Absage richtig verstanden hatte. Immerhin hatte sie ihm weder zugehört, noch ihm ein Zeichen des Verständnisses gegeben. Sie hatte dazu offenbar keine Gelegenheit mehr gehabt, weil sie krank geworden war.
»Ob ich ihr einen Brief schreibe?«, fragte er Walter.
»Und wohin willst du den schicken? Du kennst ja nicht mal ihre Adresse.«
»Ich könnte ihn im Konservatorium abgeben.«
»Da ist über die Sommerferien alles zu.«
»Eine Woche vor Ferienende macht das Sekretariat auf. Dann bring ich den Brief dorthin.«
»Wenn du unbedingt willst«, meinte Walter zweifelnd.
Es war müßig, mit dem Freund über seine Lehrerin zu sprechen, die Walter nicht mochte. Er fand, es gebe bessere Lehrer, bloß würden die nicht so viel Wind um sich machen. Leo saß drei Abende über einem langen Schreiben an Sinaida Obramowa und verfasste es mehrmals neu. Schließlich legte er mit sehr viel Herzklopfen eine seiner Kompositionen bei, widmete sie ihr und verschloss das Schreiben in einem Umschlag. Am nächsten Morgen warf er ihn in den Briefkasten des Konservatoriums und wartete bang auf die erste Klavierstunde nach den Ferien.
Es wurde eine abgrundtiefe Enttäuschung. Sinaida Obramowa erwähnte sein Schreiben mit keinem Wort, und als er schüchtern versuchte, über das abgesagte Konzert zu sprechen, schnitt sie ihm rüde das Wort ab.
»Vorbei ist vorbei! Du hast Chance gehabt und vertan. Gehen wir über zu normale Unterricht. Czerny-Etuden! Gut für schwache Finger!«
Nach der ersten Klavierstunde war er enttäuscht, nach der zweiten Stunde wie gelähmt. Erst in der dritten Stunde kam ihm die Erkenntnis.
Sie verachtete ihn. Seine Erklärungen interessierten sie nicht. In ihren Augen hatte er sich feige aus der Affäre gezogen, war davongelaufen, anstatt sich der Anforderung zu stellen. Bis auf die Knochen hatte er sie vor dem ganzen Kollegium bloßgestellt. Vor allen Schülern und deren Eltern. Vor der ganzen Stadt Augsburg. Dafür rächte sie sich an ihm und ließ ihn Czerny-Etuden spielen. Eine nach der anderen. Ganz langsam. Auf die Fingerstellung achten. Das Handgelenk lockern. Schultern gerade halten.
»Zu Schülervorspiel in drei Wochen du wirst nicht antreten. Zu schwache Finger. Ist nötig, jeden Tag zu üben.«
Leo litt tief unter der Erkenntnis, dass sie eine ganz andere Person war, als er geglaubt hatte. Es war, als hätte sie eine Maske abgenommen und darunter wäre ein fremdes, hässliches Gesicht zum Vorschein gekommen.
»Die Sache ist ganz einfach«, meinte Walter. »Du brauchst eine andere Lehrerin. Besser noch einen Lehrer. Rede mal mit deinen Eltern darüber.«
Dabei blieb es. Seltsamerweise brachte er es nicht fertig, das Problem mit den Eltern zu besprechen. Zu Hause erzählte er niemandem von seinem Kummer, vergrub sich in seinem Zimmer, arbeitete für die Schule, und nur wenn Walter ihn besuchte, setzte er sich lustlos ans Klavier. Zweimal in der Woche begab er sich ins Konservatorium zum Klavierunterricht und ertrug stoisch Sinaida Obramowas kalte, destruktive Gleichgültigkeit. Er verstand selbst nicht, was ihn zwang, trotz allem ihre Nähe zu suchen. Vielleicht ein letztes Hoffnungsfünkchen, das noch tief in seinem Herzen glomm.
Mit gemischten Gefühlen besuchte er den Vorspielabend. Walter hatte inzwischen große Fortschritte gemacht, und er hatte eigentlich gehofft, man würde ihn auffordern, den Freund auf dem Klavier zu begleiten, aber das war nicht geschehen. Eine ältere Schülerin war dazu auserkoren worden.
Leo, der sonst bei solchen Anlässen einer der Höhepunkte des Abends gewesen war, fühlte sich jetzt ausgesprochen unbehaglich. Keiner der Lehrer hatte ihn begrüßt, man sah an ihm vorbei, einige Schüler tauschten hämische Blicke, die meisten ignorierten ihn. Sinaida Obramowa saß neben dem Direktor in der ersten Reihe, schien Leo nicht zu bemerken, bemühte sich stattdessen um zwei Knaben, die bei ihr Unterricht hatten und heute zum ersten Mal öffentlich vorspielen sollten.
Der Abend verlief, wie solche Veranstaltungen meist ablaufen. Vor den aufgeregten Eltern glänzten einige Schüler mit guten Leistungen, andere blamierten sich, wieder andere spielten ihre Stücke herunter wie Marionetten und schienen heilfroh, die unangenehme Angelegenheit mit Anstand hinter sich gebracht zu haben. Walter war einer der Besten, spielte mit Leidenschaft, man sah ihm an, wie glücklich er war, wieder musizieren zu können.
In der Pause öffnete sich für Leo der Abgrund. Er war aufgestanden, um ein wenig hinauszugehen und frische Luft zu schöpfen, als er in der Eingangshalle plötzlich seinen Namen hörte. Eine Gruppe Schüler redete über ihn .
»Der Melzer Leo? Der hat nicht spielen dürfen, weil er es nicht gepackt hat.«
»Dass der mal von seinem hohen Ross fällt, das gönn ich dem Angeber!«
»Seine Lehrerin hat gesagt, sie habe ihm das Konzert verbieten müssen, damit er sich nicht unsterblich blamiert.«
»Das hat sie gesagt?«
»Na klar. Und der Gropius hat’s auch gesagt. Hat sich eben maßlos überschätzt, der schöne Leo!«
»Dabei wollte er doch unbedingt als neues Wunderkind glänzen.«
»Ja, wer hoch hinaus will, der fällt tief.«
Leo spürte, wie ihm schwindelig wurde. Es ist bloß Gerede, dachte er. Sie verdrehen alles. Das kann die Obramowa nicht gesagt haben, denn es ist nicht die Wahrheit. Und so gemein kann sie nicht lügen.
Er lief ohne Jacke hinaus auf die Straße und bemerkte erst an der Straßenbahnhaltestelle, dass sein Portemonnaie in der Jacke steckte, die im Konservatorium hing, und er keine Fahrkarte kaufen konnte. Also ging er zu Fuß zur Tuchvilla, schwieg sich aus, als Hanna ihn in der Eingangshalle nach der Jacke fragte, und schloss sich in seinem Zimmer ein. Er würde nie wieder Klavier spielen.