16
M ir ist nicht wohl dabei, Liebster!«
»Elisabeth, bitte! Es ist eine große Ehre für mich.«
Sebastian legte ein Stück Würfelzucker in die Tasse aus hauchdünnem chinesischem Porzellan, goss Tee darauf und reichte seiner Frau das gefüllte Tässchen. Sie setzte die kleine Charlotte von ihrem Schoß auf den Boden, und das blonde Engelchen lief begeistert auf den Papa zu. Sebastian konnte gerade noch die heiße Teekanne auf das Porzellanstövchen stellen, da hatte sich die Kleine schon an seiner Hose festgeklammert. »Baba! Baba! Dada. Brrrrrrr.«
»Sie lernt jeden Tag ein Wort dazu«, meinte Elisabeth beglückt. »Gestern hat sie Anna gesagt, womit sie Hanna meinte.«
Sebastian ging nicht auf die Fortschritte seiner Tochter ein, er hatte andere Sorgen. »Was meinen Vortrag in München betrifft, Elisabeth, so bin ich der Ansicht, dass …«
»Du hast mir wieder nur ein einziges Stück Zucker in die Tasse getan, Liebster? So schmeckt der Tee schrecklich bitter … Gib mir bitte noch ein Zuckerstückchen.«
»Entschuldige, ich war in Gedanken.«
Lisa hatte inzwischen ihr Häkelzeug in die Hand genommen, ein weißes Gespinst aus dünnem Garn, das eine Fenstergardine für das Badezimmer werden sollte.
»Um auf diesen Vortrag zurückzukommen, Liebster«, sagte sie und hielt das gehäkelte Werk hoch, um es mit kritischen Augen zu betrachten. »Ich denke, dass es bei diesen Kundgebungen oft zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Man liest davon in der Zeitung. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.«
»Aber Elisabeth! Hast du denn gar kein Vertrauen zu mir?«
»Ich habe unendliches Vertrauen zu dir, doch gegen einen Schlägertrupp der NSDAP wirst du wenig ausrichten können.«
»Mal nicht gleich den Teufel an die Wand.«
Natürlich gefiel es ihm, dass sie sich um ihn sorgte. Es war ein Zeichen ihrer Liebe, die ihm kostbarer war als alles andere auf dieser Welt. Seine Frau, seine Kinder, das war der Mittelpunkt seines Daseins. Jetzt, da er nicht mehr in der Fabrik arbeitete, waren ihm seine Lieben wichtiger als je zuvor. Auf der anderen Seite nagte es an seinem Selbstverständnis als Familienvater, dass er momentan keiner geregelten Arbeit nachging und daher kein Geld verdiente. Er hatte sich entschlossen, seine Anstellung in der Fabrik zu kündigen, vor allem, weil wieder Entlassungen anstanden und er in seiner Position als Betriebsrat nichts dagegen ausrichten konnte. Seitdem engagierte er sich mehr für seine Partei, ging zu Versammlungen und hielt kleine Vorträge. Selbst wenn er kein mitreißender Redner war, vermochte er mit solidem Wissen zu punkten und vielleicht auf diese Weise dafür zu sorgen, dass die verhängnisvollen Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt wurden.
Dass eine Ortsgruppe in München ihn zu einem solchen Vortrag eingeladen hatte, darauf war er sehr stolz gewesen und fest entschlossen, diese Aufgabe zu übernehmen. Noch aber saß er am Tisch, um die törichten Bedenken seiner lieben Ehefrau zu zerstreuen .
»Es ist eine kleine Veranstaltung in einem ordentlichen Gasthof. Man hat mir gesagt, dass es dort niemals Unruhen oder Krawalle gegeben hat, ganz gleich, welche Gruppierung den Saal gemietet hatte.«
Elisabeth seufzte, legte das Häkelzeug zur Seite und trank einen Schluck Tee. Wenn sie sich vorbeugte, konnte er in ihr Dekolleté schauen. Sie wusste, dass er ihre üppigen Formen liebte, und setzte sie deshalb manchmal bewusst ein.
»Wirst du wieder über diese grässliche Räterepublik sprechen?«, erkundigte sie sich.
»Das habe ich unbedingt vor, mein Schatz. Ich werde darlegen, warum die ersten Versuche, in Deutschland ein Rätesystem zu errichten, zum Scheitern verurteilt waren. Das ist wichtig, denn bloß ein solches System kann das Elend auffangen, das der bevorstehende Zusammenbruch des kapitalistischen Systems anrichten wird.«
Er sah die Zweifel auf Elisabeths Zügen. So sehr er sich bemüht hatte, es war ihm bisher nicht gelungen, seine Frau von den Wahrheiten der marxistischen Weltanschauung zu überzeugen. Ohne Zweifel lag es daran, dass sie in dieser Hinsicht die Ansichten ihres Bruders und ihrer Mutter teilte, die den seinen komplett widersprachen.
»Findest du, dass das Rätesystem, das Stalin gerade in Russland mit Blut und Terror errichtet, eine gute Sache ist?«, fragte sie und blickte ihn dabei provozierend an.
»Du liebe Güte, nein!«, rief er entsetzt aus und versicherte ihr, dass eine Räterepublik in Deutschland ausschließlich auf friedliche und geordnete Weise errichtet werden dürfe. Und zwar auf der Basis einer klaren Mehrheit in der Bevölkerung.
»Betriebe und Industrieanlagen müssen verstaatlicht werden, jeder Arbeiter erhält einen Anteil am Betrieb, damit er von dem erwirtschafteten Mehrwert profitieren kann. Ein Teil des Gewinns muss selbstverständlich in den Betrieb gesteckt werden, für neue Maschinen sowie für Einrichtungen, die den Arbeitern zugutekommen wie eine Kantine, ein Schwimmbad oder Kindergärten.«
Sie nickte zu seinen Ausführungen und gab Charlotte einen silbernen Teelöffel in die Hand, damit sie sich beschäftigen konnte, während sie sich wieder der mühseligen Diskussion zuwandte.
»Was ist mit Aktien? Kann nicht jeder Arbeiter damit einen Anteil an seinem Betrieb erwerben?«
»Ein Schritt in die richtige Richtung«, dozierte er. »Sofern diese Anteile nicht verkauft und für schnöden Profit verhandelt werden. Die Börse ist die Wurzel allen kapitalistischen Übels.«
Damit war seine Frau ausnahmsweise einverstanden. Diese schreckliche Wirtschaftskrise, die sich aus Amerika nach Europa gezogen hatte, war durch die Börse ausgelöst worden. Durch üble Spekulanten, die ihre Gewinne rechtzeitig ins Trockene gebracht und die weniger schlauen Anleger in den finanziellen Ruin gestürzt hatten.
Sebastian freute sich über diese seltene Zustimmung und setzte sich neben sie, goss ihr Tee nach und legte zwei Stückchen Zucker in ihre Tasse. Er selbst mochte keinen Tee, gönnte sich jedoch einen Keks, den er mit der jammernden Charlotte väterlich teilte. Dann begann er über den eigentlichen Zweck eines Firmenanteils zu sprechen, der eine Verantwortung und eine Verpflichtung sei und kein Spekulationsobjekt. Als Nächstes ging er über zu der Krankheit des kapitalistischen Systems, das sich notwendigerweise selbst zerstören müsse, weil immer weniger Menschen immer größere Anteile am Kapital an sich brachten und die Massen verelendeten. Damit seien allerdings die Kapitalisten selbst zum Untergang verurteilt, weil sie keine Erzeugnisse mehr absetzen könnten …
»Liebster, nimmst du bitte Charlotte und bringst sie hinüber ins Kinderzimmer?«, unterbrach Elisabeth seinen Vortrag. »Sie verliert gerade ihre Windel.«
»Selbstverständlich, Schatz!«
Im Kinderzimmer war Tumult ausgebrochen. Rosa Knickbein versuchte Kurti und Johann zu überreden, den dreijährigen Hanno beim Bau einer Ritterburg aus Bauklötzchen mitspielen zu lassen, wozu die beiden Älteren auf keinen Fall bereit waren.
»Der macht uns alles kaputt!«
Sebastian überließ der Kinderfrau den Windelwechsel und rief seinen Ältesten zur Ordnung. Er müsse einen Weg finden, den jüngeren Bruder am Spiel zu beteiligen.
»Der ist noch zu dumm, Papa. Der weiß nicht, wie eine Ritterburg ausschaut.«
»Dann werden wir es ihm zeigen, Johann.«
Er setzte sich auf den Boden und leitete das Spiel. Kurti und Johann waren die Baumeister, die die Bauklötzchen zu einer kreisförmigen Mauer aufstellten. Hanno war der Steinmetz, der ihnen die passenden Bauklötze heraussuchen durfte. Das System funktionierte ausgezeichnet, die Burgmauer wuchs in die Höhe, ein Tor wurde eingebaut, und Hanno war stolz darauf, die Klötze unter seiner Verwaltung zu haben. Erst als Rosa unvorsichtigerweise die frisch gewickelte Charlotte auf den Boden setzte, geriet die schöne Ordnung ins Wanken und stürzte schließlich in sich zusammen.
»Die hat alles umgeschmissen, die blöde Kuh!«
Zum Glück tauchte Hanna auf, um elf Uhr war ein Parkspaziergang mit der Großmama angesetzt, und die Kleinen mussten dafür umgekleidet werden. Seit einigen Jahren gab es im Park einen Kinderspielplatz mit einem Sandkasten, zwei hölzernen Pferden und einem Karussell, auf das die Kinder sich stellen konnten und das ein Erwachsener in Bewegung setzen musste. Alicia Melzer, die früher so peinlich auf Sauberkeit bei ihren Kindern geachtet hatte, war bei den Enkeln weniger streng. Meist kehrte die kleine Gesellschaft sandverkrustet, die Hosen mit grünen Grasflecken übersät, in die Tuchvilla zurück.
Sebastian sah auf die Uhr und stellte fest, dass es für ihn höchste Zeit war, zu seinem Vortrag aufzubrechen. Sein Auftritt war erst für den Abend vorgesehen, aber die Anreise per Bahn und Straßenbahn durfte nicht unterschätzt werden.
Drüben im Salon hatte Elisabeth inzwischen Zeit gehabt, über die Angelegenheit nachzudenken, und Gerti die Anweisung gegeben, ihre Reisekleidung zurechtzulegen.
»Ich werde dich begleiten.«
»Das ist absolut nicht notwendig, Elisabeth. Du würdest dich bestimmt langweilen.«
»Keine Sorge, ich langweile mich niemals, wenn ich dir zuhöre.«
Sebastian musste energisch werden, was er ungern tat. Doch er ließ sich nicht bevormunden, nicht einmal aus liebevoller Fürsorge. »Ich möchte es nicht, mein Schatz.«
Sie gab nach, seufzte tief und schüttelte bekümmert den Kopf. »Willst du wirklich in diesen abgerissenen Kleidern nach München fahren?«
»Ich denke, dass ich für diese Veranstaltung durchaus passend gekleidet bin.«
»Wir haben doch noch diesen schönen Mantel von Papa …«
»Nein danke! «
Er ging hinüber in den kleinen Raum, den er als Büro nutzte. Vom Schreibtisch nahm er das Konzept seiner Rede und packte es in seine abgewetzte Ledermappe, die ihn seit vielen Jahren begleitete. Kaum hatte er sie geschlossen, stand Elisabeth hinter ihm.
»Humbert wird dich zum Bahnhof fahren, Liebster.«
»Danke. Ich nehme die Straßenbahn.«
»Du wirst etwas Geld brauchen.«
»Ich habe genügend bei mir.«
Der Abschied war voller Zärtlichkeit, sie umfingen einander und tauschten Küsse, Elisabeth wollte ihn gar nicht mehr freigeben. Erst als Humbert im Flur auftauchte und sich bei ihrem Anblick diskret wieder zurückzog, trennten sie sich.
»Wann wirst du wieder hier sein?«
»Spät, mein Schatz. Ich komme mit dem Nachtzug.«
Er eilte die Treppen hinunter, als wäre er auf der Flucht, griff sich in der Eingangshalle hastig Mantel und Hut und verließ die Villa im Sturmschritt. Als er die Mitte der Allee erreicht hatte, blieb er stehen, um noch einen raschen Blick auf den Spielplatz zu werfen, wo Hanna gerade das Karussell drehte und Charlotte unter Rosas Aufsicht Sandkuchen buk. Mit zärtlichen Gefühlen im Herzen ging er durch das Tor zur Haltestelle. Man hatte ihm ein kleines Honorar für den Vortrag versprochen, und dass er für seine Familie ein wenig Geld verdienen konnte, munterte ihn auf.
Um sein schmales Budget zu schonen, kaufte er eine Fahrkarte für die dritte Klasse, auch Holzklasse genannt, weil man dort auf hölzernen Bänken ohne Polster saß. Das unbequeme Sitzen störte ihn wenig, dafür fiel es ihm schwer, sich während der eineinhalbstündigen Fahrt auf sein Konzept zu konzentrieren, weil um ihn herum das pralle Leben tobte. Ein älteres Ehepaar machte Brotzeit mit Leberwurstsemmeln und Essiggurken, zwei junge Burschen hatten mehrere Biere gekippt und beschimpften einander auf unflätige Weise, eine alte Frau fragte bei jeder Haltestelle, wann man endlich in Frankreich sei, und ein beleibter Zeitgenosse in zünftiger Lederhose hatte einen Dackel an der Leine, der nicht aufhören wollte, Sebastians Hose zu beschnüffeln.
»Ja schaun’s nur! Wie der Poldi schnuppert. Habens ein Hunderl daheim?«
»Bedauere, nein!«
»Sie müssen ein Hunderl haben, sonst tät der Poldi net allweil schnuppern.«
Sebastian, der nicht dazu gekommen war, sein Konzept kurz zu überfliegen, war froh, als sie den Münchner Hauptbahnhof erreichten, der ihm groß und düster erschien. Die hohen Gewölbe aus Gusseisen und Glas waren rußgeschwärzt, Tauben flatterten dort umher, Zuggeräusche, Pfiffe und die Stimmen der Reisenden vermischten sich zu einem betäubenden Lärmgemisch, das ihn schwindelig machte. Er passierte die Kontrollen am Bahnsteig und schob sich zwischen den eilig dahinstrebenden Reisenden auf den Bahnhofsplatz. Zwischen Blumenständen und Wurstbuden standen Männer und Frauen mit Zeitungsblättern in den Händen, in denen sie nach offenen Stellen suchten. Auf der anderen Seite wurde heiße Suppe ausgeteilt. Die Menschen, darunter viele Kinder und Alte, warteten in einer langen Reihe, jeder hielt eine kleine Blechschale bereit, einige hatten bestenfalls eine Konservendose.
Sebastian spürte verzweifelten Zorn in sich aufsteigen. Was für eine Welt war das, in der die Reichen in warmen Zimmern saßen und Tee tranken, während die Armen und Schwachen um ein bisschen Nahrung betteln mussten! Er lebte in einem unüberwindlichen Zwiespalt, den er nur ertragen konnte, weil er sich für eine große und wirksame Veränderung, notfalls sogar für eine Revolution einsetzte.
Man hatte ihm den Weg vom Hauptbahnhof zum Ort der Veranstaltung beschrieben: Er musste die Straßenbahn nehmen und zweimal umsteigen, es ging über die Isar hinüber nach Giesing, wo er im Gasthof Zum alten Thor erwartet wurde. In dem Arbeiterviertel lebte die Mehrzahl der Menschen in den gleichen schlimmen Verhältnissen wie vor der Wirtschaftskrise, und das hatte sich inzwischen kaum verbessert. Er würde ihnen die Augen öffnen, aufzeigen, wo die Ursachen ihrer Not zu suchen waren, und ihnen den Weg in eine bessere Zukunft weisen.
Gegen halb fünf stand er vor dem Gasthof, der in einem mittelgroßen, solide wirkenden Gebäude untergebracht war. Dass der Putz an einigen Stellen von der grauen Hauswand bröckelte, war in dieser Umgebung nichts Ungewöhnliches, fast alle Häuser waren baufällig, die Dächer teilweise beängstigend tief eingesunken, und in einigen Fenstern waren die Glasscheiben durch ein Stück Pappe ersetzt worden. Der Gastraum war schlicht ausgestattet, rechteckige Tische ohne Decken, wackelige Stühle, an den Wänden vergilbte Drucke mit Münchner Stadtansichten. Der Wirt, ein hagerer Mensch mit Halbglatze, saß mit zwei Freunden beim Bier, am Nebentisch aß ein Handwerker Knödel mit Kraut, das übliche Rauchfleisch wurde mittlerweile offenbar gespart.
»Grüß Gott!«, sagte Sebastian freundlich. »Ich bin der Redner für heute Abend.«
Außer dem Wirt schien niemand zu begreifen, wovon er gesprochen hatte. Während er den Mantel auszog und ihn zusammen mit dem Hut an den Wandhaken hängte, starrte man ihn neugierig an.
»Aha«, sagte der Wirt. »Da haben’s Freibier für den Abend.«
Das klingt gut, dachte Sebastian und ließ sich an einem Tisch im hinteren Teil des Raumes nieder, zog sein Redekonzept aus der Tasche und legte es vor sich hin. Der Wirt brachte ihm das Bier und teilte ihm mit, dass die Veranstaltung drüben im Saal stattfinden werde und dass es dort nicht erlaubt sei, auf den Boden zu spucken.
»Wollens was essen?«
Sebastian überschlug in Gedanken seine Barschaft und bestellte ein Paar Würstl mit Brot. Angesichts kommender Anstrengungen war es besser, eine Kleinigkeit zu essen, zumal er seit dem Frühstück gerade mal einen halben Keks zu sich genommen hatte. Der Wirt schien eine größere Bestellung erwartet zu haben, denn er zuckte die Schultern und verschwand hinter der Küchentür. Der Handwerker kratzte mit der Gabel die letzten Reste von seinem Teller, trank seine Maß Bier aus und rief laut: »Zahl’n!«
Man beachtete Sebastian nicht weiter, sodass er Zeit hatte, sein Redekonzept durchzulesen und sich weitere Notizen zu machen. Gegen sechs wurde er unruhig, fragte sich, ob nicht bald jemand von der hiesigen Ortsgruppe erscheinen und ihn begrüßen würde. Zu seiner Verwunderung tat sich nichts, lediglich zwei Frauen betraten den Gastraum, die für einen guten Zweck sammelten, und ein alter Mann ließ sich am Tisch des Wirtes nieder, um einen Schlummertrunk zu nehmen. Es wurde sieben, und Sebastian befürchtete, seinen Bekannten in Augsburg falsch verstanden zu haben.
War die Veranstaltung wirklich heute? Oder erst morgen? Das wäre fatal !
Um halb acht traten drei Männer in den Gastraum, blickten suchend um sich und gingen dann auf den einsam dasitzenden Fremden zu.
»Der Herr Winkler aus Augsburg? Ja, das ist recht, dass Sie schon hier sind. Habens was zu trinken bekommen?«
Endlich! Die Genossen vom Ortsverband Giesing setzten sich zu ihm an den Tisch, bestellten für jeden eine Maß und überfielen ihn mit neugierigen Fragen. Ob er den Max Brunner kenne, der sei von München nach Augsburg gegangen. Ob er von ihrer Kundgebung gehört habe, da sei vor zwei Wochen der Julius Grantinger aufgetreten und habe großartig geredet, sogar in der Zeitung habe das gestanden. Sebastian kannte weder den einen noch den anderen und bat, den Saal sehen zu dürfen, um sich einen Eindruck zu verschaffen.
»Da ist net viel zu seh’n«, sagte der Ortsgruppenleiter, der von gedrungener Gestalt war und kräftige Arbeiterhände besaß. Tatsächlich war der Raum, den der Wirt als Saal bezeichnet hatte, relativ klein, vielleicht fünfzig Menschen passten hinein, mit Glück bis zu siebzig. Vorn stand ein Tisch, der Rest des Raumes war mit Stühlen und Hockern verschiedenster Art bestückt, sogar ein alter Ohrensessel war darunter. Ein Rednerpult, auf dem Sebastian sein Konzept hätte ablegen können, war nicht vorhanden.
Gegen acht trudelten die ersten Zuhörer ein, darunter mehrere Frauen. Man hielt sich zuerst im Gastraum auf, trank eine Maß und bestellte ein paar Brezn, die auseinandergerissen und unter den Anwesenden aufgeteilt wurden. In Sebastian machte sich langsam Aufregung breit. Gleich würde er sprechen und musste die Menschen begeistern, dabei war er keineswegs sicher, dass ihm das gelingen würde .
»Alsdann!«, rief der Ortsgruppenleiter und schlug mit der Faust auf den Holztisch. »Pack mer’s!«
Der Saal füllte sich nach und nach, die meisten nahmen ihr Bierglas mit, suchten sich einen Platz und stellten das Glas unter dem Stuhl ab. Die Frauen scharten sich zusammen, es gab spöttische Rufe und zackige Antworten, niemand nahm ein Blatt vor den Mund. Der Ortsgruppenleiter und seine Begleitung setzten sich vorn an den Tisch, Sebastian nahmen sie mit.
»Dahinten die drei, die sind von der BVP, also von der Bayernpartei, aber die sind in Ordnung, der eine ist mein Schwager«, flüsterte ihm sein Nebenmann zu. »Der Dicke mit der Brille, der ist SPD-Abgeordneter im Stadtparlament. Eventuell will der uns ausspionieren.«
Gegen halb neun war der Saal gerammelt voll, die Luft zum Schneiden dick. Es roch nach Bier, nach Schweiß und ungewaschener Kleidung, nach altem Bohnerwachs und nach den Tabakstumpen, die einige der Zuhörer rauchten. Sebastians Aufregung stieg, noch ein paar Minuten, und er würde sprechen. Im Stehen vor allen Leuten.
Der Ortsgruppenleiter machte sich durch mehrere scharfe Pfiffe bemerkbar, erwartungsvolle Ruhe trat ein, er stand auf und wurde von seinen treuen Parteigenossen mit rauschendem Beifall und ermutigenden Rufen begrüßt. Was er den begeistert lauschenden Genossen auftischte, erschien Sebastian fürchterlich simpel und plakativ, seinen Zuhörern hingegen gefiel es, denn sie unterbrachen ihn immer wieder mit Beifallsbekundungen.
Weg mit dem Geschmeiß! Wir brauchen ein Bayern der Arbeiter und Bauern! Das verbrecherische System muss zerschlagen werden, nur der Kommunismus wird uns alle retten! Lasst euch nicht die Butter vom Brot nehmen, Genossen!
Sebastian waren solche Parolen bekannt, auch in Augsburg wurden sie bei Kundgebungen gerufen. Es hatte ihn immer gestört. Warum behandelte man die Genossen wie Kleinkinder? War es nicht vielmehr nötig, ihnen Wissen und Erkenntnisse zu vermitteln, damit sie die Wahrheit mit klaren Augen erkennen konnten?
»Auf Empfehlung des Genossen Leukel haben wir heut den Genossen Sebastian Hinkler eingeladen, der in Augsburg eine große Anhängerschaft besitzt.«
Die Ankündigung war schwungvoll und wurde mit Applaus bedacht. Sebastian erhob sich, nickte grüßend in die Runde und räusperte sich.
»Ich danke meinem Vorredner herzlich und freue mich, hier in München bei euch sprechen zu dürfen«, begann er. »Ich muss allerdings einen kleinen Irrtum aufklären: Mein Name ist Winkler, nicht Hinkler …«
Gelächter folgte auf die Richtigstellung. Man fand die Verballhornung des Namens zum Kreischen komisch.
»Winkler oder Hinkler«, meinte eine korpulente Frau in der ersten Reihe. »Die Hauptsach ist, dass er net Hitler heißt.«
Sebastian musste einen Moment warten, bis sich die Heiterkeit im Publikum gelegt hatte, dann begann er seinen Vortrag. Man hörte zunächst aufmerksam zu, dann standen einige Zuhörer auf, um sich ein frisches Bier zu holen, andere hatten die Arme verschränkt und das Kinn auf die Brust sinken lassen, neben ihm am Tisch flüsterte der Ortsgruppenleiter mit seinen Genossen. Sebastian ließ sich nicht irritieren, er ging zu einem neuen Thema über, in dem er den Niedergang des Kapitalismus und die Notwendigkeit eines neuen Systems beschrieb. Nun setzte ein häufiger Gang zu den Toiletten ein, Zuhörer erhoben sich, um hinauszugehen, andere kamen zurück, beim Umhergehen wurde ungeniert geredet. Sebastian brach der Schweiß aus, es war unerträglich heiß im Saal, und er fand es unpassend, die Jacke auszuziehen. Als er zum Schlussteil überging, gab es eine Unterbrechung, weil jemand vom Stuhl gefallen war und dabei zwei gefüllte Gläser umgerissen hatte. Er beschloss, die Rede abzukürzen, kam schneller zum Ende, als geplant, und dankte seinen Zuhörern für die Aufmerksamkeit.
Spärlicher Applaus wurde ihm zuteil, viele waren gar nicht mehr im Saal, sie saßen nebenan im Wirtsraum und unterhielten sich. Gelächter drang in den Saal herüber, die Stimmung schien angeregt und heiter. Der Ortsgruppenleiter schüttelte ihm die Hand und meinte: »Da habens ja weit ausgeholt mit Ihrem Vortrag.«
Sebastian bedankte sich und erklärte, gleich aufbrechen zu müssen, weil er den Nachtzug nach Augsburg nehmen wolle. Nach einem Honorar zu fragen, dazu brachte er den Mut nicht auf.
»Da kommens gut nieder«, wünschte der Ortsgruppenleiter, nahm seine Maß und verschwand im Wirtsraum.
Sebastian steckte sein Konzept in die Mappe und überlegte, ob er noch etwas trinken sollte, denn sein Mund war trocken, und die Zunge klebte am Gaumen. Im Wirtsraum waren jedoch alle Tische besetzt, die Genossen, die dicht an dicht an den Tischen saßen und tranken, beachteten den Redner aus Augsburg so wenig wie eine vorüberschwirrende Fliege. Sebastian musste eine Weile suchen, bis er zwischen den vielen Jacken seinen Mantel fand, der Hut lag auf dem Boden.
Das war’s dann also. Draußen atmete er tief die kalte Nachtluft ein und fühlte sich ernüchtert. Nein, er war kein Redner, das wusste er, aber er hatte sich Mühe gegeben, und vielleicht war ja das eine oder andere in den Köpfen hängen geblieben. Er zog den Hut tiefer in die Stirn und wollte in Richtung der Straßenbahnhaltestelle davongehen, da öffnete sich hinter ihm die Tür des Gasthofs, und drei junge Männer traten auf die Straße heraus.
»Wollens so bald gehen, Herr Winkler?«, fragte ihn einer. »Das wär schad. Ich hätt gern ein wenig mit Ihnen geredet.«
Der junge Bursche sah nicht aus wie ein Arbeiter, auch passte seine Kleidung nicht in dieses Viertel. Ein Student? Sebastian brachte vor, dass er den Nachtzug nach Augsburg erwischen wollte und deshalb Eile habe.
»Sie können genauso gut den Frühzug nehmen, Herr Winkler«, wurde ihm geraten, und ein anderer fügte hinzu, dass er ebenfalls zum Hauptbahnhof müsse, man könne also gemeinsam fahren.
»Ihr Vortrag war außerordentlich interessant«, hörte er von dem dritten. »Ich hab noch nie eine so knappe und einleuchtende Zusammenfassung des Themas gehört.«
Sebastian freute sich über das Lob, nahm es als Beweis, dass seine Worte nicht an allen Zuhörern wirkungslos vorbeigerauscht waren. Er behielt recht. Die drei jungen Leute erwiesen sich als Studenten der Theologie, zwei davon studierten in München, der dritte in Erlangen. Sie befassten sich mit der Theorie des Marxismus im Vergleich zur christlichen Lehre und waren gemeinsam unterwegs, um die grauen Theorien mit lebendigen Erfahrungen zu ergänzen.
»Vor allem was die Rezeption des Marxismus anbelangt«, erklärte einer. »Was kommt davon beim einfachen Arbeiter an? Und warum ist diese atheistische Lehre so ungemein erfolgreich?«
Sebastian hatte zwar das Gefühl, vom Regen in die Traufe geraten zu sein, aber weil er nach dem schwachen Erfolg seiner Rede ein großes Bedürfnis nach einem guten Gespräch verspürte, ließ er sich überzeugen, noch irgendwo einzukehren und sich auszutauschen. Man ging miteinander um ein paar Ecken, keiner kannte sich hier im Viertel aus, doch nach einer Weile entdeckten sie eine Wirtschaft, in der noch Licht brannte.
Der Gastraum war klein und mit dunklen, runden Tischen zugestellt, an denen niemand saß. Lediglich vorn am Tresen standen späte Zecher, der Wirt polierte Gläser und sah den eintretenden Gästen misstrauisch entgegen.
»Wir machen gleich zu …«
»Nur auf ein Bier«, sagte einer der Studenten.
»Meinetwegen.«
Sie ließen sich an einem der Tische nieder und kamen rasch ins Gespräch. Es ging um Grundsätzliches: Ob eine Ideologie ohne Gott überleben konnte? Und ob die Lehre von Karl Marx nicht das Urchristentum zum Vorbild genommen hatte? Die jungen Herren waren eifrig bemüht, Sebastian einen Webfehler in der marxistischen Theorie nachzuweisen, und er argumentierte dagegen, hatte Freude am Gedankenspiel und an der Herausforderung.
Sie waren so in ihre Diskussionen vertieft, dass sie kaum wahrnahmen, wie eine Nebentür geöffnet wurde und mehrere Männer den Gastraum betraten.
»Lasst die aus«, hörte Sebastian den Wirt rufen. »Die wollen sowieso gleich gehen.«
»Das sind Kommunistenschweine!«, brüllte jemand. »Die haben hier nix zu suchen.«
Verblüfft wandten sich die drei jungen Leute nach dem Fanatiker um.
»Ich muss sehr bitten!«, sagte der Student aus Erlangen.
»Maul halten, sonst gibt’s was drauf«, war die prompte Antwort.
Hinter den Männern quollen weitere Gestalten aus dem Nebenraum. Sebastian begriff, dass es dort eine Versammlung gegeben hatte und dass er in das Stammlokal einer rechten Gruppierung geraten war. Hastig zog er sein Portemonnaie und legte ein paar Münzen auf den Tisch.
»Gehen wir!«, rief er den drei Studenten zu.
In diesem Augenblick traf ihn ein Faustschlag an der Schulter, der ihn zu Boden warf. Er schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante und war einen Moment lang betäubt, vernahm lautes Geschrei, dumpfe Schläge, dann das Geräusch von splitterndem Holz. Als er den Versuch machte, vom Fußboden aufzustehen, trat ihm jemand in den Rücken, sodass er vornüber auf einen Stuhl stürzte und warmes Blut über sein Gesicht rann. Mühsam raffte er sich auf und griff eines der leeren Biergläser. Ein Faustschlag zertrümmerte es ihm in der Hand, er stolperte rückwärts gegen die Wand und starrte entsetzt in das Getümmel der kämpfenden Männer. Schlagstöcke und Messer waren im Einsatz – es war eine Gruppe SA-Männer, der sie in die Hände gefallen waren.
Er wollte sich in das Gerangel mischen, um den Studenten beizustehen, vielleicht sogar deren Leben zu retten, doch gleich bei den ersten Schritten kreisten die Wände um ihn, und er ging zu Boden.
»Polizei!«, hörte er undeutlich.
Plötzlich setzte Stille ein, jemand stöhnte, ein Tisch fiel um, ein Schutzmann beugte sich über ihn und fragte nach seinen Papieren. Er verstand die Frage erst beim zweiten Mal, tastete nach seinem Portemonnaie, in dem er seinen Ausweis aufbewahrte. Aber er konnte es weder in der Jacke noch in der Hosentasche finden.
»Alsdann, der kommt auch mit auf die Wache«, befahl der Schutzmann. »Abführ’n!«