18
T
ante Kittys aufgeregtes Geplauder drang aus der Eingangshalle bis hinauf in die Schlafzimmer. Dodo griff ihre Reisetasche und wollte die Treppe hinunterlaufen, dann hielt sie inne und öffnete Leos Zimmertür. Ihr Bruder hockte tatsächlich an seinem Schreibtisch und steckte den Kopf in die Schulbücher.
»Willst du wirklich nicht mitkommen?«, fragte sie. »Tante Tilly hat uns schließlich beide eingeladen, ein paar Tage bei ihr zu verbringen.«
»Nee! Muss Latein lernen.« Er drehte sich nicht einmal zu ihr um, sondern blätterte in der lateinischen Grammatik und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. »Wir haben Kartoffelferien!«
»Na und?« Dodo schüttelte verständnislos den Kopf. »Kein normaler Mensch lernt in den Ferien für die Schule.«
»Ich hab viel nachzuholen«, beharrte er. »Lass mich jetzt in Ruhe. Viel Spaß in München. Kannst mir ja eine Karte schreiben.«
»Da kannst du lange warten«, schimpfte sie enttäuscht und schlug die Tür zu.
Im Speisezimmer traf sie Tante Kitty mit der Großmama und Tante Lisa bei Tee und Gebäck an, das Humbert ihnen servierte.
»Nein, Kitty«, stöhnte Tante Lisa und wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. »Ich werde auf keinen
Fall mit euch nach München fahren. Den Anblick ertrage ich nicht, vielmehr würde ich in Tränen ausbrechen, das weiß ich, und die ganze Fahrt über weinen. Nein, das will ich niemandem zumuten.«
»Du liebe Güte. Er ist noch am Leben, Lisa! Ein bisschen lädiert, nun ja. Besonders am Kopf, wie Tilly sagte. Aber da war er immer ein wenig seltsam. Der Rest ist noch intakt, nur das Knie ist kaputt. Denk mal an den armen Klippi. Bei dem sind ganz andere Stellen beschädigt …«
»Bitte Kitty!«, mahnte die Großmutter. »
Pas devant les enfants!«
Diesen Satz kannte Dodo, seit sie lebte, ihre Oma sagte ihn immer dann, wenn ein Gespräch interessant wurde.
»Ach, Dodo, da bist du ja!«, rief Tante Kitty und streckte den Arm nach der Nichte aus, um sie an sich zu drücken und zu küssen. »Hast du bereits gepackt? Wie? Bloß diese kleine Tasche? Da passt ja gar nichts hinein. Du wirst ein hübsches Nachmittagskleidchen brauchen. Garderobe für die Oper. Einen Morgenmantel … Ach ja: Du bekommst zu Weihnachten von mir ein wunderschönes Négligé in Türkis. Mit Spitze. Du wirst bezaubernd darin aussehen. Die passenden Pantöffelchen habe ich schon ausgesucht.«
Oh Gott, dachte Dodo entsetzt. Weil sie Tante Kitty nicht kränken wollte, tat sie, als würde sie sich darüber freuen, erklärte allerdings, dass sie sehr gern eine lange Hose und eine passende Jacke dazu hätte.
»Zu meiner Zeit trugen Damen niemals Hosen«, ließ sich die Großmutter vernehmen. »Nicht einmal zu einem Reitausflug. Wir benutzten einen Damensattel.«
»Eine lange Hose ist eine gute Idee, Dodo«, räumte Tante Kitty ein. »Würde dir bezaubernd stehen. Also, was ist jetzt, Lisa? Du willst wirklich nicht mitkommen? Na schön. Ich bin sowieso nicht wild darauf, dass du mir das
Auto vollheulst – da werde ich deinen angeschlagenen Ritter eben allein nach Augsburg zurückkutschieren. Was den Männern so alles einfällt! Da glaubt man, ein friedliches Exemplar erwischt zu haben, und dann prügelt er sich herum wie ein Bierkutscher.«
Großmama Alicia stellte die Teetasse, die sie eben zum Mund führen wollte, auf die Untertasse zurück.
»Was sagst du da, Kitty? Sebastian hat sich geprügelt? Hieß es nicht, er habe nichts als schlimme Zahnschmerzen?«
Lisa warf ihrer Schwester einen wütenden Blick zu, Kitty biss sich erschrocken auf die Unterlippe. Sie hatte sich wieder einmal verplappert.
»Ganz recht, Mama. Zahnschmerzen hat er. Weißt du, er ist gestolpert. In einer Kneipe, und da war so ein Bierkutscher …«
»In einer Kneipe?«
Großmamas Augen weiteten sich vor Entsetzen, und Tante Kitty hielt verwirrt mit ihren Erklärungen inne.
»Meine Güte, es ist inzwischen spät«, rief sie und blickte auf die Pendeluhr auf der Kommode. »Wir müssen unbedingt los, mein Autolein ist schließlich nicht das schnellste. Lisa wird dir genau erklären, was mit Sebastian geschehen ist. Stimmt’s, Schwesterherz? Stehen die Sachen für Tilly draußen vor der Tür? Dann soll Humbert sie in den Kofferraum stellen. Dodo, zieh den Mantel an, es ist kalt. Liebste Mama, ich bin morgen mit Sebastian bei euch. Am frühen Nachmittag, denk ich mal … Lass dich umarmen, meine kleine Engelsmama! Und küss die Kleinen von mir! Und du, Lisa, du hast morgen deinen Liebsten wieder und kannst ihn gesund pflegen, den armen Invaliden.«
Tante Lisas Abschiedsblick war ein Erlebnis, fand Dodo. Vermutlich hätte sie ihre schwatzhafte Schwester gerne
erdolcht, aber Tante Kitty ging leicht und fröhlich über ihren Fauxpas hinweg, man hörte sie gleich darauf unten in der Halle mit Gerti und Humbert über dieses und jenes reden.
»Die Handtasche ist eine Katastrophe! Alles, was ich suche, ist ganz unten. Wo ist überhaupt der Autoschlüssel?«
Dodo verdrehte die Augen, umarmte zuerst die Großmama und dann Tante Lisa, versprach, bei Tante Tilly sehr brav zu sein, keine frechen Antworten zu geben und immer einen Knicks zu machen, wenn sie erwachsene Leute begrüßte. Dann lief sie so eilig die Treppe zur Halle hinunter, dass sie beinahe über die Papierkörbe gefallen wäre, die Else beim Treppenaufgang abgestellt hatte, um sie in die Mülltonne zu leeren. Mit kühnem Sprung überwand Dodo das Hindernis, nur einer der Körbe kippte um, und sein Inhalt fiel heraus.
Sie starrte auf die vielen Papierblätter, die vor ihr auf dem Boden ausgebreitet lagen, und konnte es kaum glauben. Es waren handbeschriebene Notenblätter. Leos Kompositionen. Ihr Bruder hatte sie alle in den Müll geworfen.
»Du brauchst jetzt nicht alles aufzusammeln«, mahnte Tante Kitty ungeduldig. »Lass das Else machen. Was stellt sie die Körbe denn vor die Treppe. Komm jetzt, wir müssen losfahren!«
»Sofort, Tante Kitty!«
Dodo raffte alle Blätter vom Boden auf und legte sie aufeinander. Leos wundervolle Musik! Wie konnte er das alles wegwerfen? Was hatte diese russische Klavierhexe bloß mit ihrem Bruder gemacht?
Sie wickelte ihren roten Wollschal um das Bündel und nahm es mit. Auf keinen Fall durften diese Blätter in der Tuchvilla bleiben. Falls sie Leo in die Hände fielen, verbrannte er sie am Ende auf der Stelle. Oh nein, sie würde
Leos kostbare Kompositionen dort deponieren, wo sie in Sicherheit waren. Und sie wusste auch schon, wo.
Seufzend stieg sie in den Wagen. Mit Tante Kitty zu fahren, war eine Qual, weil sie ihr armes Auto so grauenhaft malträtierte, dass es Dodo fast körperliche Schmerzen bereitete.
»Du könntest langsam einen Gang höher schalten, Tante Kitty.«
»Wieso denn, Dodo? Er fährt doch wunderbar und knattert so hübsch.«
»Der Motor überhitzt sich, wenn du so hochtourig fährst.«
»Ach was, Kind. Der kalte Wind kühlt ihn bestimmt ab.«
Viermal mussten sie unterwegs an einer Tankstelle anhalten, da der Motor muckte, aber ein Automechaniker konnte noch so eifrig auf Tante Kitty einreden, sie nickte fröhlich, strahlte den Mann an und fuhr genauso weiter wie bisher.
Wenn ein arger Sünder in die Hölle kommt, dann wird er vielleicht in ein Auto verwandelt, das Tante Kitty fährt, dachte Dodo. Das musste eine furchtbare Strafe sein.
Sie erreichten München-Pasing am späten Nachmittag, aber wenn Dodo nicht die Karte auf dem Schoß gehalten und ihre Tante in die richtige Richtung gelotst hätte, wären sie vermutlich erst um Mitternacht angekommen.
»Du meine Güte!«, rief Tante Kitty beim Anblick der Villa aus. »Ernst hat ja einen richtigen Park anlegen lassen. Das Haus schaut aus wie die Tuchvilla in Miniatur. Steig aus, Dodolein. Wir sind da. Ist das nicht Julius, der damals die arme Maria Jordan umgebracht hat? Ach nein, er war es ja gar nicht, sondern hatte lediglich etwas mit ihr, glaub ich … Julius, wie schön, Sie wiederzusehen! Bitte di
e drei Taschen zuerst, da sind Geschenke für meine liebe Tilly und für Ernst drin. Und dann meinen Koffer. Meine Handtasche trage ich selbst. Was hast du in diesen roten Wollschal eingewickelt, Dodo? Nicht etwa Bücher?«
Ihre Nichte schüttelte den Kopf und stopfte den Schal samt Inhalt in ihre Reisetasche.
Tante Kitty lief wie ein aufgeregtes Huhn herum, damit das Gepäck an die richtige Stelle gebracht wurde. In der Eingangshalle fiel sie Tante Tilly um den Hals, schwatzte das Blaue vom Himmel herunter und küsste Onkel Ernst auf beide Wangen. Dem Onkel reichte Dodo höflich die Hand. Er kam ihr noch griesgrämiger vor als früher, was vielleicht daran liegen mochte, dass er älter und dünner und grauhaarig geworden war.
»Nett, dich wieder einmal zu sehen, Dorothea«, sagte er, während sie artig vor ihm ihren Knicks machte. »Du bist ja ordentlich gewachsen.«
Danach verschwand er in seinem Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Tante Tilly nahm Dodo in die Arme, schien fürchterlich froh zu sein, dass sie und Tante Kitty zu Besuch gekommen waren.
»Ihr bringt Leben ins Haus«, sagte sie lächelnd. »Wie schade, dass Leo nicht mitgekommen ist. Wir haben ein Klavier im Salon, das so gut wie nie benutzt wird.«
Onkel Sebastian saß in der Bibliothek in einem Sessel, über den Beinen eine Wolldecke. Er sah fürchterlich aus, fand Dodo. Das Gesicht voller Schürfwunden, an der Stirn eine rötliche aufgeplatzte Beule, die Lippe aufgesprungen und die rechte Hand mit einem Verband umwickelt.
»Esch ischt mir schrecklisch peinlisch, liebe Kitschi«, nuschelte er, als sie näher traten, um ihm einen guten Abend zu wünschen. Tante Kitty, die sonst kein Blatt vor
den Mund nahm, war ungewöhnlich lieb und verständnisvoll.
»Ach, du Ärmster!«, rief sie und drückte ihm die linke Hand. »Was hast du durchgemacht! Wie ich sehe, hat Tilly dich gut gepflegt, es geht schon besser, nicht wahr?«
»Schie ischt ein wahrer Engel. Isch bin ihr unendlisch dankbar.«
»Morgen bist du wieder zu Hause«, tröstete Tante Kitty ihn.
Onkel Sebastian schien sich jedoch nicht besonders auf seine Heimkehr zu freuen. Kein Wunder. Wenn seine Frau ihn morgen so sah, würde sie vermutlich einen weiteren hysterischen Anfall bekommen. Er nahm später auch nicht am Abendessen teil, sondern bekam von dem Hausmädchen seine Mahlzeit in die Bibliothek gebracht. Er wollte ihnen durch seinen Anblick den Appetit nicht verderben. Dodo war sehr froh darüber – vor allem die aufgeplatzte Beule an der Stirn war gruselig anzuschauen. Armer Onkel Sebastian, er musste große Schmerzen haben.
Auf diese Weise wurde das Abendessen sogar recht lustig, weil Tante Kitty pausenlos redete und lachte und Onkel Ernst dies erstaunlicherweise gefiel. Sie hatte sich extra für den Abend umgezogen, trug eines ihrer engen Kleider, die vorn und hinten tief ausgeschnitten waren und irgendwo glitzerten. Sie hatte einen ganzen Schrank voll mit solchen Modellen, manche hatten Federn, und andere, vor allem die weißen, waren mit kleinen Perlen bestickt. Ihre Cousine Henny war ganz verrückt danach, die Kleider ihrer Mutter tragen zu dürfen, sie selbst hingegen hätte so ein Fähnchen nicht für alles Geld der Welt angezogen.
»Wie schade, liebe Kitty«, sagte Onkel Ernst, »morgen sind wir zu einem Galadiner in der Oper eingeladen. Wie wäre es, wenn du noch einen Tag länger bei uns bliebest?
«
Tante Kitty lehnte ab. Schon wegen der armen Lisa, die in Augsburg auf ihren Ehemann wartete, und auch wegen ihres eigenen Ehemanns. Verständlich. Dodo hätte sich ebenfalls für Onkel Robert entschieden, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Der war nämlich ein richtig netter Kerl.
Onkel Ernst dagegen fiel plötzlich ein, dass es mittlerweile spät war und Kinder früh ins Bett geschickt werden sollten. Deshalb musste Dodo bereits um acht Uhr hinauf in das Schlafzimmer, das sie sich heute Nacht mit Tante Kitty teilen würde. Sie war froh, in ihrer Reisetasche zwei Bücher aus der Augsburger Stadtbücherei zu haben, in denen sie lesen konnte, bis ihre Zimmergenossin kam. Bei Tante Kitty dauerte es lange. Sie schwankte ein wenig, als sie kurz vor Mitternacht ins Zimmer trat, wahrscheinlich hatte sie reichlich Wein getrunken.
»Du bist ja noch wach, mein Mädchen«, sagte sie erstaunt. »Lesen im Bett! Du wirst eine Brillenschlange werden, wenn du so weitermachst.«
Dodo legte das Buch über den Jagdflieger Manfred von Richthofen auf den Nachttisch und zog die mit dem roten Wollschal umwickelten Papiere aus ihrer Reisetasche.
»Das musst du mit in die Frauentorstraße nehmen«, bat sie. »Du musst gut darauf aufpassen und darfst es niemandem zeigen.«
»Ach du liebe Zeit«, meinte Tante Kitty, als Dodo die Notenblätter aus dem Wollschal wickelte. »Was ist das denn?«
»Leos Kompositionen. Stell dir vor: Er hat sie alle weggeworfen.«
Ihre Tante war genau die Richtige. Sie betrachtete die Notenblätter und summte ein paar der Melodien, fand das alles großartig und erklärte, Leo sei ein Künstler und werde eines Tages ein berühmter Komponist sein. Das
habe sie schon immer gewusst. Nur Paul, dieser Dummkopf, glaube noch, dass er einmal die Fabrik übernahm.
»Er hat heimlich komponiert, der arme Junge«, regte sie sich auf. »Hat es niemandem zu zeigen gewagt. Ach, Dodo! Wie gut, dass du aufgepasst hast. Um ein Haar wären diese kostbaren Blätter vernichtet worden. Nicht auszudenken, was die Obramowa, dieses Miststück, alles angerichtet hat.«
»Aber wie ist es möglich, dass Leo deshalb alles hinwirft?«, seufzte Dodo. »Die Musik war für ihn bisher das Wichtigste auf der Welt.«
Tante Kitty wackelte mit den Augenbrauen und erklärte, dass Leo sich vermutlich verliebt habe.
»Die erste Liebe ist immer etwas ganz Großes, Dodo. Da vergisst man alles, was bisher im Leben wichtig gewesen ist, und begeht fürchterliche Dummheiten. Ich bin damals mit Gérard nach Paris davongelaufen … Und wenn diese erste große Liebe unglücklich ausgeht, dann ist es so, als würdest du in einen dunklen Abgrund stürzen.«
Dodo überlegte, ob Tante Kitty zu weinselig war und an der Sache vorbeiredete. Leo konnte sich schließlich nicht in so eine hässliche, dicke Frau wie die Obramowa verliebt haben. Nein, viel wahrscheinlicher war, dass sie ihn verhext hatte.
»Ich werde seine Werke mitnehmen und bei mir zu Hause gut verstecken«, versprach Tante Kitty und wickelte den Stapel wieder in den roten Schal. »Ganz unten in einem meiner Kleiderschränke. Da wird sie niemand finden.«
Beim Frühstück am folgenden Tag herrschte eine seltsam angespannte Stimmung. Tante Kitty bestritt wie üblich den größten Teil der Unterhaltung, wofür Onkel Ernst ihr zur Abwechslung ständig Komplimente machte, während Tante Tilly wenig sprach und über irgendetwas
verärgert zu sein schien. Onkel Sebastian saß in der Bibliothek und tunkte Semmeln in seinen Milchkaffee.
Wenig später wurde er von Julius und Bruni ins Auto geschafft, was mit seinem eingegipsten Knie gar nicht so einfach war, zumal Onkel Ernst nicht half, sondern direkt in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, ohne dem Verletzten Adieu zu sagen.
Armer Onkel Sebastian, dachte Dodo. Es ist anstrengend genug, als Gesunder mit Tante Kitty zu fahren – wenn einem alles wehtut, muss es grauenhaft sein.
»Lebt wohl, lebt alle wohl im schönen München«, rief Tante Kitty vom Steuer aus. »Dodo, sei lieb zu deiner Tante, sie hat es verdient. Tilly, ich hoffe, dich bald zu sehen, meine Süße. Ehrlich gesagt: Ich verstehe nicht, dass du überhaupt noch hier bist. Huuuch!«
Das Auto machte einen Ruck nach vorn, weil der Motor wieder mal ausgegangen war, wodurch Sebastian, der quer auf dem Rücksitz lag, mit der Schulter gegen den Vordersitz schlug und einen erstickten Schmerzensschrei von sich gab.
»Abgewürgt!«, rief Dodo von draußen.
»Ach, dieses Auto tut, was es will«, seufzte Tante Kitty.
Beim zweiten Versuch gelang der Start, und der Wagen tuckerte davon. Tilly, die Ärztin, meinte sorgenvoll: »Es war vielleicht keine gute Idee, dass Kitty Sebastian abholt. Ich wäre besser selbst gefahren.«
Mit der Abfahrt nach Augsburg hatte sich die Atmosphäre im Haus verändert. Die Möbel erschienen Dodo auf einmal dunkler, die Vorhänge dichter, Julius und Bruni unfreundlicher. Tante Tilly hatte plötzlich Falten um den Mund und auf der Stirn, und sie gab einsilbige Antworten.
»Zum Flugplatz Oberwiesenfeld? Dazu ist es zu spät, vielleicht morgen, ja?
«
Für heute stand ein langweiliges Kunstmuseum auf dem Programm, in dem es nach Bohnerwachs und alten Bildern roch und alle Leute flüsterten. Man lief durch große, hohe Räume, die in immer andere große, hohe Räume mündeten, und überall hingen Gemälde an den Wänden. Tante Tilly sagte, dass Dodos Papa sie gebeten habe, seiner Tochter ein wenig Bildung zu vermitteln und ihr die Pinakothek zu zeigen.
Das Abendessen in der Villa war noch schlimmer als das Kunstmuseum. Onkel Ernst saß an einem Ende des Tisches, am anderen saß Tante Tilly – Dodo hatte ihren Platz an der Seite zwischen den beiden und fühlte sich dort wie ein einsames Schifflein im aufgewühlten Eismeer. Seitdem Tante Kitty das Haus verlassen hatte, war Onkel Ernst noch grämlicher als vorher, manchmal sogar richtig gemein.
»Ich hoffe, du wirst mich zum Galadiner begleiten, Tilly«, verlangte er und musterte seine Frau durchdringend.
»Tut mir leid, Ernst. Ich muss mich um meinen Besuch kümmern.«
Der Besuch war sie. Dodo. Sie also war der Grund für seine empörte Antwort, es sei ja nicht das erste Mal, dass er von seiner Ehefrau im Stich gelassen werde.
»Ich kann allein bleiben, Tante Tilly«, bot Dodo leise an, doch niemand hatte sie gehört. Onkel Ernst redete jetzt über Onkel Sebastian.
»Ich verstehe nicht, dass du diesen Menschen in unser Haus holen musstest, nachdem du ihn zu verschiedenen Ärzten geschleppt hast. Auf meine Kosten natürlich. Ein Kommunist, der im Stammlokal der NSDAP herumpöbelt und einen SA-Mann verletzt hat. Aber meine Reputation ist dir ja gleichgültig. Ich wurde mittlerweile mehrfach darauf angesprochen, und mit Sicherheit werden meine Gegner den Vorfall ausnutzen.
«
»Er ist ein anständiger Mensch und brauchte meine Hilfe«, verteidigte sich Tante Tilly. »Das war mir wichtig, Ernst. Im Übrigen ist mir dein Engagement für diese Partei unverständlich.«
»Das habe ich bemerkt«, konterte er in scharfem Ton und schnitt sein Schinkenbrot mit dem Messer durch.
Dodo schaute von einem zum anderen und brachte keinen Bissen herunter. Wie furchtbar! Wäre sie bloß in der Tuchvilla geblieben. Dieser Ferienbesuch in München war einer ihrer dümmsten Einfälle gewesen.
Am folgenden Tag änderte sie ihre Meinung. Tante Tilly fuhr mit ihr zum Flugplatz Oberwiesenfeld, der zwischen den Ortsteilen Moosach und Schwabing lag. Aus der Entfernung konnte man bald das große weiße Abfertigungsgebäude sehen. Ein Neubau mit Funkmasten auf dem Dach und einer riesengroßen Uhr über dem Eingang. Das Gelände war mit einem Zaun umgeben, damit keine Unbefugten auf die Rasenfläche liefen, das war schade, denn dort standen mehrere Flugzeuge. Dodo kannte sie alle aus der Zeitung und aus ihren Büchern, es war unfassbar großartig, diese Flieger in Wirklichkeit zu sehen.
»Schau, Tante Tilly. Das ist die D-1784! Zweisitzer. Drei Stück davon stehen dort! Und das daneben ist die 1831. Und dahinten das sind Doppeldecker …«
Tante Tilly war längst nicht mehr so genervt wie zu Hause. Sie war jetzt viel fröhlicher, hatte viele Fragen und zeigte sich von Dodos Wissen beeindruckt. Manchmal lachte sie sogar und meinte, sie habe durchaus Lust, einmal mit solch einem Vogel in die Lüfte zu fliegen. Aber der Höhepunkt dieses Tages war der Moment, als sie unerlaubterweise in einen der Hangars hineingingen. Dort standen mehrere Flieger dicht nebeneinander, ganz vorne eine D-1712. Drei Männer in dunkler Arbeitskleidung
machten sich daran zu schaffen, schoben den Flieger ein Stück vor und bewegten den Propeller.
»Das ist er«, murmelte Dodo voller Ehrfurcht.
Sie war so aufgeregt, dass sie beinahe über einen schwarzen Schlauch gefallen wäre, als sie quer durch die Halle lief. Tante Tillys Rufe, sie solle sofort zurückkommen, vernahm sie kaum. Völlig außer Atem blieb sie vor der D-1712 stehen und hielt das Schulheft, das sie extra mitgenommen hatte, in der ausgestreckten Hand.
»Bitte, bitte, ich hätte gern ein Autogramm, Herr Udet!«
Stattdessen bekam sie von dem Fliegerass einen ordentlichen Anpfiff. Was sie hier zu suchen habe? Hier sei Zutritt verboten.
»Ich geh ja gleich wieder«, stotterte sie. »Bitte, ich hab so viel über Sie gelesen. Ihr Buch
Kreuz wider Kokarde.
Und die Berichte von den Kunstflugtagen. Und alle Ihre Filme hab ich gesehen … Und ich will selbst einmal Fliegerin werden. Bitte, geben Sie mir ein Autogramm.«
Jetzt grinste er. Sie hatte es geschafft. Er sah nicht ganz so schneidig aus wie in den Filmen, in denen er bestimmt geschminkt wurde. Dass er recht wenig Haare auf dem Kopf hatte, wusste sie von den Zeitungsfotos, weil er manchmal keine Kopfbedeckung trug. Eigentlich schaute er nicht aus wie ein Held, sondern eher wie ein freundlicher Papa. Und dabei war er der beste Flieger der Welt! Sie hätte alles dafür gegeben, bei ihm Flugstunden zu bekommen.
»Na, dann gib mal her, junge Dame«, meinte er. »Hast du auch einen Stift? Warte, ich hab selber einen.«
Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und schrieb seinen Namen mit großer, energischer Schrift in das Schulheft. Ernst Udet!
»Fliegerin willst du werden?«, hakte er nach, während
er ihr das Heft zurückgab. »Wie alt bist du denn, wenn man fragen darf?«
»Fast fünfzehn.«
Er grinste noch mehr und musterte sie zu ihrem Ärger. In dem blöden Mantel wirkte sie bestimmt wie eine brave Musterschülerin.
»Na ja«, sagte er und zwinkerte mit einem Auge. »In ein paar Jahren kannst du dich mal bei mir melden.«
»Wirklich?«, rief sie und hatte vor Glück schreckliches Herzklopfen.
»Klar. Und jetzt raus hier. Deine Mama wartet da drüben auf dich.«
»Das ist nicht meine Mama, das ist meine Tante Tilly.«
Udet hörte es nicht mehr, erklärte stattdessen den beiden Mechanikern, dass die Maschine in einem saumäßigen Zustand sei und dass er sie morgen fliegen wolle.
Dodo redete den Rest dieses Tages ausschließlich von diesem großen Ereignis, das sie sich heimlich erhofft hatte und das tatsächlich eingetreten war. Sie hatte den berühmten Flieger Ernst Udet leibhaftig vor sich gesehen und sogar mit ihm gesprochen. Und sie besaß ein Autogramm, das sie hüten würde bis an ihr Lebensende.
»Er hat gesagt, dass ich in ein paar Jahren zu ihm kommen darf, Tante Tilly. Was glaubst du? Ob ich es nächstes Jahr versuche? Da bin ich fast sechzehn …«
»Solange du nicht volljährig bist, müssen das deine Eltern entscheiden«, dämpfte die Tante ihre Begeisterung.
Mama würde es vielleicht erlauben, dachte Dodo, Papa eher nicht. Und Großmama sowieso nicht. Doch die würde sie ohnehin nicht fragen.
Am Abend steckte sie das Schulheft mit der kostbaren Unterschrift unter ihr Kopfkissen und war sicher, dass sie vom Fliegen träumen würde. Wie sie über den schillernden
Ozean dahinglitt und in der Ferne die afrikanische Küste entdeckte. Oder von einem gefährlichen Start auf einer Hochfläche im Gebirge dicht am Abgrund und einer Notlandung in der Wüste mitten in einem Sandsturm … Am Morgen allerdings konnte sie sich an keinen einzigen Traum dieser Art erinnern. Sie wusste nur noch, dass aus der Bibliothek aufgeregte Reden und zornige Ausbrüche zu hören gewesen waren. Tante Tilly und Onkel Ernst hatten heftig miteinander gestritten.
Am Morgen danach klopfte das Hausmädchen Bruni an ihre Tür. »Fräulein Dodo? Die Herrschaften sind bereits unten beim Frühstück.«
Verschlafen, wie dumm! Sie machte Katzenwäsche, zog sich eilig an und fuhr sich auf der Treppe kurz mit drei Fingern durchs Haar. Tante Tilly hatte versprochen, heute mit ihr ins Technikmuseum zu gehen, das ihr ganz sicher besser gefallen würde als die Pinakothek. Dort wollte sie zwei Ansichtskarten kaufen, eine für Leo und eine für Mama und Papa. Die würden staunen, was sie zu berichten hatte!
Leider entwickelte sich der Tag anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Im Speisezimmer wurde sie von Tante Tilly mit einem freundlichen »Guten Morgen, Langschläferin« begrüßt, Onkel Ernst kaute bedächtig eine Buttersemmel und schien ihr Kommen gar nicht bemerkt zu haben.
»Genauso ist es, Tilly. Ich denke, diese Forschungen sind für unser aller Zukunft sehr wichtig.«
»Ich halte sie für überflüssig, Ernst«, entgegnete Tante Tilly ungewöhnlich aufgebracht. »Sie schaffen nichts als böses Blut. Menschen, die friedlich unter uns gelebt haben, werden plötzlich stigmatisiert. Wozu soll das gut sein?«
Dodo verstand nicht, worum es ging, aber das Gespräch schien ihr irgendwie bedrohlich, und sie wäre am
liebsten zurück in ihr Gästezimmer gelaufen. Was natürlich nicht möglich war. Also setzte sie sich stumm auf ihren Platz und ließ sich von Julius Kaffee eingießen.
»Was regst du dich so auf, Tilly?« Onkel Ernst lächelte seine Frau spöttisch an. »Die Familie Bräuer ist arisch bis zu den Urgroßeltern und vermutlich noch weiter. Auch die Familie deiner Mutter ist in Ordnung. Mecklenburg, die Vorfahren waren Handelsleute, sind zur See gefahren.«
»Wer will das wissen?«, fuhr Tante Tilly ärgerlich dazwischen. »Nimm dir von den Semmeln, Dodo. Hier ist Marmelade oder Schinken …«
Dodo legte sich pflichtschuldig eine Semmel auf den Frühstücksteller und hoffte, Onkel Ernst würde aufstehen und hinüber in sein Arbeitszimmer gehen. Er zog es jedoch vor weiterzureden.
»Was hingegen die Familie Melzer betrifft, da sehe ich Probleme. Jacob Burkard war konvertierter Jude, und Luise Hofgartner hatte eine jüdische Mutter. Damit ist Marie zu Dreivierteln Jüdin, und die Kinder sind jüdische Mischlinge …«
Mit einem Mal passierte alles ganz schnell.
Tante Tilly hatte die Nase voll und sprang auf, wobei sie ihre Tasse samt Untertasse klirrend vom Tisch fegte.
»Dodo! Pack deine Sachen. Wir fahren in einer halben Stunde.«
Die Worte klangen leise, jedoch ungewöhnlich entschieden. Als die Kirchturmuhr zehn Schläge tat, saßen beide im Auto, auf dem Rücksitz zwei große Koffer und Dodos Reisetasche.
»Wohin fahren wir, Tante Tilly?«
»Nach Hause.«